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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

zwischen Gesang und Begleitung. Schon Franz Schubert hat ausnahmsweise
dem Klavier in seinen Liedern eine wichtige Rolle zugewiesen. Es verkörpert
bei ihm das Rauschen des Baches, das Schnurren des Spinnrads, meist die
äußere Situation, auf der sich die menschlichen Gestalten, die Herz und Seele
im Gesänge öffnen, bewegen. Schumann geht schon weiter und giebt dem
Klavier, z. B. in seiner Dichterliebe, zuweilen die Hauptpartie. Seit nun aber
das Wagnersche Opernorchester in die Musikermcisfen eingedrungen ist, droht
im Lied das vernünftige Verhältnis sich umzukehren. Das Instrument wird
zur Hauptsache, die Singstimme übernimmt die Begleitung, giebt die erklärenden
Worte zu dem Treiben des Klaviers. In äußerster Verfolgung dieses Prinzips
haben wir es glücklich bis zur Gattung "Gesprvchne Lieder" gebracht.
Th. Gerlach ist jüngst damit hervorgetreten. Sie sind dem Begriff des Liedes
gegenüber noch viel absurder, als die jetzt gleichfalls häufiger erscheinenden
"Lieder mit Orchester"! Der Verteilung der Rollen im Lied kann das Mustk-
drama nicht zum Muster dienen. Ganz abgesehen davon, daß auch dort diese
Rollen nicht selten unnatürlich verteilt sind, gestatten die großen Formen und
die außermusikalischcn Hilfsmittel der Bühnenkunst das Zurücktreten des Sängers
in einem Maße, das durch den knappen Umfang des Liedes vollständig aus¬
geschlossen ist. Beharren unsre Komponisten bei dieser Methode, so ist der
Gesang in Deutschland nicht bloß auf die niedrige Stufe verwiesen, auf der
er in Frankreich von je gestanden hat, sondern geradezu zum Tode verurteilt.
Schon jetzt sind zusammenhanglose, stümperhafte Melodien, nichtssagende Motive
in der Singstimme sehr häusig; an Stelle belebten, ausgreifenden, anch durch
Figuren sprechenden Gesangs und Ausnützung seiner reichen Ausdrucksmittel
herrscht trockne Deklamation. Ist ja thörichterweise von Schülern Wagners
die Koloratur theoretisch zu Grabe getragen worden!

Wenn das Vorbild Wagners durch Mißbrauch auf das neueste Lied viel¬
fach ungünstig gewirkt hat, so ist nach andern Seiten sein Einfluß segensreich
gewesen. Ihm ist es zu danken, daß die weichliche Romantik, die von der
Schumannschen Schule aus das deutsche Lied zu beherrschen anfing, bis auf
die Spuren, die der interessante Imsen gelassen hat, zurückgedrängt und durch
einen männlichem und kräftigern Normalton ersetzt worden ist, auf den wir
für die Zukunft noch große Hoffnungen gründen dürfen. Wie seit 1870 unsre
poetischen Ansprüche im allgemeinen realer und gesunder geworden sind, so,
und nicht zum wenigsten durch Wagners Verdienst, auch die musikalischen. Das
zeigt sich am deutlichsten, wenn man einmal von der Erinnerung getrieben zu
den Liedeslieblingen der vorher gehenden Periode zurückkehrt, wozu z. B. un-
längst "Nachgelassene Gesänge" von Hugo Brückler Anlaß gaben. Wie vergilbt
die meisten dieser Blätter, wie weit liegt diese Musik der verminderten Septimen¬
akkorde hinter uns! Genau so weit wie Spielhagen, Gutzkow und ein großer
Teil Moritz von Schwinds. Auch auf die ernste Hingebung an die Einzel-


Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

zwischen Gesang und Begleitung. Schon Franz Schubert hat ausnahmsweise
dem Klavier in seinen Liedern eine wichtige Rolle zugewiesen. Es verkörpert
bei ihm das Rauschen des Baches, das Schnurren des Spinnrads, meist die
äußere Situation, auf der sich die menschlichen Gestalten, die Herz und Seele
im Gesänge öffnen, bewegen. Schumann geht schon weiter und giebt dem
Klavier, z. B. in seiner Dichterliebe, zuweilen die Hauptpartie. Seit nun aber
das Wagnersche Opernorchester in die Musikermcisfen eingedrungen ist, droht
im Lied das vernünftige Verhältnis sich umzukehren. Das Instrument wird
zur Hauptsache, die Singstimme übernimmt die Begleitung, giebt die erklärenden
Worte zu dem Treiben des Klaviers. In äußerster Verfolgung dieses Prinzips
haben wir es glücklich bis zur Gattung „Gesprvchne Lieder" gebracht.
Th. Gerlach ist jüngst damit hervorgetreten. Sie sind dem Begriff des Liedes
gegenüber noch viel absurder, als die jetzt gleichfalls häufiger erscheinenden
„Lieder mit Orchester"! Der Verteilung der Rollen im Lied kann das Mustk-
drama nicht zum Muster dienen. Ganz abgesehen davon, daß auch dort diese
Rollen nicht selten unnatürlich verteilt sind, gestatten die großen Formen und
die außermusikalischcn Hilfsmittel der Bühnenkunst das Zurücktreten des Sängers
in einem Maße, das durch den knappen Umfang des Liedes vollständig aus¬
geschlossen ist. Beharren unsre Komponisten bei dieser Methode, so ist der
Gesang in Deutschland nicht bloß auf die niedrige Stufe verwiesen, auf der
er in Frankreich von je gestanden hat, sondern geradezu zum Tode verurteilt.
Schon jetzt sind zusammenhanglose, stümperhafte Melodien, nichtssagende Motive
in der Singstimme sehr häusig; an Stelle belebten, ausgreifenden, anch durch
Figuren sprechenden Gesangs und Ausnützung seiner reichen Ausdrucksmittel
herrscht trockne Deklamation. Ist ja thörichterweise von Schülern Wagners
die Koloratur theoretisch zu Grabe getragen worden!

