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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Das ungarländische Deutschtum und das Deutsche Reich

Das wirtschaftliche Verhältnis ist gegenwärtig von entscheidenden Werte
bei der Beurteilung allgemein politischer Fragen. Ungarn ist ein wichtiges
Ausfuhrgebiet für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zugleich durch die öster¬
reichische Reichshälfte und durch eigne Staatsunterstützung unserm Ausfuhr¬
handel an gewerblichen Erzeugnissen thatsächlich verschlossen, zumal da auch
der Zolltarif des Handelvertrags einen Wettbewerb mit dem dortigen heimischen
Markt verbietet. Wir gewähren also zum Schaden für unsre notleidende
Landwirtschaft den ungarischen Naturerzeugnissen Aufnahme ohne Gegen¬
leistungen auf industriellem Gebiet. Ein mitteleuropäisches Zollbündnis würde
daher auch nur Ungarn nützen, da dadurch seine Landwirtschaft ungehindert
den deutschen Markt drücken würde. Die deutsche Landwirtschaft ist sich dieses
Jntereffengegenscitzes noch nicht klar geworden, zumal da deutsche Landwirte selbst
in Ungarn thätig sind und die besondre ungarische Konkurrenz noch nicht er¬
kannt worden ist. Hierzu kommt noch, daß Ungarn landwirtschaftlich noch
nicht ganz erschlossen und einer Steigerung seiner Erzeugnisse wohl fähig ist.
Die liebenswürdigen Redensarten der ungarischen Staatsmänner und Land¬
wirte haben die deutschen Landwirte über den wahren Sachverhalt getäuscht.
Diese Zustände zu Ungunsten des deutscheu Volkstums inner- und außerhalb
des neuen Reiches bestehen zu lassen, würde für uns eine Selbstverleugnung
sein, die aller nationalen Würde Hohn spräche. Ungarn hat schon mehr als
ein Jahrtausend unter deutschem Einfluß gestanden. Schon vor der Ein¬
wanderung der gotischen Stämme saßen germanische Völker in Pannonien.
Die Vandalen in Schlesien und die Markomannen in Böhmen reichten bis an
die Gebirgsründer der Donauebne, die auch später zuerst von deutschen Siedlern
in Besitz genommen wurde. Ohne diese ältern Rechte germanischen Volkstums
und ohne die ununterbrochnem Handelsbeziehungen mit Deutschland hätten die
magyarischen Könige nicht die Hilfe der Deutschen begehrt. Durch die deutschen
Einwanderungen kam nur neues, frisches Volkstum zu ältern, vielfach zertrctnen
germanischen Bestandteilen. (In der Krim leben noch bis zum heutigen Tage
fast reine Goten, die noch vor hundert Jahren ihre germanische Mundart
sprachen.)

Die fortschreitende Magyarisirung Ungarns, wo der herrschende Volks¬
stamm trotz aller Gewaltmaßregeln in der Minderzahl ist, muß im Zusammen¬
hang mit den übrigen dauernden Abbröckelungen des deutschen Volksbodens
beurteilt werden. Was in Österreich unsre gerechte Entrüstung hervorruft,
das darf auch in Ungarn nicht unsre Billigung oder Duldung finden. Der
Grundsatz der Unparteilichkeit ist hier nur eine bequeme Decke für schwächliche
Ruheseligkeit. Eine Diplomatie, die, aus Furcht anzustoßen, nur im alten
Gleis fahren kann, wird freilich mit verschränkten Armen zusehen, wie man
die eignen Volksgenossen national erwürgt, und wie man die Zahl unsrer
Feinde für den Entscheidungskampf zwischen Germanentum, Nomanentum und


Das ungarländische Deutschtum und das Deutsche Reich

Das wirtschaftliche Verhältnis ist gegenwärtig von entscheidenden Werte
bei der Beurteilung allgemein politischer Fragen. Ungarn ist ein wichtiges
Ausfuhrgebiet für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zugleich durch die öster¬
reichische Reichshälfte und durch eigne Staatsunterstützung unserm Ausfuhr¬
handel an gewerblichen Erzeugnissen thatsächlich verschlossen, zumal da auch
der Zolltarif des Handelvertrags einen Wettbewerb mit dem dortigen heimischen
Markt verbietet. Wir gewähren also zum Schaden für unsre notleidende
Landwirtschaft den ungarischen Naturerzeugnissen Aufnahme ohne Gegen¬
leistungen auf industriellem Gebiet. Ein mitteleuropäisches Zollbündnis würde
daher auch nur Ungarn nützen, da dadurch seine Landwirtschaft ungehindert
den deutschen Markt drücken würde. Die deutsche Landwirtschaft ist sich dieses
Jntereffengegenscitzes noch nicht klar geworden, zumal da deutsche Landwirte selbst
in Ungarn thätig sind und die besondre ungarische Konkurrenz noch nicht er¬
kannt worden ist. Hierzu kommt noch, daß Ungarn landwirtschaftlich noch
nicht ganz erschlossen und einer Steigerung seiner Erzeugnisse wohl fähig ist.
Die liebenswürdigen Redensarten der ungarischen Staatsmänner und Land¬
wirte haben die deutschen Landwirte über den wahren Sachverhalt getäuscht.
Diese Zustände zu Ungunsten des deutscheu Volkstums inner- und außerhalb
des neuen Reiches bestehen zu lassen, würde für uns eine Selbstverleugnung
sein, die aller nationalen Würde Hohn spräche. Ungarn hat schon mehr als
ein Jahrtausend unter deutschem Einfluß gestanden. Schon vor der Ein¬
wanderung der gotischen Stämme saßen germanische Völker in Pannonien.
Die Vandalen in Schlesien und die Markomannen in Böhmen reichten bis an
die Gebirgsründer der Donauebne, die auch später zuerst von deutschen Siedlern
in Besitz genommen wurde. Ohne diese ältern Rechte germanischen Volkstums
und ohne die ununterbrochnem Handelsbeziehungen mit Deutschland hätten die
magyarischen Könige nicht die Hilfe der Deutschen begehrt. Durch die deutschen
Einwanderungen kam nur neues, frisches Volkstum zu ältern, vielfach zertrctnen
germanischen Bestandteilen. (In der Krim leben noch bis zum heutigen Tage
fast reine Goten, die noch vor hundert Jahren ihre germanische Mundart
sprachen.)

