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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neues zur Litteratur über Dante

Kirchenpolitik hat schon das Ziel verfolgt, dem Klerus zu Gemüte zu führen,
daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt und daß es die höchste Zeit sei,
die Führung der politischen und bürgerlichen Angelegenheiten den Kindern dieser
Welt zu überlassen. Es ist bekannt, daß es noch mehr als ein halbes Jahr¬
tausend gedauert hat, ehe sich dieses Ideal Dantes, nicht auf friedlichem
Wege, wie er es gehofft, sondern erst durch gewaltsame Umwälzungen ver¬
wirklicht hat. Ganz und gar eigentlich noch nicht. Denn die niedergeworfne
weltliche Herrschaft des Papstes wird von den jeweiligen Trägern des Konstan¬
tinischeu Dominiums immer noch als eine vorübergehende Erscheinung be¬
trachtet, und darum ist die Mission Dantes auch nach dieser Richtung hin
nicht ganz erfüllt. Kraus ist selbst Katholik, dem es gewiß nicht einfüllt, an
den Lehrsätzen seiner Kirche zu rütteln. Aber darin fühlt er sich mit Dante
einig, daß er es verabscheut, daß der politische Katholizismus "die Herrschaft
über die Geister durch die Herrschaft über die Leiber erzwingen will und die
weltliche Gewalt der geistlichen völlig unterordnet." Ist das, in wenigen
Sätzen zusammengefaßt, nicht auch das kirchenpolitische Glaubensbekenntnis
Luthers gewesen?

Kraus, der sonst als unabhängiger Mann der Wissenschaft und als frei¬
sinniger Katholik über die kirchenpolitische Stellung Dantes sehr unbefangen
urteilt, hat diesen Zusammenhang zwischen zwei Zeitaltern und auch zwischen
zwei anscheinend feindlichen Weltanschauungen nicht bemerkt oder vielleicht auch
nicht bemerken wollen. Es wäre auch zu spitzfindig, wenn man wirklich ver¬
suchen wollte, einen Zusammenhang zwischen Dante und Luther künstlich her¬
zustellen. Freilich weiß man nicht, wie schnell auch im Mittelalter und im
Anfang des sechzehnten Jahrhunderts große Gedanken von Mensch zu Mensch
getragen wurden, wie schnell sie dnrch die Luft flogen. Ohne auf die refor-
mntvrischen Bestrebungen, die auf eine Neugestaltung der Kirche an Haupt und
Gliedern zielten, näher einzugehen, begnügt sich Kraus damit, daß er am
Schlüsse seiner allgemeinen Charakteristik Dantes sagt, er habe das Banner
des idealen und religiösen Katholizismus entfaltet, indem er diesen von der
weltlichen Herrschaft loslösen wollte.

Daß Kraus die Liebe Dantes zu Beatrice als eine poetische Fiktion, als ein
Symbol erklärt hat, das in seinen Dichtungen immer das Organ seiner wechselnden
Welt- und Lebensanschauungen, seiner religiösen und philosophischen jeweiligen
Stimmungen, seiner Ansichten ist, sei nur beiläufig erwähnt. Die Identität der
Dantischen Beatrice mit einem Nachbarskinde, das die Gespielin seiner Jugend
gewesen war, mit Beatrice Portinari, hat schon Scartazzini als eine willkürliche,
durch nichts beweisbare Deutung der spätern Dantebivgraphen und -erklärer preis¬
gegeben. Daß aber doch ein tiefes, inneres Erlebnis Dantes die Grundlinien der
dichterischen Gestalt geliefert habe, weist er nicht ganz von der Hand. Kraus
läßt aber auch dies nicht gelten. Nach Analogie der proper^ausehen Troubadours,


Neues zur Litteratur über Dante

Kirchenpolitik hat schon das Ziel verfolgt, dem Klerus zu Gemüte zu führen,
daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt und daß es die höchste Zeit sei,
die Führung der politischen und bürgerlichen Angelegenheiten den Kindern dieser
Welt zu überlassen. Es ist bekannt, daß es noch mehr als ein halbes Jahr¬
tausend gedauert hat, ehe sich dieses Ideal Dantes, nicht auf friedlichem
Wege, wie er es gehofft, sondern erst durch gewaltsame Umwälzungen ver¬
wirklicht hat. Ganz und gar eigentlich noch nicht. Denn die niedergeworfne
weltliche Herrschaft des Papstes wird von den jeweiligen Trägern des Konstan¬
tinischeu Dominiums immer noch als eine vorübergehende Erscheinung be¬
trachtet, und darum ist die Mission Dantes auch nach dieser Richtung hin
nicht ganz erfüllt. Kraus ist selbst Katholik, dem es gewiß nicht einfüllt, an
den Lehrsätzen seiner Kirche zu rütteln. Aber darin fühlt er sich mit Dante
einig, daß er es verabscheut, daß der politische Katholizismus „die Herrschaft
über die Geister durch die Herrschaft über die Leiber erzwingen will und die
weltliche Gewalt der geistlichen völlig unterordnet." Ist das, in wenigen
Sätzen zusammengefaßt, nicht auch das kirchenpolitische Glaubensbekenntnis
Luthers gewesen?

