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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Neue Umistlitteratur

zu sein. Sobald wir auf das Gebiet der Seeleneindrücke geraten, läßt sich
auf die wenigsten Fragen eine bestimmte Antwort geben, aber "die Ästhetik ist
darum doch nicht nichts." Denn "wie verschieden sind die Wirkungen der Baum¬
arten, der Tanne, der Buche, der knorrigen Eiche, der gelappten, der gefiederten,
der buchtiger Blätter. Daß sich die Seele mit dem Hohen streckt, mit dem
Hellen freut, mit dem Finstern verfinstert, mit dem Gelben erwärmt, mit dem
Blauen kühlt, das wenigstens wissen wir; es ist eine helldunkle, nicht ganz zu
durchlichtende Welt, aber wir haben den Weg in sie gefunden." An einer andern
Stelle spricht Bischer über das nicht mehr Meßbare. Die Seele kann sich
einfühlen in einen Kreis, ein Quadrat, sie kann in der kahlsten Geometrie
Eindrücke der Wohlgefälligkeit erfahren. "Bloße Formen sind also ästhetisch
wirksam, sofern sie Niederschläge verborgnen innern Lebens sind oder als
solche aufgefaßt werden." Aber dann "überflutet und durchbricht dies innere
Leben seine meßbaren Grenzen und geht so ganz ins Unmeßbare hinaus."
Dies mögen Beispiele theoretischer Erörterungen sein, die bei andern länger,
aber darum doch nicht erschöpfender zu sein Pflegen. Den klugen, schnellen
Witz macht ihm vollends keiner nach. Vlumendüfte affiziren nicht nur sinn¬
lich, sondern auch geistig. Man kann Blumen malen, aber keine Düfte, sie
sollen darum auch nicht "unmittelbar in Funktion treten," wie man z. B. in
Paris bei Gretchens Himmelfahrt in Gounods Faust Wohlgerüche über das
Proszenium verbreitet. "Das ist grobsinnlich. Mephisto würde sagen: gut,
was wollt ihr aber thun, wenn ich auftrete?" Bischer schrieb kein Heft,
sondern machte nur eine sorgfältige Disposition für jede Vorlesung und sprach
dann frei. Daher kommt dieser ungemein frische, natürliche Zug, in dem uns
alles vorgetragen wird. Er hatte auch nicht gern, wenn seine Zuhörer nach¬
schrieben, sie sollten ihn ansehen und mit ihm denken. "Eine Rede ist ein
für allemal keine Schreibe." Aber daß sie als "Lese" einen großen Eindruck
machen kann, davon wird sich jeder leicht überzeugen.

Von der Wiedergeburt deutscher Kunst, Grundsätze und Vorschläge
von Dr. Siegmar Schultze, Privatdozent (Berlin, Karl Duncker), ist der
vielverheißende Titel eines Heftchens, das unter lauter ebenso klangvollen
Überschriften kleine Abschnitte ganz allgemeiner Tiraden mit den bekannten
Schlagwörtern: Volksseele, Plakatkunst, künstlerische Erziehung usw. enthält.
Es klingt ja komisch, wenn ein junger Mensch auf 84 Seiten auseinandersetzt,
was die Kunst, der Künstler, das Volk, das Leben usw. nicht sind, und was
sie alle nach seiner Auffassung erst wieder werden müssen und nach seinen An-
weisungen zum Teil auch werden können. Es kann ja auch Leser geben, die
sich beim Lesen solcher Redensarten etwas vorzustellen glauben. Wir gönnen
jedem sein Vergnügen und meinen nur unmaßgeblich, ein deutscher Privat¬
dozent sollte nicht "Phydicis" schreiben, auch wenn er etwa kein Gymnasium
durchgemacht hätte.


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zu sein. Sobald wir auf das Gebiet der Seeleneindrücke geraten, läßt sich
auf die wenigsten Fragen eine bestimmte Antwort geben, aber „die Ästhetik ist
darum doch nicht nichts." Denn „wie verschieden sind die Wirkungen der Baum¬
arten, der Tanne, der Buche, der knorrigen Eiche, der gelappten, der gefiederten,
der buchtiger Blätter. Daß sich die Seele mit dem Hohen streckt, mit dem
Hellen freut, mit dem Finstern verfinstert, mit dem Gelben erwärmt, mit dem
Blauen kühlt, das wenigstens wissen wir; es ist eine helldunkle, nicht ganz zu
durchlichtende Welt, aber wir haben den Weg in sie gefunden." An einer andern
Stelle spricht Bischer über das nicht mehr Meßbare. Die Seele kann sich
einfühlen in einen Kreis, ein Quadrat, sie kann in der kahlsten Geometrie
Eindrücke der Wohlgefälligkeit erfahren. „Bloße Formen sind also ästhetisch
wirksam, sofern sie Niederschläge verborgnen innern Lebens sind oder als
solche aufgefaßt werden." Aber dann „überflutet und durchbricht dies innere
Leben seine meßbaren Grenzen und geht so ganz ins Unmeßbare hinaus."
Dies mögen Beispiele theoretischer Erörterungen sein, die bei andern länger,
aber darum doch nicht erschöpfender zu sein Pflegen. Den klugen, schnellen
Witz macht ihm vollends keiner nach. Vlumendüfte affiziren nicht nur sinn¬
lich, sondern auch geistig. Man kann Blumen malen, aber keine Düfte, sie
sollen darum auch nicht „unmittelbar in Funktion treten," wie man z. B. in
Paris bei Gretchens Himmelfahrt in Gounods Faust Wohlgerüche über das
Proszenium verbreitet. „Das ist grobsinnlich. Mephisto würde sagen: gut,
was wollt ihr aber thun, wenn ich auftrete?" Bischer schrieb kein Heft,
sondern machte nur eine sorgfältige Disposition für jede Vorlesung und sprach
dann frei. Daher kommt dieser ungemein frische, natürliche Zug, in dem uns
alles vorgetragen wird. Er hatte auch nicht gern, wenn seine Zuhörer nach¬
schrieben, sie sollten ihn ansehen und mit ihm denken. „Eine Rede ist ein
für allemal keine Schreibe." Aber daß sie als „Lese" einen großen Eindruck
machen kann, davon wird sich jeder leicht überzeugen.

