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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

Nltisländische Volksballaden und andre Volksdichtungen nordischer Vorzeit. Übertragen
von P, E, Willatzen. Zweite, veränderte und vermehrte Auslage. Bremen, M. Heinsius
Nachfolger, l,897

Wer kennen lernen will, zu welcher Größe sich die Volksballade auf germa¬
nischem Sprachgebiet entwickeln kann und entwickelt hat, der muß an die nordische
Volksdichtung Herangehen. Eine treffliche, gut übersetzte Auswahl, namentlich aus
Island, bietet das vorliegende Buch. Wer freilich auch die wenigstens zum Teil
überlieferten Melodien keunt, wird sie hier ungern vermissen; gelesen, gesprochen
klingt und wirkt das ja alles ganz anders als gesungen, zumal in dem eigentümlich
nordischen Melodiecharakter gesungen; das charakteristische des Refrains kommt sonst
gar nicht zu seinem Rechte. Immerhin ist der poetische Gehalt so groß, die Em¬
pfindung so stark, daß der Leser -- wir wünschen dem Buche recht viele --
ohne Zweifel auch so einen bedeutenden und schönen Eindruck erhält. Als Probe,
zugleich der guten Übertragung, teilen wir folgende Verse mit, das Bruchstück einer
größern, Verlornen Ballade:

Gunnar, der Kämpe, schoß, da sprang
Ihm an seinem Bogen der Strang.
"Halgard, zeige nun, ob ich dir lieb;
Schnell deines Haars eine Locke mir gieb!"
"Sage mir, warum ich missen sollt
Haar meines Haupts, das so lang und gold?
Wozu dus willst, erst sage das mir,
Wars doch mir immer die größte Zier!"
"Feinde folge"! ZU ihrem Empfang
Gieb mirs, sonst wird es mein Untergang!
Gieb mir zur Bogensehne dein Haar,
Wachsend nahet sich schon die Gefahr!"
"Nun denn, nach allem, was mir widerfuhr,
Flehst du umsonst um ein Löckchen nur.
Noch nicht hab ichs verschmerzt genug,
Wie deine Hand auf die Wange mich schlug."
"Halgard, so soll man durch alle Lande
Lang des gedenken zu deiner Schande!"
Bitterlich weinet die Mutter: "Mein Haar,
Ninus doch und rette dich aus der Gefahr!"
"Niemals! Eh falle dem Feinde mein Haupt,
Ehe man dich eines Härchens beraubt!"

Für die nächste Auflage bitten wir um eine wichtige Sache: die Melodien --
und um eine Kleinigkeit: den Stabreim nicht durch fette Buchstaben zu bezeichnen;
das wirkt beinah häßlich beunruhigend aufs Auge und verhindert ein unmittel¬
bares Eingehen in den Aufnehmenden. Wer deu Stabreim nicht in gewöhnlicher
Schrift empfindet, für den wird er auch nicht durch dicke zu einem organischen
Kunstmittel.







Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

Nltisländische Volksballaden und andre Volksdichtungen nordischer Vorzeit. Übertragen
von P, E, Willatzen. Zweite, veränderte und vermehrte Auslage. Bremen, M. Heinsius
Nachfolger, l,897

Wer kennen lernen will, zu welcher Größe sich die Volksballade auf germa¬
nischem Sprachgebiet entwickeln kann und entwickelt hat, der muß an die nordische
Volksdichtung Herangehen. Eine treffliche, gut übersetzte Auswahl, namentlich aus
Island, bietet das vorliegende Buch. Wer freilich auch die wenigstens zum Teil
überlieferten Melodien keunt, wird sie hier ungern vermissen; gelesen, gesprochen
klingt und wirkt das ja alles ganz anders als gesungen, zumal in dem eigentümlich
nordischen Melodiecharakter gesungen; das charakteristische des Refrains kommt sonst
gar nicht zu seinem Rechte. Immerhin ist der poetische Gehalt so groß, die Em¬
pfindung so stark, daß der Leser — wir wünschen dem Buche recht viele —
ohne Zweifel auch so einen bedeutenden und schönen Eindruck erhält. Als Probe,
zugleich der guten Übertragung, teilen wir folgende Verse mit, das Bruchstück einer
größern, Verlornen Ballade:

