Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

Liedes unangenehmer als sonst etwas. Unter allen Bildungen künstlerischer
Unechtheit und Pose schädigen sie den Charakter und die Physiognomie des
deutschen Liedes am meisten, machen es grau und schwerfällig, verklagen unsre
Zeit bei der Nachwelt als müde, tödlich erschöpft, unfruchtbar und lügnerisch.
Das deutsche Lied hat schon manchen argen Exzeß heil überstanden, hat
Perioden grenzenloser Tugend und Zufriedenheit vertragen, Ströme falscher
Thränen sich wieder verlaufen sehen -- aber von diesen gespenstischen Philo¬
sophenlarven kann es nicht schnell genug wieder befreit werden. Gewiß, sie
rühren nicht bloß von Brahms und von Wagner her, sondern allgemein
geistige Krankheitselemente, die kurz in die Namen Schopenhauer und Nietzsche
zusammengefaßt werden können, sind ihnen beigemischt. Den Pessimismus in
allen Ehren! Aber zum Kokettiren ist er nicht da, und am wenigsten im Lied,
das für Lügen aller Art zu wenig Raum hat. Daß mans aber fortdauernd
damit versucht, ist eine der Ursachen, die dem Lied in unsrer Zeit die Besten
entfremden und seiner natürlichen Stellung empfindlichen Abbruch thun muß.

Wagners Einfluß beschränkt sich aber keineswegs auf das Eindringen
pathetischer Töne in das neue Lied. Er hat die Fähigkeit dramatischer An¬
schauung und Empfindung in unsrer Zeit überhaupt mächtig gesteigert, und
das macht sich in der jüngsten Liedkomposition immer breiter fühlbar. Es
ist seit lange schon von einer förmlichen dramatischen Bewegung ergriffen.
Ihr Hauptträger in der vorhergehenden Periode war Franz Liszt, ihm folgten
Peter Cornelius und mit gewissen abschwächenden Eigenheiten Hans Sommer.
Liszt namentlich hat es trefflich verstanden, die dramatische Glut seiner Gesänge
in die knappen Formen des Lieds zu dämmen und auch Texte, die Szenen
gleichen, zu wunderbar belebten Liedern zu gestalten. In unsrer jüngsten
Liederperivde droht dieser an Anhang ungemein gewachsene, dramatische Geist
das Haus, in das er eingezogen ist, zu zerstören. Die Liedformen sind ihm
zu eng oder zu unbedeutend, er will sie durch die Kantate ersetzen. Der
Prozeß ist an und für sich nichts neues, die ganze Geschichte des Lieds bewegt
sich um den Gegensatz zwischen Volkslied und Kunstlied, um Verlassen und
Wiederaufsuchen der einfachen Formen auf höherer Stufe. Der dramatischen
Kantatenzeit, der Zeit der ungeheuern Quodlibets am Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts folgte das Tanzlied des Sperontes, den Odenkompvsitionen der
Reese, Sack und Ruhe an seinem Ausgang die Berliner Schule mit der
Devise: Volksweisen, nur Volksweisen. An und für sich ist die eine Gattung
so berechtigt wie die andre, beide können neben einander so gut bestehen wie
Dorf und Stadt, beide ergänzen sich, und beiden ist durch die Dichtungen
Gebiet und Wirkungskreis bestimmt. Kommt es, wie jetzt wieder, zu Grenz¬
verwischungen, strebt das Lied den gemischten Formen zu, so ist das immer
ein Zeichen von Krankheit, von Überdruß, vom Sinken des Liedgeistes.
Die Thorheit, daß man das für die Familie, für die Arbeit, die Geselligkeit


Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

Liedes unangenehmer als sonst etwas. Unter allen Bildungen künstlerischer
Unechtheit und Pose schädigen sie den Charakter und die Physiognomie des
deutschen Liedes am meisten, machen es grau und schwerfällig, verklagen unsre
Zeit bei der Nachwelt als müde, tödlich erschöpft, unfruchtbar und lügnerisch.
Das deutsche Lied hat schon manchen argen Exzeß heil überstanden, hat
Perioden grenzenloser Tugend und Zufriedenheit vertragen, Ströme falscher
Thränen sich wieder verlaufen sehen — aber von diesen gespenstischen Philo¬
sophenlarven kann es nicht schnell genug wieder befreit werden. Gewiß, sie
rühren nicht bloß von Brahms und von Wagner her, sondern allgemein
geistige Krankheitselemente, die kurz in die Namen Schopenhauer und Nietzsche
zusammengefaßt werden können, sind ihnen beigemischt. Den Pessimismus in
allen Ehren! Aber zum Kokettiren ist er nicht da, und am wenigsten im Lied,
das für Lügen aller Art zu wenig Raum hat. Daß mans aber fortdauernd
damit versucht, ist eine der Ursachen, die dem Lied in unsrer Zeit die Besten
entfremden und seiner natürlichen Stellung empfindlichen Abbruch thun muß.