Von der Wiedergeburt deutscher Kunst, Grundsätze und Vorschläge
von Dr. Siegmar Schultze, Privatdozent (Berlin, Karl Duncker), ist der
vielverheißende Titel eines Heftchens, das unter lauter ebenso klangvollen
Überschriften kleine Abschnitte ganz allgemeiner Tiraden mit den bekannten
Schlagwörtern: Volksseele, Plakatkunst, künstlerische Erziehung usw. enthält.
Es klingt ja komisch, wenn ein junger Mensch auf 84 Seiten auseinandersetzt,
was die Kunst, der Künstler, das Volk, das Leben usw. nicht sind, und was
sie alle nach seiner Auffassung erst wieder werden müssen und nach seinen An-
weisungen zum Teil auch werden können. Es kann ja auch Leser geben, die
sich beim Lesen solcher Redensarten etwas vorzustellen glauben. Wir gönnen
jedem sein Vergnügen und meinen nur unmaßgeblich, ein deutscher Privat¬
dozent sollte nicht „Phydicis" schreiben, auch wenn er etwa kein Gymnasium
durchgemacht hätte.


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[0454] Neue Umistlitteratur zu sein. Sobald wir auf das Gebiet der Seeleneindrücke geraten, läßt sich auf die wenigsten Fragen eine bestimmte Antwort geben, aber „die Ästhetik ist darum doch nicht nichts." Denn „wie verschieden sind die Wirkungen der Baum¬ arten, der Tanne, der Buche, der knorrigen Eiche, der gelappten, der gefiederten, der buchtiger Blätter. Daß sich die Seele mit dem Hohen streckt, mit dem Hellen freut, mit dem Finstern verfinstert, mit dem Gelben erwärmt, mit dem Blauen kühlt, das wenigstens wissen wir; es ist eine helldunkle, nicht ganz zu durchlichtende Welt, aber wir haben den Weg in sie gefunden." An einer andern Stelle spricht Bischer über das nicht mehr Meßbare. Die Seele kann sich einfühlen in einen Kreis, ein Quadrat, sie kann in der kahlsten Geometrie Eindrücke der Wohlgefälligkeit erfahren. „Bloße Formen sind also ästhetisch wirksam, sofern sie Niederschläge verborgnen innern Lebens sind oder als solche aufgefaßt werden." Aber dann „überflutet und durchbricht dies innere Leben seine meßbaren Grenzen und geht so ganz ins Unmeßbare hinaus." Dies mögen Beispiele theoretischer Erörterungen sein, die bei andern länger, aber darum doch nicht erschöpfender zu sein Pflegen. Den klugen, schnellen Witz macht ihm vollends keiner nach. Vlumendüfte affiziren nicht nur sinn¬ lich, sondern auch geistig. Man kann Blumen malen, aber keine Düfte, sie sollen darum auch nicht „unmittelbar in Funktion treten," wie man z. B. in Paris bei Gretchens Himmelfahrt in Gounods Faust Wohlgerüche über das Proszenium verbreitet. „Das ist grobsinnlich. Mephisto würde sagen: gut, was wollt ihr aber thun, wenn ich auftrete?" Bischer schrieb kein Heft, sondern machte nur eine sorgfältige Disposition für jede Vorlesung und sprach dann frei. Daher kommt dieser ungemein frische, natürliche Zug, in dem uns alles vorgetragen wird. Er hatte auch nicht gern, wenn seine Zuhörer nach¬ schrieben, sie sollten ihn ansehen und mit ihm denken. „Eine Rede ist ein für allemal keine Schreibe." Aber daß sie als „Lese" einen großen Eindruck machen kann, davon wird sich jeder leicht überzeugen. Von der Wiedergeburt deutscher Kunst, Grundsätze und Vorschläge von Dr. Siegmar Schultze, Privatdozent (Berlin, Karl Duncker), ist der vielverheißende Titel eines Heftchens, das unter lauter ebenso klangvollen Überschriften kleine Abschnitte ganz allgemeiner Tiraden mit den bekannten Schlagwörtern: Volksseele, Plakatkunst, künstlerische Erziehung usw. enthält. Es klingt ja komisch, wenn ein junger Mensch auf 84 Seiten auseinandersetzt, was die Kunst, der Künstler, das Volk, das Leben usw. nicht sind, und was sie alle nach seiner Auffassung erst wieder werden müssen und nach seinen An- weisungen zum Teil auch werden können. Es kann ja auch Leser geben, die sich beim Lesen solcher Redensarten etwas vorzustellen glauben. Wir gönnen jedem sein Vergnügen und meinen nur unmaßgeblich, ein deutscher Privat¬ dozent sollte nicht „Phydicis" schreiben, auch wenn er etwa kein Gymnasium durchgemacht hätte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/454>, abgerufen am 27.12.2024.