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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland

Doch so entschieden seine Sympathien sind, sein Urteil ist bewunderungs¬
würdig unbefangen. Er sieht mit vollkommner Klarheit ein, daß der Ausgang
des Kampfes gar kein andrer hat sein können, als er thatsächlich gewesen ist;
er erscheint ihm als das Ergebnis der ganzen innern Entwicklung Österreichs.
Er sagt am Schlüsse des Werkes (II, 498): "So strafte sich die Unterdrückung
der lebendigen Kräfte im Volke durch die Gegenreformation und später durch
die Negierung Franz si-) und Metternichs. -- Derselbe Druck, der dann durch
mehr als ein Jahrhundert auf den Geistern lag, lühmte auch deu Willen und
die Entschlußfähigkeit von Generationen und zog eine genußliebende, zu großen
Anstrengungen unwillige Bevölkerung groß. Die Briefe der Herrscher und
Staatsmänner des achtzehnten Jahrhunderts sind voll von Klagen darüber,
daß Generale und Offiziere stets die Verantwortung scheuen, zu handeln und
zu schlagen. Dieser Mißstand steigerte sich bis 1848. Die absolutistische Re¬
gierung hatte durch Unterdrückung aller selbständigen Regungen die Völker im
Zaume gehalten und nichts als die blinde Erfüllung der Befehle gefordert. --
Auch die leitenden Männer von 1866 waren in den Ideen Metternichs und
der Restauration aufgewachsen. Sie bestritten den Völkern das Recht, sich
den Staat selbst zu formen; sie unterschätzten die Kraft des Nationalgefühls;
die Legitimität und die Verträge waren für sie die einzige Quelle nicht bloß
des positiven Rechts, sondern auch die Wurzeln der historischen Entwicklung.
Sie vertraten die Staatenordnung der heiligen Allianz und damit eine ver¬
sinkende Welt."

Friedjung stellt die österreichischen Dinge in den Vordergrund; der Leser
hat daher das unwillkürliche Gefühl, daß er die Ereignisse im Ministerrate
des Kaisers Franz Joseph und im Generalstabe Benedeks oder des Erzherzogs
Albrecht miterlebt, nicht in der Umgebung König Wilhelms und Bismarcks.
Aber Friedjung hat als Österreicher auch den großen Vorzug vor Shbel, daß er die
Verhältnisse und Personen in Österreich ganz genau keunt und zu beurteile!?
weiß. Dies ist um so schwieriger, als auch heute, wie er in der Vorrede sagt,
die österreichische Politik von 1859 bis 1866 noch unter die Staatsgeheimnisse
gerechnet wird, und daß noch keiner der österreichischen Staatsmänner und
Generale der Zeit irgend etwas über seine Wirksamkeit veröffentlicht hat. Auch
Benedek hat, dem Versprechen getreu, das ihm der Erzherzog Albrecht abnahm,
alle seine Papiere verbrannt und das, was er wußte, mit ins Grab genommen,
womit offenbar eine Hauptquelle der Kenntnis für alle Zeit verschütter ist. Damit
glaubt man in Osterreich noch immer dem Staatsinteresse zu dienen. Selbst
auf weit zurückliegende Zeiten wendet man dieses System des Verschweigcns
und Vertuschens zuweilen noch an. Ein Mitglied der hohen österreichischen Aristo¬
kratie sagte einmal dem Verfasser dieser Zeiten, manches über Wallenstein könne
noch heute nicht veröffentlicht werden, weil sonst eine große "Nechtsverwirrung"
entstehen werde. Friedjung nennt dieses Verfahren "altmodisch"; uns will es


Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland

Doch so entschieden seine Sympathien sind, sein Urteil ist bewunderungs¬
würdig unbefangen. Er sieht mit vollkommner Klarheit ein, daß der Ausgang
des Kampfes gar kein andrer hat sein können, als er thatsächlich gewesen ist;
er erscheint ihm als das Ergebnis der ganzen innern Entwicklung Österreichs.
Er sagt am Schlüsse des Werkes (II, 498): „So strafte sich die Unterdrückung
der lebendigen Kräfte im Volke durch die Gegenreformation und später durch
die Negierung Franz si-) und Metternichs. — Derselbe Druck, der dann durch
mehr als ein Jahrhundert auf den Geistern lag, lühmte auch deu Willen und
die Entschlußfähigkeit von Generationen und zog eine genußliebende, zu großen
Anstrengungen unwillige Bevölkerung groß. Die Briefe der Herrscher und
Staatsmänner des achtzehnten Jahrhunderts sind voll von Klagen darüber,
daß Generale und Offiziere stets die Verantwortung scheuen, zu handeln und
zu schlagen. Dieser Mißstand steigerte sich bis 1848. Die absolutistische Re¬
gierung hatte durch Unterdrückung aller selbständigen Regungen die Völker im
Zaume gehalten und nichts als die blinde Erfüllung der Befehle gefordert. —
Auch die leitenden Männer von 1866 waren in den Ideen Metternichs und
der Restauration aufgewachsen. Sie bestritten den Völkern das Recht, sich
den Staat selbst zu formen; sie unterschätzten die Kraft des Nationalgefühls;
die Legitimität und die Verträge waren für sie die einzige Quelle nicht bloß
des positiven Rechts, sondern auch die Wurzeln der historischen Entwicklung.
Sie vertraten die Staatenordnung der heiligen Allianz und damit eine ver¬
sinkende Welt."

