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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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ein verwundertes Gesicht erwartete, das Zwischengespräch beendete: Wenn in der
französischen Stunde euer französischer Lehrer zugegen ist, warum sagt er euch
dann beim Lesen die Wörter nicht, die euch unbekannt sind, und verwendet eure
Zeit statt auf den Inhalt der Geschichte auf den Inhalt des Vokabulariums?
Walter konnte und durfte nicht antworten, denn das Präpariren ist eine Ein¬
richtung der Lehrer und nicht der Schüler, und die Frage gilt also jenen: Warum
laßt ihr eure Schüler präpariren?

Habe ich recht, wenn ich sage: Eine hübsche Erzählung -- erst recht, wenn
sie ein Teil eines interessanten Ganzen ist -- ist ein lebendiger Baum für unsre
Jungen, ein Baum, der sich bewegt, der farbige Blüte" hat, Duft und Früchte
giebt, und der seinen wenn auch kleinen Teil zur Landschaft, zu einem Gesamtbild
beiträgt? Und habe ich ferner recht, wenn ich sage: Die Vokabeln der Erzählung
aber sind ein ständiges Gemengsel von Klötzen, Splittern, Wurzel- und Rinden-
stücken und dürren Blättern, in einem Spreukorb, genannt Vokabularium, den
Schülern dargeboten, damit sie mit solch leb- und blutlosen Wust ihr Gedächtnis
gewaltsam anfüllen? Man denke nicht an ein Mosaikbild! Denn die Vokabeln,
noch so scharfsinnig zusammengesetzt, geben die Geschichte nicht, und wem sollte es
einfallen, sie beim Einpauker irgendwie sinngemäß zu verbinden?

Von den zu erwartenden Nechtfertigungsgründen für den Gebrauch des Prä-
parireus will ich zuerst deu beleuchten: die Geschichte wird leichter erfaßt, fließender
übersetzt, wenn die Schüler die darin neu vorkommenden Wörter vorher gelernt
haben. Ich sage: Ganz im Gegenteil! Lernt der Schüler das fremde Wort mit
dem danebenstehenden deutschen vorher, so ist es in sehr vielen Fällen nicht nur
wahrscheinlich, sondern gewiß, daß sich mit dem äußerlichen hör- und sichtbaren
Wortbilde ein verschwommuer, ein schiefer, ja geradezu ein falscher Begriff ver¬
bindet, während in der Geschichte selbst ein lebhafter, deutlicher und richtiger Be¬
griff damit verschmilzt. Wer nun eine Ahnung davon hat, wieviel für das geistige
Leben, die innere Aktivität, von lebhaften, deutlichen nud richtigen Anschauungen
abhängt, der wird zugeben, daß eine unverantwortliche Verödung der geistigen
Frische die endliche Folge des reichlichen Lernens unverstandner Dinge sein muß. Ganz
anders ist es mit der "Vokabel a poswriori," sie hat ihren richtigen Inhalt, ihr
Gepräge, ein nachträgliches Einprägen in das Gedächtnis wäre nicht so bedenk¬
lich -- aber vielleicht unnötig, denn da die Erzählung wohl öfter gelesen, abge¬
fragt, vielleicht auch "och eingeprägt und sicher in darauf folgenden Übersetzungs¬
beispielen angewandt wird, so muß sie ja schließlich festsitzen; nud was könnte es
vorteilhafteres und leichteres geben, als die Vokabel in dem Zusammenhange zu
befestigen, in dem sie Leben, Blut, eine Funktion, einen Zweck hat! Kommt eine
aber gar zu selten vor, sodaß sie durch den Gebrauch nicht im Gedächtnis be¬
festigt wird, so ist sie nicht würdig der geistigen Kraft, die ans sie verwandt
werden soll, noch auch des Platzes, den sie in dem engen Bewußtsein als immer
bereit beansprucht. Und wozu haben die Schüler alphabetische Wörterverzeichnisse?
Bleiben aber häufig angewandte Vokabeln nicht "festsitzen," so liegt wohl die Frage
nahe, ob der Schüler sich nicht eher sür ein Handwerk eignete, als für gelehrte
Studien.

Ein zweiter Grund für das Präpariren und ähnliche Eigentümlichkeiten des
höhern Unterrichts liegt in folgendem Gedankengange: Das oberste Ziel des Unter¬
richts ist Charakterbildung, und dazu ist eine Schulung des Willens dnrch eine
regelmäßig wiederkehrende Aufgabe unentbehrlich -- eine regelmäßige Aufgabe,
deren nüchternen Ernst der Schüler immerhin fühlen möge. Das klingt so päda¬
gogisch, daß man kaum zu sagen wagt, wie falsch diese Meinung über Willens-


ein verwundertes Gesicht erwartete, das Zwischengespräch beendete: Wenn in der
französischen Stunde euer französischer Lehrer zugegen ist, warum sagt er euch
dann beim Lesen die Wörter nicht, die euch unbekannt sind, und verwendet eure
Zeit statt auf den Inhalt der Geschichte auf den Inhalt des Vokabulariums?
Walter konnte und durfte nicht antworten, denn das Präpariren ist eine Ein¬
richtung der Lehrer und nicht der Schüler, und die Frage gilt also jenen: Warum
laßt ihr eure Schüler präpariren?

