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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

Komponisten ging; von den weitern Liedersammlungen des siebzehnten Jahr¬
hunderts kamen nicht die schlechtesten von deutschen Universitäten her. Von
des Sperontes "singender Muse" ab über Görner und Gräfe hin lag jahr¬
zehntelang das Geschick des deutschen Liedes in den Händen Leipziger und
Hallischer Studenten, und unter den Männern, die dann Berlin zum Sitz der
Gattung machten, waren gebildete Dilettanten zunächst entscheidender als die
Berufsmusiker. Jedermann weiß, wie sehr sich diese Verhältnisse bis heute
geändert haben, wie sehr das Verständnis und das Interesse für Musik in
unsern studirten Kreisen zurückgegangen sind. Wir haben eine "Kunstgeschichte,"
aber die Musik kommt für sie nicht in Betracht. Den stärksten Beweis für
jenen Rückgang bieten unsre Litteraturgeschichten. In ihnen ist gar nicht oder
nur ganz verschämt von der Musik die Rede. Davon, daß in der Zeit vom
dreißigjährigen Kriege bis zum siebenjährigen nur die Musiker die deutsche
Lhrik am Leben erhalten haben, scheinen die Verfasser nichts zu ahnen.

Der rechte Musiker wird zu stolz sein, um diese Thatsachen zu beklagen,
aber er wird sich die Frage vorzulegen haben, wie weit denn die Musik selbst
daran Schuld trägt, daß sie wichtige Freunde verloren, daß insbesondre das
Lied nicht unbeträchtlich an Macht und Kulturbedeutung eingebüßt hat. Diese
Frage läßt sich ohne weitern historischen Aufwand durch eine einfache Prüfung
der heutigen Leistungen im Lied beantworten. Es kann sich bei dieser Prüfung
nicht darum handeln, alle die Dutzende von gelehrten und ungelehrten, dra-
Pirtcn und nackten Mittelmäßigkeiten in der neuesten Liederernte kritisch durch-
zusiebeu und mit Etiketten zu Versehen. Die Grundsätze und Einflüsse, unter
denen unsre Komponisten arbeiten, sollen beleuchtet, und das Gesamtergebnis,
das Liedertalent der Gegenwart soll bestimmt werden. Auf einzelne Namen
kann nur eingegangen werden, sofern sie eine Richtung bedeuten oder eine
neue Entwicklung der Gattung erschließen.

Der Tod Wagners dient uns hierbei als geeignete Zeitgrenze. Wohl
haben seine Musikdramen die jüngste Liedkomposition beeinflußt, aber bisher
nicht beherrscht. In einer ganz andern Weise steht da die vorausgehende
Generation unter dem Zeichen Schumanns. Ihm ist die große Mehrzahl aller
deutschen Lieder, die in den fünfundzwanzig Jahren vor 1880 ans Tageslicht
traten, tief verpflichtet. Er machte den gemütlichen, rührseligen und äußer¬
lichen Schubertnachzüglern ein Ende und hob die Ansprüche an den geistigen
Gehalt des Liedes ans eine Stufe, die der Durchschnitt der Komponisten so
gut, als es ging, erklimmen mußte. Zu diesem allgemeinen Aufschwung der
Gattung bescherte das Glück jener Zeit eine Reihe Spezialisten von aus¬
geprägter Individualität. Der Liedcrertrag der vorhergehenden Periode ist
demnach für die Gegenwart eine bedeutende, schwer zu überbietende Vorlage.
Er gleicht einem Berge, der ihr die Sonne nimmt, sie zwingt, im Schatten
zu wachsen. Die Meister, die aus der vergangnen Periode am entschiedensten


Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners

Komponisten ging; von den weitern Liedersammlungen des siebzehnten Jahr¬
hunderts kamen nicht die schlechtesten von deutschen Universitäten her. Von
des Sperontes „singender Muse" ab über Görner und Gräfe hin lag jahr¬
zehntelang das Geschick des deutschen Liedes in den Händen Leipziger und
Hallischer Studenten, und unter den Männern, die dann Berlin zum Sitz der
Gattung machten, waren gebildete Dilettanten zunächst entscheidender als die
Berufsmusiker. Jedermann weiß, wie sehr sich diese Verhältnisse bis heute
geändert haben, wie sehr das Verständnis und das Interesse für Musik in
unsern studirten Kreisen zurückgegangen sind. Wir haben eine „Kunstgeschichte,"
aber die Musik kommt für sie nicht in Betracht. Den stärksten Beweis für
jenen Rückgang bieten unsre Litteraturgeschichten. In ihnen ist gar nicht oder
nur ganz verschämt von der Musik die Rede. Davon, daß in der Zeit vom
dreißigjährigen Kriege bis zum siebenjährigen nur die Musiker die deutsche
Lhrik am Leben erhalten haben, scheinen die Verfasser nichts zu ahnen.

Der rechte Musiker wird zu stolz sein, um diese Thatsachen zu beklagen,
aber er wird sich die Frage vorzulegen haben, wie weit denn die Musik selbst
daran Schuld trägt, daß sie wichtige Freunde verloren, daß insbesondre das
Lied nicht unbeträchtlich an Macht und Kulturbedeutung eingebüßt hat. Diese
Frage läßt sich ohne weitern historischen Aufwand durch eine einfache Prüfung
der heutigen Leistungen im Lied beantworten. Es kann sich bei dieser Prüfung
nicht darum handeln, alle die Dutzende von gelehrten und ungelehrten, dra-
Pirtcn und nackten Mittelmäßigkeiten in der neuesten Liederernte kritisch durch-
zusiebeu und mit Etiketten zu Versehen. Die Grundsätze und Einflüsse, unter
denen unsre Komponisten arbeiten, sollen beleuchtet, und das Gesamtergebnis,
das Liedertalent der Gegenwart soll bestimmt werden. Auf einzelne Namen
kann nur eingegangen werden, sofern sie eine Richtung bedeuten oder eine
neue Entwicklung der Gattung erschließen.