Wenn das Vorbild Wagners durch Mißbrauch auf das neueste Lied viel¬
fach ungünstig gewirkt hat, so ist nach andern Seiten sein Einfluß segensreich
gewesen. Ihm ist es zu danken, daß die weichliche Romantik, die von der
Schumannschen Schule aus das deutsche Lied zu beherrschen anfing, bis auf
die Spuren, die der interessante Imsen gelassen hat, zurückgedrängt und durch
einen männlichem und kräftigern Normalton ersetzt worden ist, auf den wir
für die Zukunft noch große Hoffnungen gründen dürfen. Wie seit 1870 unsre
poetischen Ansprüche im allgemeinen realer und gesunder geworden sind, so,
und nicht zum wenigsten durch Wagners Verdienst, auch die musikalischen. Das
zeigt sich am deutlichsten, wenn man einmal von der Erinnerung getrieben zu
den Liedeslieblingen der vorher gehenden Periode zurückkehrt, wozu z. B. un-
längst „Nachgelassene Gesänge" von Hugo Brückler Anlaß gaben. Wie vergilbt
die meisten dieser Blätter, wie weit liegt diese Musik der verminderten Septimen¬
akkorde hinter uns! Genau so weit wie Spielhagen, Gutzkow und ein großer
Teil Moritz von Schwinds. Auch auf die ernste Hingebung an die Einzel-


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[0543] Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners zwischen Gesang und Begleitung. Schon Franz Schubert hat ausnahmsweise dem Klavier in seinen Liedern eine wichtige Rolle zugewiesen. Es verkörpert bei ihm das Rauschen des Baches, das Schnurren des Spinnrads, meist die äußere Situation, auf der sich die menschlichen Gestalten, die Herz und Seele im Gesänge öffnen, bewegen. Schumann geht schon weiter und giebt dem Klavier, z. B. in seiner Dichterliebe, zuweilen die Hauptpartie. Seit nun aber das Wagnersche Opernorchester in die Musikermcisfen eingedrungen ist, droht im Lied das vernünftige Verhältnis sich umzukehren. Das Instrument wird zur Hauptsache, die Singstimme übernimmt die Begleitung, giebt die erklärenden Worte zu dem Treiben des Klaviers. In äußerster Verfolgung dieses Prinzips haben wir es glücklich bis zur Gattung „Gesprvchne Lieder" gebracht. Th. Gerlach ist jüngst damit hervorgetreten. Sie sind dem Begriff des Liedes gegenüber noch viel absurder, als die jetzt gleichfalls häufiger erscheinenden „Lieder mit Orchester"! Der Verteilung der Rollen im Lied kann das Mustk- drama nicht zum Muster dienen. Ganz abgesehen davon, daß auch dort diese Rollen nicht selten unnatürlich verteilt sind, gestatten die großen Formen und die außermusikalischcn Hilfsmittel der Bühnenkunst das Zurücktreten des Sängers in einem Maße, das durch den knappen Umfang des Liedes vollständig aus¬ geschlossen ist. Beharren unsre Komponisten bei dieser Methode, so ist der Gesang in Deutschland nicht bloß auf die niedrige Stufe verwiesen, auf der er in Frankreich von je gestanden hat, sondern geradezu zum Tode verurteilt. Schon jetzt sind zusammenhanglose, stümperhafte Melodien, nichtssagende Motive in der Singstimme sehr häusig; an Stelle belebten, ausgreifenden, anch durch Figuren sprechenden Gesangs und Ausnützung seiner reichen Ausdrucksmittel herrscht trockne Deklamation. Ist ja thörichterweise von Schülern Wagners die Koloratur theoretisch zu Grabe getragen worden! Wenn das Vorbild Wagners durch Mißbrauch auf das neueste Lied viel¬ fach ungünstig gewirkt hat, so ist nach andern Seiten sein Einfluß segensreich gewesen. Ihm ist es zu danken, daß die weichliche Romantik, die von der Schumannschen Schule aus das deutsche Lied zu beherrschen anfing, bis auf die Spuren, die der interessante Imsen gelassen hat, zurückgedrängt und durch einen männlichem und kräftigern Normalton ersetzt worden ist, auf den wir für die Zukunft noch große Hoffnungen gründen dürfen. Wie seit 1870 unsre poetischen Ansprüche im allgemeinen realer und gesunder geworden sind, so, und nicht zum wenigsten durch Wagners Verdienst, auch die musikalischen. Das zeigt sich am deutlichsten, wenn man einmal von der Erinnerung getrieben zu den Liedeslieblingen der vorher gehenden Periode zurückkehrt, wozu z. B. un- längst „Nachgelassene Gesänge" von Hugo Brückler Anlaß gaben. Wie vergilbt die meisten dieser Blätter, wie weit liegt diese Musik der verminderten Septimen¬ akkorde hinter uns! Genau so weit wie Spielhagen, Gutzkow und ein großer Teil Moritz von Schwinds. Auch auf die ernste Hingebung an die Einzel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/543>, abgerufen am 23.07.2024.