Kraus, der sonst als unabhängiger Mann der Wissenschaft und als frei¬
sinniger Katholik über die kirchenpolitische Stellung Dantes sehr unbefangen
urteilt, hat diesen Zusammenhang zwischen zwei Zeitaltern und auch zwischen
zwei anscheinend feindlichen Weltanschauungen nicht bemerkt oder vielleicht auch
nicht bemerken wollen. Es wäre auch zu spitzfindig, wenn man wirklich ver¬
suchen wollte, einen Zusammenhang zwischen Dante und Luther künstlich her¬
zustellen. Freilich weiß man nicht, wie schnell auch im Mittelalter und im
Anfang des sechzehnten Jahrhunderts große Gedanken von Mensch zu Mensch
getragen wurden, wie schnell sie dnrch die Luft flogen. Ohne auf die refor-
mntvrischen Bestrebungen, die auf eine Neugestaltung der Kirche an Haupt und
Gliedern zielten, näher einzugehen, begnügt sich Kraus damit, daß er am
Schlüsse seiner allgemeinen Charakteristik Dantes sagt, er habe das Banner
des idealen und religiösen Katholizismus entfaltet, indem er diesen von der
weltlichen Herrschaft loslösen wollte.

Daß Kraus die Liebe Dantes zu Beatrice als eine poetische Fiktion, als ein
Symbol erklärt hat, das in seinen Dichtungen immer das Organ seiner wechselnden
Welt- und Lebensanschauungen, seiner religiösen und philosophischen jeweiligen
Stimmungen, seiner Ansichten ist, sei nur beiläufig erwähnt. Die Identität der
Dantischen Beatrice mit einem Nachbarskinde, das die Gespielin seiner Jugend
gewesen war, mit Beatrice Portinari, hat schon Scartazzini als eine willkürliche,
durch nichts beweisbare Deutung der spätern Dantebivgraphen und -erklärer preis¬
gegeben. Daß aber doch ein tiefes, inneres Erlebnis Dantes die Grundlinien der
dichterischen Gestalt geliefert habe, weist er nicht ganz von der Hand. Kraus
läßt aber auch dies nicht gelten. Nach Analogie der proper^ausehen Troubadours,


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[0501] Neues zur Litteratur über Dante Kirchenpolitik hat schon das Ziel verfolgt, dem Klerus zu Gemüte zu führen, daß das Reich Gottes nicht von dieser Welt und daß es die höchste Zeit sei, die Führung der politischen und bürgerlichen Angelegenheiten den Kindern dieser Welt zu überlassen. Es ist bekannt, daß es noch mehr als ein halbes Jahr¬ tausend gedauert hat, ehe sich dieses Ideal Dantes, nicht auf friedlichem Wege, wie er es gehofft, sondern erst durch gewaltsame Umwälzungen ver¬ wirklicht hat. Ganz und gar eigentlich noch nicht. Denn die niedergeworfne weltliche Herrschaft des Papstes wird von den jeweiligen Trägern des Konstan¬ tinischeu Dominiums immer noch als eine vorübergehende Erscheinung be¬ trachtet, und darum ist die Mission Dantes auch nach dieser Richtung hin nicht ganz erfüllt. Kraus ist selbst Katholik, dem es gewiß nicht einfüllt, an den Lehrsätzen seiner Kirche zu rütteln. Aber darin fühlt er sich mit Dante einig, daß er es verabscheut, daß der politische Katholizismus „die Herrschaft über die Geister durch die Herrschaft über die Leiber erzwingen will und die weltliche Gewalt der geistlichen völlig unterordnet." Ist das, in wenigen Sätzen zusammengefaßt, nicht auch das kirchenpolitische Glaubensbekenntnis Luthers gewesen? Kraus, der sonst als unabhängiger Mann der Wissenschaft und als frei¬ sinniger Katholik über die kirchenpolitische Stellung Dantes sehr unbefangen urteilt, hat diesen Zusammenhang zwischen zwei Zeitaltern und auch zwischen zwei anscheinend feindlichen Weltanschauungen nicht bemerkt oder vielleicht auch nicht bemerken wollen. Es wäre auch zu spitzfindig, wenn man wirklich ver¬ suchen wollte, einen Zusammenhang zwischen Dante und Luther künstlich her¬ zustellen. Freilich weiß man nicht, wie schnell auch im Mittelalter und im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts große Gedanken von Mensch zu Mensch getragen wurden, wie schnell sie dnrch die Luft flogen. Ohne auf die refor- mntvrischen Bestrebungen, die auf eine Neugestaltung der Kirche an Haupt und Gliedern zielten, näher einzugehen, begnügt sich Kraus damit, daß er am Schlüsse seiner allgemeinen Charakteristik Dantes sagt, er habe das Banner des idealen und religiösen Katholizismus entfaltet, indem er diesen von der weltlichen Herrschaft loslösen wollte. Daß Kraus die Liebe Dantes zu Beatrice als eine poetische Fiktion, als ein Symbol erklärt hat, das in seinen Dichtungen immer das Organ seiner wechselnden Welt- und Lebensanschauungen, seiner religiösen und philosophischen jeweiligen Stimmungen, seiner Ansichten ist, sei nur beiläufig erwähnt. Die Identität der Dantischen Beatrice mit einem Nachbarskinde, das die Gespielin seiner Jugend gewesen war, mit Beatrice Portinari, hat schon Scartazzini als eine willkürliche, durch nichts beweisbare Deutung der spätern Dantebivgraphen und -erklärer preis¬ gegeben. Daß aber doch ein tiefes, inneres Erlebnis Dantes die Grundlinien der dichterischen Gestalt geliefert habe, weist er nicht ganz von der Hand. Kraus läßt aber auch dies nicht gelten. Nach Analogie der proper^ausehen Troubadours,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/501>, abgerufen am 28.12.2024.