Der Tod Wagners dient uns hierbei als geeignete Zeitgrenze. Wohl
haben seine Musikdramen die jüngste Liedkomposition beeinflußt, aber bisher
nicht beherrscht. In einer ganz andern Weise steht da die vorausgehende
Generation unter dem Zeichen Schumanns. Ihm ist die große Mehrzahl aller
deutschen Lieder, die in den fünfundzwanzig Jahren vor 1880 ans Tageslicht
traten, tief verpflichtet. Er machte den gemütlichen, rührseligen und äußer¬
lichen Schubertnachzüglern ein Ende und hob die Ansprüche an den geistigen
Gehalt des Liedes ans eine Stufe, die der Durchschnitt der Komponisten so
gut, als es ging, erklimmen mußte. Zu diesem allgemeinen Aufschwung der
Gattung bescherte das Glück jener Zeit eine Reihe Spezialisten von aus¬
geprägter Individualität. Der Liedcrertrag der vorhergehenden Periode ist
demnach für die Gegenwart eine bedeutende, schwer zu überbietende Vorlage.
Er gleicht einem Berge, der ihr die Sonne nimmt, sie zwingt, im Schatten
zu wachsen. Die Meister, die aus der vergangnen Periode am entschiedensten


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[0539] Das deutsche Lied seit dem Tode Richard Wagners Komponisten ging; von den weitern Liedersammlungen des siebzehnten Jahr¬ hunderts kamen nicht die schlechtesten von deutschen Universitäten her. Von des Sperontes „singender Muse" ab über Görner und Gräfe hin lag jahr¬ zehntelang das Geschick des deutschen Liedes in den Händen Leipziger und Hallischer Studenten, und unter den Männern, die dann Berlin zum Sitz der Gattung machten, waren gebildete Dilettanten zunächst entscheidender als die Berufsmusiker. Jedermann weiß, wie sehr sich diese Verhältnisse bis heute geändert haben, wie sehr das Verständnis und das Interesse für Musik in unsern studirten Kreisen zurückgegangen sind. Wir haben eine „Kunstgeschichte," aber die Musik kommt für sie nicht in Betracht. Den stärksten Beweis für jenen Rückgang bieten unsre Litteraturgeschichten. In ihnen ist gar nicht oder nur ganz verschämt von der Musik die Rede. Davon, daß in der Zeit vom dreißigjährigen Kriege bis zum siebenjährigen nur die Musiker die deutsche Lhrik am Leben erhalten haben, scheinen die Verfasser nichts zu ahnen. Der rechte Musiker wird zu stolz sein, um diese Thatsachen zu beklagen, aber er wird sich die Frage vorzulegen haben, wie weit denn die Musik selbst daran Schuld trägt, daß sie wichtige Freunde verloren, daß insbesondre das Lied nicht unbeträchtlich an Macht und Kulturbedeutung eingebüßt hat. Diese Frage läßt sich ohne weitern historischen Aufwand durch eine einfache Prüfung der heutigen Leistungen im Lied beantworten. Es kann sich bei dieser Prüfung nicht darum handeln, alle die Dutzende von gelehrten und ungelehrten, dra- Pirtcn und nackten Mittelmäßigkeiten in der neuesten Liederernte kritisch durch- zusiebeu und mit Etiketten zu Versehen. Die Grundsätze und Einflüsse, unter denen unsre Komponisten arbeiten, sollen beleuchtet, und das Gesamtergebnis, das Liedertalent der Gegenwart soll bestimmt werden. Auf einzelne Namen kann nur eingegangen werden, sofern sie eine Richtung bedeuten oder eine neue Entwicklung der Gattung erschließen. Der Tod Wagners dient uns hierbei als geeignete Zeitgrenze. Wohl haben seine Musikdramen die jüngste Liedkomposition beeinflußt, aber bisher nicht beherrscht. In einer ganz andern Weise steht da die vorausgehende Generation unter dem Zeichen Schumanns. Ihm ist die große Mehrzahl aller deutschen Lieder, die in den fünfundzwanzig Jahren vor 1880 ans Tageslicht traten, tief verpflichtet. Er machte den gemütlichen, rührseligen und äußer¬ lichen Schubertnachzüglern ein Ende und hob die Ansprüche an den geistigen Gehalt des Liedes ans eine Stufe, die der Durchschnitt der Komponisten so gut, als es ging, erklimmen mußte. Zu diesem allgemeinen Aufschwung der Gattung bescherte das Glück jener Zeit eine Reihe Spezialisten von aus¬ geprägter Individualität. Der Liedcrertrag der vorhergehenden Periode ist demnach für die Gegenwart eine bedeutende, schwer zu überbietende Vorlage. Er gleicht einem Berge, der ihr die Sonne nimmt, sie zwingt, im Schatten zu wachsen. Die Meister, die aus der vergangnen Periode am entschiedensten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/539>, abgerufen am 23.07.2024.