Friedjung stellt die österreichischen Dinge in den Vordergrund; der Leser
hat daher das unwillkürliche Gefühl, daß er die Ereignisse im Ministerrate
des Kaisers Franz Joseph und im Generalstabe Benedeks oder des Erzherzogs
Albrecht miterlebt, nicht in der Umgebung König Wilhelms und Bismarcks.
Aber Friedjung hat als Österreicher auch den großen Vorzug vor Shbel, daß er die
Verhältnisse und Personen in Österreich ganz genau keunt und zu beurteile!?
weiß. Dies ist um so schwieriger, als auch heute, wie er in der Vorrede sagt,
die österreichische Politik von 1859 bis 1866 noch unter die Staatsgeheimnisse
gerechnet wird, und daß noch keiner der österreichischen Staatsmänner und
Generale der Zeit irgend etwas über seine Wirksamkeit veröffentlicht hat. Auch
Benedek hat, dem Versprechen getreu, das ihm der Erzherzog Albrecht abnahm,
alle seine Papiere verbrannt und das, was er wußte, mit ins Grab genommen,
womit offenbar eine Hauptquelle der Kenntnis für alle Zeit verschütter ist. Damit
glaubt man in Osterreich noch immer dem Staatsinteresse zu dienen. Selbst
auf weit zurückliegende Zeiten wendet man dieses System des Verschweigcns
und Vertuschens zuweilen noch an. Ein Mitglied der hohen österreichischen Aristo¬
kratie sagte einmal dem Verfasser dieser Zeiten, manches über Wallenstein könne
noch heute nicht veröffentlicht werden, weil sonst eine große „Nechtsverwirrung"
entstehen werde. Friedjung nennt dieses Verfahren „altmodisch"; uns will es


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[0562] Der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland Doch so entschieden seine Sympathien sind, sein Urteil ist bewunderungs¬ würdig unbefangen. Er sieht mit vollkommner Klarheit ein, daß der Ausgang des Kampfes gar kein andrer hat sein können, als er thatsächlich gewesen ist; er erscheint ihm als das Ergebnis der ganzen innern Entwicklung Österreichs. Er sagt am Schlüsse des Werkes (II, 498): „So strafte sich die Unterdrückung der lebendigen Kräfte im Volke durch die Gegenreformation und später durch die Negierung Franz si-) und Metternichs. — Derselbe Druck, der dann durch mehr als ein Jahrhundert auf den Geistern lag, lühmte auch deu Willen und die Entschlußfähigkeit von Generationen und zog eine genußliebende, zu großen Anstrengungen unwillige Bevölkerung groß. Die Briefe der Herrscher und Staatsmänner des achtzehnten Jahrhunderts sind voll von Klagen darüber, daß Generale und Offiziere stets die Verantwortung scheuen, zu handeln und zu schlagen. Dieser Mißstand steigerte sich bis 1848. Die absolutistische Re¬ gierung hatte durch Unterdrückung aller selbständigen Regungen die Völker im Zaume gehalten und nichts als die blinde Erfüllung der Befehle gefordert. — Auch die leitenden Männer von 1866 waren in den Ideen Metternichs und der Restauration aufgewachsen. Sie bestritten den Völkern das Recht, sich den Staat selbst zu formen; sie unterschätzten die Kraft des Nationalgefühls; die Legitimität und die Verträge waren für sie die einzige Quelle nicht bloß des positiven Rechts, sondern auch die Wurzeln der historischen Entwicklung. Sie vertraten die Staatenordnung der heiligen Allianz und damit eine ver¬ sinkende Welt." Friedjung stellt die österreichischen Dinge in den Vordergrund; der Leser hat daher das unwillkürliche Gefühl, daß er die Ereignisse im Ministerrate des Kaisers Franz Joseph und im Generalstabe Benedeks oder des Erzherzogs Albrecht miterlebt, nicht in der Umgebung König Wilhelms und Bismarcks. Aber Friedjung hat als Österreicher auch den großen Vorzug vor Shbel, daß er die Verhältnisse und Personen in Österreich ganz genau keunt und zu beurteile!? weiß. Dies ist um so schwieriger, als auch heute, wie er in der Vorrede sagt, die österreichische Politik von 1859 bis 1866 noch unter die Staatsgeheimnisse gerechnet wird, und daß noch keiner der österreichischen Staatsmänner und Generale der Zeit irgend etwas über seine Wirksamkeit veröffentlicht hat. Auch Benedek hat, dem Versprechen getreu, das ihm der Erzherzog Albrecht abnahm, alle seine Papiere verbrannt und das, was er wußte, mit ins Grab genommen, womit offenbar eine Hauptquelle der Kenntnis für alle Zeit verschütter ist. Damit glaubt man in Osterreich noch immer dem Staatsinteresse zu dienen. Selbst auf weit zurückliegende Zeiten wendet man dieses System des Verschweigcns und Vertuschens zuweilen noch an. Ein Mitglied der hohen österreichischen Aristo¬ kratie sagte einmal dem Verfasser dieser Zeiten, manches über Wallenstein könne noch heute nicht veröffentlicht werden, weil sonst eine große „Nechtsverwirrung" entstehen werde. Friedjung nennt dieses Verfahren „altmodisch"; uns will es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/562>, abgerufen am 27.12.2024.