Wagners Einfluß beschränkt sich aber keineswegs auf das Eindringen
pathetischer Töne in das neue Lied. Er hat die Fähigkeit dramatischer An¬
schauung und Empfindung in unsrer Zeit überhaupt mächtig gesteigert, und
das macht sich in der jüngsten Liedkomposition immer breiter fühlbar. Es
ist seit lange schon von einer förmlichen dramatischen Bewegung ergriffen.
Ihr Hauptträger in der vorhergehenden Periode war Franz Liszt, ihm folgten
Peter Cornelius und mit gewissen abschwächenden Eigenheiten Hans Sommer.
Liszt namentlich hat es trefflich verstanden, die dramatische Glut seiner Gesänge
in die knappen Formen des Lieds zu dämmen und auch Texte, die Szenen
gleichen, zu wunderbar belebten Liedern zu gestalten. In unsrer jüngsten
Liederperivde droht dieser an Anhang ungemein gewachsene, dramatische Geist
das Haus, in das er eingezogen ist, zu zerstören. Die Liedformen sind ihm
zu eng oder zu unbedeutend, er will sie durch die Kantate ersetzen. Der
Prozeß ist an und für sich nichts neues, die ganze Geschichte des Lieds bewegt
sich um den Gegensatz zwischen Volkslied und Kunstlied, um Verlassen und
Wiederaufsuchen der einfachen Formen auf höherer Stufe. Der dramatischen
Kantatenzeit, der Zeit der ungeheuern Quodlibets am Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts folgte das Tanzlied des Sperontes, den Odenkompvsitionen der
Reese, Sack und Ruhe an seinem Ausgang die Berliner Schule mit der
Devise: Volksweisen, nur Volksweisen. An und für sich ist die eine Gattung
so berechtigt wie die andre, beide können neben einander so gut bestehen wie
Dorf und Stadt, beide ergänzen sich, und beiden ist durch die Dichtungen
Gebiet und Wirkungskreis bestimmt. Kommt es, wie jetzt wieder, zu Grenz¬
verwischungen, strebt das Lied den gemischten Formen zu, so ist das immer
ein Zeichen von Krankheit, von Überdruß, vom Sinken des Liedgeistes.
Die Thorheit, daß man das für die Familie, für die Arbeit, die Geselligkeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0541" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228177"/>
          <fw type="header" place="top"> Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1475" prev="#ID_1474"> Liedes unangenehmer als sonst etwas. Unter allen Bildungen künstlerischer<lb/>
Unechtheit und Pose schädigen sie den Charakter und die Physiognomie des<lb/>
deutschen Liedes am meisten, machen es grau und schwerfällig, verklagen unsre<lb/>
Zeit bei der Nachwelt als müde, tödlich erschöpft, unfruchtbar und lügnerisch.<lb/>
Das deutsche Lied hat schon manchen argen Exzeß heil überstanden, hat<lb/>
Perioden grenzenloser Tugend und Zufriedenheit vertragen, Ströme falscher<lb/>
Thränen sich wieder verlaufen sehen &#x2014; aber von diesen gespenstischen Philo¬<lb/>
sophenlarven kann es nicht schnell genug wieder befreit werden. Gewiß, sie<lb/>
rühren nicht bloß von Brahms und von Wagner her, sondern allgemein<lb/>
geistige Krankheitselemente, die kurz in die Namen Schopenhauer und Nietzsche<lb/>
zusammengefaßt werden können, sind ihnen beigemischt. Den Pessimismus in<lb/>
allen Ehren! Aber zum Kokettiren ist er nicht da, und am wenigsten im Lied,<lb/>
das für Lügen aller Art zu wenig Raum hat. Daß mans aber fortdauernd<lb/>
damit versucht, ist eine der Ursachen, die dem Lied in unsrer Zeit die Besten<lb/>
entfremden und seiner natürlichen Stellung empfindlichen Abbruch thun muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1476" next="#ID_1477"> Wagners Einfluß beschränkt sich aber keineswegs auf das Eindringen<lb/>
pathetischer Töne in das neue Lied. Er hat die Fähigkeit dramatischer An¬<lb/>
schauung und Empfindung in unsrer Zeit überhaupt mächtig gesteigert, und<lb/>
das macht sich in der jüngsten Liedkomposition immer breiter fühlbar. Es<lb/>
ist seit lange schon von einer förmlichen dramatischen Bewegung ergriffen.<lb/>
Ihr Hauptträger in der vorhergehenden Periode war Franz Liszt, ihm folgten<lb/>
Peter Cornelius und mit gewissen abschwächenden Eigenheiten Hans Sommer.<lb/>
Liszt namentlich hat es trefflich verstanden, die dramatische Glut seiner Gesänge<lb/>
in die knappen Formen des Lieds zu dämmen und auch Texte, die Szenen<lb/>
gleichen, zu wunderbar belebten Liedern zu gestalten. In unsrer jüngsten<lb/>
Liederperivde droht dieser an Anhang ungemein gewachsene, dramatische Geist<lb/>
das Haus, in das er eingezogen ist, zu zerstören. Die Liedformen sind ihm<lb/>
