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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

Zeit bezeugen. Endlich erinnert Nietzsche daran, daß es keine Grausamkeit
giebt, die sich mit der Grausamkeit der christlichen Vorstellung von der Hölle
vergleichen ließe, erinnert er an den Geist der Grausamkeit, der aus der
Apokalypse spreche, und daß dieses Buch gerade dem Jünger der Liebe zuge¬
schrieben werde, und wie grausam Thomas von Aquin sei, der von den
Seligen des Himmels sage: sie werden die Strafen der Verdammten schauen,
damit sie ihre Seligkeit desto wonniger empfinden.

Merkwürdig, wie Nietzsche am Christentum alles abscheulich findet, auch
das, was er eigentlich schön finden müßte! Er hatte sich vorgenommen, die
weichliche Mitleidmoral zu bekämpfen und der von der Heuchelei verschleierten
Bestie wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen; wie er aber im Christentum die
allerschönste und allerwildeste Grausamkeit zu entdecken glaubt, ruft er nicht
Beifall, sondern überhäuft er es mit Schmähungen; solche nämlich begleiten
die zuletzt erwähnten Bemerkungen über das Christentum. Ich bin überzeugt,
daß er das Neue Testament seit seiner Jugend nicht mehr angerührt und
alles, was er dagegen vorgebracht hat, nur aus undeutlicher Erinnerung ge¬
schrieben hat. Hätte er das Neue Testament und Luther gründlich gekannt,
so würde er bemerkt haben, daß er mit seinem Kampfe gegen die Moral und
mit seiner Umwertung aller Werte neunzehnhundert oder wenigstens dreihundert
Jahre zu spät gekommen sei. War es nicht das, was Christus ans Kreuz
gebracht hat, daß er notorische Sünder und Sünderinnen um sich sammelte,
Ehebrecherinnen begnadigte, die korrekten Moralmenschen dagegen in die Hölle
verwies? Gab er nicht dem Verlornen Sohne, der sein Erbteil mit Dirnen
durchgebracht hatte, den Vorzug vor dem Musterknaben? Hat er nicht noch
am Kreuze dem Schächer zur Rechten gesagt: Heute wirst du mit mir im
Paradiese sein, ohne über den andern, den lästernden Schächer, ein Verdam¬
mungsurteil auszusprechen? War es nicht der Kern der Lehre des Paulus,
daß es mit der Gerechtigkeit des Menschen nichts sei, und daß wir alle ohne
Ausnahme in die Hölle kämen, wenn unsre Gerechtigkeit es wäre, was unser
Los in der Ewigkeit entschiede, und hat er nicht das Gesetz mit seinem: Du
sollst!, das Nietzsche" so sehr verhaßt ist, einfach für abgeschafft erklärt? Und
hat Luther nicht diese Lehre, die als sehr gefährlich allezeit in der Christen¬
heit möglichst verhüllt wird, mit der ihm eignen Rücksichtslosigkeit wieder auf¬
gedeckt? Merkwürdigerweise hat Nietzsche selbst diese Bedeutung der Paulinisch-
Lutherischen Lehre erwogen (IV, 66), ohne daß ihn dieses Wiederfinden seines
Ich in Paulus mit diesem ausgesöhnt Hütte.




Friedrich Nietzsche

Zeit bezeugen. Endlich erinnert Nietzsche daran, daß es keine Grausamkeit
giebt, die sich mit der Grausamkeit der christlichen Vorstellung von der Hölle
vergleichen ließe, erinnert er an den Geist der Grausamkeit, der aus der
Apokalypse spreche, und daß dieses Buch gerade dem Jünger der Liebe zuge¬
schrieben werde, und wie grausam Thomas von Aquin sei, der von den
Seligen des Himmels sage: sie werden die Strafen der Verdammten schauen,
damit sie ihre Seligkeit desto wonniger empfinden.