Die fortschreitende Magyarisirung Ungarns, wo der herrschende Volks¬
stamm trotz aller Gewaltmaßregeln in der Minderzahl ist, muß im Zusammen¬
hang mit den übrigen dauernden Abbröckelungen des deutschen Volksbodens
beurteilt werden. Was in Österreich unsre gerechte Entrüstung hervorruft,
das darf auch in Ungarn nicht unsre Billigung oder Duldung finden. Der
Grundsatz der Unparteilichkeit ist hier nur eine bequeme Decke für schwächliche
Ruheseligkeit. Eine Diplomatie, die, aus Furcht anzustoßen, nur im alten
Gleis fahren kann, wird freilich mit verschränkten Armen zusehen, wie man
die eignen Volksgenossen national erwürgt, und wie man die Zahl unsrer
Feinde für den Entscheidungskampf zwischen Germanentum, Nomanentum und


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[0470] Das ungarländische Deutschtum und das Deutsche Reich Das wirtschaftliche Verhältnis ist gegenwärtig von entscheidenden Werte bei der Beurteilung allgemein politischer Fragen. Ungarn ist ein wichtiges Ausfuhrgebiet für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zugleich durch die öster¬ reichische Reichshälfte und durch eigne Staatsunterstützung unserm Ausfuhr¬ handel an gewerblichen Erzeugnissen thatsächlich verschlossen, zumal da auch der Zolltarif des Handelvertrags einen Wettbewerb mit dem dortigen heimischen Markt verbietet. Wir gewähren also zum Schaden für unsre notleidende Landwirtschaft den ungarischen Naturerzeugnissen Aufnahme ohne Gegen¬ leistungen auf industriellem Gebiet. Ein mitteleuropäisches Zollbündnis würde daher auch nur Ungarn nützen, da dadurch seine Landwirtschaft ungehindert den deutschen Markt drücken würde. Die deutsche Landwirtschaft ist sich dieses Jntereffengegenscitzes noch nicht klar geworden, zumal da deutsche Landwirte selbst in Ungarn thätig sind und die besondre ungarische Konkurrenz noch nicht er¬ kannt worden ist. Hierzu kommt noch, daß Ungarn landwirtschaftlich noch nicht ganz erschlossen und einer Steigerung seiner Erzeugnisse wohl fähig ist. Die liebenswürdigen Redensarten der ungarischen Staatsmänner und Land¬ wirte haben die deutschen Landwirte über den wahren Sachverhalt getäuscht. Diese Zustände zu Ungunsten des deutscheu Volkstums inner- und außerhalb des neuen Reiches bestehen zu lassen, würde für uns eine Selbstverleugnung sein, die aller nationalen Würde Hohn spräche. Ungarn hat schon mehr als ein Jahrtausend unter deutschem Einfluß gestanden. Schon vor der Ein¬ wanderung der gotischen Stämme saßen germanische Völker in Pannonien. Die Vandalen in Schlesien und die Markomannen in Böhmen reichten bis an die Gebirgsründer der Donauebne, die auch später zuerst von deutschen Siedlern in Besitz genommen wurde. Ohne diese ältern Rechte germanischen Volkstums und ohne die ununterbrochnem Handelsbeziehungen mit Deutschland hätten die magyarischen Könige nicht die Hilfe der Deutschen begehrt. Durch die deutschen Einwanderungen kam nur neues, frisches Volkstum zu ältern, vielfach zertrctnen germanischen Bestandteilen. (In der Krim leben noch bis zum heutigen Tage fast reine Goten, die noch vor hundert Jahren ihre germanische Mundart sprachen.) Die fortschreitende Magyarisirung Ungarns, wo der herrschende Volks¬ stamm trotz aller Gewaltmaßregeln in der Minderzahl ist, muß im Zusammen¬ hang mit den übrigen dauernden Abbröckelungen des deutschen Volksbodens beurteilt werden. Was in Österreich unsre gerechte Entrüstung hervorruft, das darf auch in Ungarn nicht unsre Billigung oder Duldung finden. Der Grundsatz der Unparteilichkeit ist hier nur eine bequeme Decke für schwächliche Ruheseligkeit. Eine Diplomatie, die, aus Furcht anzustoßen, nur im alten Gleis fahren kann, wird freilich mit verschränkten Armen zusehen, wie man die eignen Volksgenossen national erwürgt, und wie man die Zahl unsrer Feinde für den Entscheidungskampf zwischen Germanentum, Nomanentum und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/470>, abgerufen am 28.12.2024.