zu eng oder zu unbedeutend, er will sie durch die Kantate ersetzen. Der<lb/>
Prozeß ist an und für sich nichts neues, die ganze Geschichte des Lieds bewegt<lb/>
sich um den Gegensatz zwischen Volkslied und Kunstlied, um Verlassen und<lb/>
Wiederaufsuchen der einfachen Formen auf höherer Stufe. Der dramatischen<lb/>
Kantatenzeit, der Zeit der ungeheuern Quodlibets am Anfang des achtzehnten<lb/>
Jahrhunderts folgte das Tanzlied des Sperontes, den Odenkompvsitionen der<lb/>
Reese, Sack und Ruhe an seinem Ausgang die Berliner Schule mit der<lb/>
Devise: Volksweisen, nur Volksweisen. An und für sich ist die eine Gattung<lb/>
so berechtigt wie die andre, beide können neben einander so gut bestehen wie<lb/>
Dorf und Stadt, beide ergänzen sich, und beiden ist durch die Dichtungen<lb/>
Gebiet und Wirkungskreis bestimmt. Kommt es, wie jetzt wieder, zu Grenz¬<lb/>
verwischungen, strebt das Lied den gemischten Formen zu, so ist das immer<lb/>
ein Zeichen von Krankheit, von Überdruß, vom Sinken des Liedgeistes.<lb/>
Die Thorheit, daß man das für die Familie, für die Arbeit, die Geselligkeit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0541] Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners Liedes unangenehmer als sonst etwas. Unter allen Bildungen künstlerischer Unechtheit und Pose schädigen sie den Charakter und die Physiognomie des deutschen Liedes am meisten, machen es grau und schwerfällig, verklagen unsre Zeit bei der Nachwelt als müde, tödlich erschöpft, unfruchtbar und lügnerisch. Das deutsche Lied hat schon manchen argen Exzeß heil überstanden, hat Perioden grenzenloser Tugend und Zufriedenheit vertragen, Ströme falscher Thränen sich wieder verlaufen sehen — aber von diesen gespenstischen Philo¬ sophenlarven kann es nicht schnell genug wieder befreit werden. Gewiß, sie rühren nicht bloß von Brahms und von Wagner her, sondern allgemein geistige Krankheitselemente, die kurz in die Namen Schopenhauer und Nietzsche zusammengefaßt werden können, sind ihnen beigemischt. Den Pessimismus in allen Ehren! Aber zum Kokettiren ist er nicht da, und am wenigsten im Lied, das für Lügen aller Art zu wenig Raum hat. Daß mans aber fortdauernd damit versucht, ist eine der Ursachen, die dem Lied in unsrer Zeit die Besten entfremden und seiner natürlichen Stellung empfindlichen Abbruch thun muß. Wagners Einfluß beschränkt sich aber keineswegs auf das Eindringen pathetischer Töne in das neue Lied. Er hat die Fähigkeit dramatischer An¬ schauung und Empfindung in unsrer Zeit überhaupt mächtig gesteigert, und das macht sich in der jüngsten Liedkomposition immer breiter fühlbar. Es ist seit lange schon von einer förmlichen dramatischen Bewegung ergriffen. Ihr Hauptträger in der vorhergehenden Periode war Franz Liszt, ihm folgten Peter Cornelius und mit gewissen abschwächenden Eigenheiten Hans Sommer. Liszt namentlich hat es trefflich verstanden, die dramatische Glut seiner Gesänge in die knappen Formen des Lieds zu dämmen und auch Texte, die Szenen gleichen, zu wunderbar belebten Liedern zu gestalten. In unsrer jüngsten Liederperivde droht dieser an Anhang ungemein gewachsene, dramatische Geist das Haus, in das er eingezogen ist, zu zerstören. Die Liedformen sind ihm zu eng oder zu unbedeutend, er will sie durch die Kantate ersetzen. Der Prozeß ist an und für sich nichts neues, die ganze Geschichte des Lieds bewegt sich um den Gegensatz zwischen Volkslied und Kunstlied, um Verlassen und Wiederaufsuchen der einfachen Formen auf höherer Stufe. Der dramatischen Kantatenzeit, der Zeit der ungeheuern Quodlibets am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts folgte das Tanzlied des Sperontes, den Odenkompvsitionen der Reese, Sack und Ruhe an seinem Ausgang die Berliner Schule mit der Devise: Volksweisen, nur Volksweisen. An und für sich ist die eine Gattung so berechtigt wie die andre, beide können neben einander so gut bestehen wie Dorf und Stadt, beide ergänzen sich, und beiden ist durch die Dichtungen Gebiet und Wirkungskreis bestimmt. Kommt es, wie jetzt wieder, zu Grenz¬ verwischungen, strebt das Lied den gemischten Formen zu, so ist das immer ein Zeichen von Krankheit, von Überdruß, vom Sinken des Liedgeistes. Die Thorheit, daß man das für die Familie, für die Arbeit, die Geselligkeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/541
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/541>, abgerufen am 23.07.2024.