Gunnar, der Kämpe, schoß, da sprang
Ihm an seinem Bogen der Strang.
„Halgard, zeige nun, ob ich dir lieb;
Schnell deines Haars eine Locke mir gieb!"
„Sage mir, warum ich missen sollt
Haar meines Haupts, das so lang und gold?
Wozu dus willst, erst sage das mir,
Wars doch mir immer die größte Zier!"
„Feinde folge»! ZU ihrem Empfang
Gieb mirs, sonst wird es mein Untergang!
Gieb mir zur Bogensehne dein Haar,
Wachsend nahet sich schon die Gefahr!"
„Nun denn, nach allem, was mir widerfuhr,
Flehst du umsonst um ein Löckchen nur.
Noch nicht hab ichs verschmerzt genug,
Wie deine Hand auf die Wange mich schlug."
„Halgard, so soll man durch alle Lande
Lang des gedenken zu deiner Schande!"
Bitterlich weinet die Mutter: „Mein Haar,
Ninus doch und rette dich aus der Gefahr!"
„Niemals! Eh falle dem Feinde mein Haupt,
Ehe man dich eines Härchens beraubt!"

Für die nächste Auflage bitten wir um eine wichtige Sache: die Melodien —
und um eine Kleinigkeit: den Stabreim nicht durch fette Buchstaben zu bezeichnen;
das wirkt beinah häßlich beunruhigend aufs Auge und verhindert ein unmittel¬
bares Eingehen in den Aufnehmenden. Wer deu Stabreim nicht in gewöhnlicher
Schrift empfindet, für den wird er auch nicht durch dicke zu einem organischen
Kunstmittel.







Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0560] Litteratur Nltisländische Volksballaden und andre Volksdichtungen nordischer Vorzeit. Übertragen von P, E, Willatzen. Zweite, veränderte und vermehrte Auslage. Bremen, M. Heinsius Nachfolger, l,897 Wer kennen lernen will, zu welcher Größe sich die Volksballade auf germa¬ nischem Sprachgebiet entwickeln kann und entwickelt hat, der muß an die nordische Volksdichtung Herangehen. Eine treffliche, gut übersetzte Auswahl, namentlich aus Island, bietet das vorliegende Buch. Wer freilich auch die wenigstens zum Teil überlieferten Melodien keunt, wird sie hier ungern vermissen; gelesen, gesprochen klingt und wirkt das ja alles ganz anders als gesungen, zumal in dem eigentümlich nordischen Melodiecharakter gesungen; das charakteristische des Refrains kommt sonst gar nicht zu seinem Rechte. Immerhin ist der poetische Gehalt so groß, die Em¬ pfindung so stark, daß der Leser — wir wünschen dem Buche recht viele — ohne Zweifel auch so einen bedeutenden und schönen Eindruck erhält. Als Probe, zugleich der guten Übertragung, teilen wir folgende Verse mit, das Bruchstück einer größern, Verlornen Ballade: Gunnar, der Kämpe, schoß, da sprang Ihm an seinem Bogen der Strang. „Halgard, zeige nun, ob ich dir lieb; Schnell deines Haars eine Locke mir gieb!" „Sage mir, warum ich missen sollt Haar meines Haupts, das so lang und gold? Wozu dus willst, erst sage das mir, Wars doch mir immer die größte Zier!" „Feinde folge»! ZU ihrem Empfang Gieb mirs, sonst wird es mein Untergang! Gieb mir zur Bogensehne dein Haar, Wachsend nahet sich schon die Gefahr!" „Nun denn, nach allem, was mir widerfuhr, Flehst du umsonst um ein Löckchen nur. Noch nicht hab ichs verschmerzt genug, Wie deine Hand auf die Wange mich schlug." „Halgard, so soll man durch alle Lande Lang des gedenken zu deiner Schande!" Bitterlich weinet die Mutter: „Mein Haar, Ninus doch und rette dich aus der Gefahr!" „Niemals! Eh falle dem Feinde mein Haupt, Ehe man dich eines Härchens beraubt!" Für die nächste Auflage bitten wir um eine wichtige Sache: die Melodien — und um eine Kleinigkeit: den Stabreim nicht durch fette Buchstaben zu bezeichnen; das wirkt beinah häßlich beunruhigend aufs Auge und verhindert ein unmittel¬ bares Eingehen in den Aufnehmenden. Wer deu Stabreim nicht in gewöhnlicher Schrift empfindet, für den wird er auch nicht durch dicke zu einem organischen Kunstmittel. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/560>, abgerufen am 27.12.2024.