Habe ich recht, wenn ich sage: Eine hübsche Erzählung — erst recht, wenn
sie ein Teil eines interessanten Ganzen ist — ist ein lebendiger Baum für unsre
Jungen, ein Baum, der sich bewegt, der farbige Blüte» hat, Duft und Früchte
giebt, und der seinen wenn auch kleinen Teil zur Landschaft, zu einem Gesamtbild
beiträgt? Und habe ich ferner recht, wenn ich sage: Die Vokabeln der Erzählung
aber sind ein ständiges Gemengsel von Klötzen, Splittern, Wurzel- und Rinden-
stücken und dürren Blättern, in einem Spreukorb, genannt Vokabularium, den
Schülern dargeboten, damit sie mit solch leb- und blutlosen Wust ihr Gedächtnis
gewaltsam anfüllen? Man denke nicht an ein Mosaikbild! Denn die Vokabeln,
noch so scharfsinnig zusammengesetzt, geben die Geschichte nicht, und wem sollte es
einfallen, sie beim Einpauker irgendwie sinngemäß zu verbinden?

Von den zu erwartenden Nechtfertigungsgründen für den Gebrauch des Prä-
parireus will ich zuerst deu beleuchten: die Geschichte wird leichter erfaßt, fließender
übersetzt, wenn die Schüler die darin neu vorkommenden Wörter vorher gelernt
haben. Ich sage: Ganz im Gegenteil! Lernt der Schüler das fremde Wort mit
dem danebenstehenden deutschen vorher, so ist es in sehr vielen Fällen nicht nur
wahrscheinlich, sondern gewiß, daß sich mit dem äußerlichen hör- und sichtbaren
Wortbilde ein verschwommuer, ein schiefer, ja geradezu ein falscher Begriff ver¬
bindet, während in der Geschichte selbst ein lebhafter, deutlicher und richtiger Be¬
griff damit verschmilzt. Wer nun eine Ahnung davon hat, wieviel für das geistige
Leben, die innere Aktivität, von lebhaften, deutlichen nud richtigen Anschauungen
abhängt, der wird zugeben, daß eine unverantwortliche Verödung der geistigen
Frische die endliche Folge des reichlichen Lernens unverstandner Dinge sein muß. Ganz
anders ist es mit der „Vokabel a poswriori," sie hat ihren richtigen Inhalt, ihr
Gepräge, ein nachträgliches Einprägen in das Gedächtnis wäre nicht so bedenk¬
lich — aber vielleicht unnötig, denn da die Erzählung wohl öfter gelesen, abge¬
fragt, vielleicht auch »och eingeprägt und sicher in darauf folgenden Übersetzungs¬
beispielen angewandt wird, so muß sie ja schließlich festsitzen; nud was könnte es
vorteilhafteres und leichteres geben, als die Vokabel in dem Zusammenhange zu
befestigen, in dem sie Leben, Blut, eine Funktion, einen Zweck hat! Kommt eine
aber gar zu selten vor, sodaß sie durch den Gebrauch nicht im Gedächtnis be¬
festigt wird, so ist sie nicht würdig der geistigen Kraft, die ans sie verwandt
werden soll, noch auch des Platzes, den sie in dem engen Bewußtsein als immer
bereit beansprucht. Und wozu haben die Schüler alphabetische Wörterverzeichnisse?
Bleiben aber häufig angewandte Vokabeln nicht „festsitzen," so liegt wohl die Frage
nahe, ob der Schüler sich nicht eher sür ein Handwerk eignete, als für gelehrte
Studien.

Ein zweiter Grund für das Präpariren und ähnliche Eigentümlichkeiten des
höhern Unterrichts liegt in folgendem Gedankengange: Das oberste Ziel des Unter¬
richts ist Charakterbildung, und dazu ist eine Schulung des Willens dnrch eine
regelmäßig wiederkehrende Aufgabe unentbehrlich — eine regelmäßige Aufgabe,
deren nüchternen Ernst der Schüler immerhin fühlen möge. Das klingt so päda¬
gogisch, daß man kaum zu sagen wagt, wie falsch diese Meinung über Willens-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/54>, abgerufen am 27.12.2024.