Merkwürdig, wie Nietzsche am Christentum alles abscheulich findet, auch
das, was er eigentlich schön finden müßte! Er hatte sich vorgenommen, die
weichliche Mitleidmoral zu bekämpfen und der von der Heuchelei verschleierten
Bestie wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen; wie er aber im Christentum die
allerschönste und allerwildeste Grausamkeit zu entdecken glaubt, ruft er nicht
Beifall, sondern überhäuft er es mit Schmähungen; solche nämlich begleiten
die zuletzt erwähnten Bemerkungen über das Christentum. Ich bin überzeugt,
daß er das Neue Testament seit seiner Jugend nicht mehr angerührt und
alles, was er dagegen vorgebracht hat, nur aus undeutlicher Erinnerung ge¬
schrieben hat. Hätte er das Neue Testament und Luther gründlich gekannt,
so würde er bemerkt haben, daß er mit seinem Kampfe gegen die Moral und
mit seiner Umwertung aller Werte neunzehnhundert oder wenigstens dreihundert
Jahre zu spät gekommen sei. War es nicht das, was Christus ans Kreuz
gebracht hat, daß er notorische Sünder und Sünderinnen um sich sammelte,
Ehebrecherinnen begnadigte, die korrekten Moralmenschen dagegen in die Hölle
verwies? Gab er nicht dem Verlornen Sohne, der sein Erbteil mit Dirnen
durchgebracht hatte, den Vorzug vor dem Musterknaben? Hat er nicht noch
am Kreuze dem Schächer zur Rechten gesagt: Heute wirst du mit mir im
Paradiese sein, ohne über den andern, den lästernden Schächer, ein Verdam¬
mungsurteil auszusprechen? War es nicht der Kern der Lehre des Paulus,
daß es mit der Gerechtigkeit des Menschen nichts sei, und daß wir alle ohne
Ausnahme in die Hölle kämen, wenn unsre Gerechtigkeit es wäre, was unser
Los in der Ewigkeit entschiede, und hat er nicht das Gesetz mit seinem: Du
sollst!, das Nietzsche« so sehr verhaßt ist, einfach für abgeschafft erklärt? Und
hat Luther nicht diese Lehre, die als sehr gefährlich allezeit in der Christen¬
heit möglichst verhüllt wird, mit der ihm eignen Rücksichtslosigkeit wieder auf¬
gedeckt? Merkwürdigerweise hat Nietzsche selbst diese Bedeutung der Paulinisch-
Lutherischen Lehre erwogen (IV, 66), ohne daß ihn dieses Wiederfinden seines
Ich in Paulus mit diesem ausgesöhnt Hütte.




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[0452] Friedrich Nietzsche Zeit bezeugen. Endlich erinnert Nietzsche daran, daß es keine Grausamkeit giebt, die sich mit der Grausamkeit der christlichen Vorstellung von der Hölle vergleichen ließe, erinnert er an den Geist der Grausamkeit, der aus der Apokalypse spreche, und daß dieses Buch gerade dem Jünger der Liebe zuge¬ schrieben werde, und wie grausam Thomas von Aquin sei, der von den Seligen des Himmels sage: sie werden die Strafen der Verdammten schauen, damit sie ihre Seligkeit desto wonniger empfinden. Merkwürdig, wie Nietzsche am Christentum alles abscheulich findet, auch das, was er eigentlich schön finden müßte! Er hatte sich vorgenommen, die weichliche Mitleidmoral zu bekämpfen und der von der Heuchelei verschleierten Bestie wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen; wie er aber im Christentum die allerschönste und allerwildeste Grausamkeit zu entdecken glaubt, ruft er nicht Beifall, sondern überhäuft er es mit Schmähungen; solche nämlich begleiten die zuletzt erwähnten Bemerkungen über das Christentum. Ich bin überzeugt, daß er das Neue Testament seit seiner Jugend nicht mehr angerührt und alles, was er dagegen vorgebracht hat, nur aus undeutlicher Erinnerung ge¬ schrieben hat. Hätte er das Neue Testament und Luther gründlich gekannt, so würde er bemerkt haben, daß er mit seinem Kampfe gegen die Moral und mit seiner Umwertung aller Werte neunzehnhundert oder wenigstens dreihundert Jahre zu spät gekommen sei. War es nicht das, was Christus ans Kreuz gebracht hat, daß er notorische Sünder und Sünderinnen um sich sammelte, Ehebrecherinnen begnadigte, die korrekten Moralmenschen dagegen in die Hölle verwies? Gab er nicht dem Verlornen Sohne, der sein Erbteil mit Dirnen durchgebracht hatte, den Vorzug vor dem Musterknaben? Hat er nicht noch am Kreuze dem Schächer zur Rechten gesagt: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein, ohne über den andern, den lästernden Schächer, ein Verdam¬ mungsurteil auszusprechen? War es nicht der Kern der Lehre des Paulus, daß es mit der Gerechtigkeit des Menschen nichts sei, und daß wir alle ohne Ausnahme in die Hölle kämen, wenn unsre Gerechtigkeit es wäre, was unser Los in der Ewigkeit entschiede, und hat er nicht das Gesetz mit seinem: Du sollst!, das Nietzsche« so sehr verhaßt ist, einfach für abgeschafft erklärt? Und hat Luther nicht diese Lehre, die als sehr gefährlich allezeit in der Christen¬ heit möglichst verhüllt wird, mit der ihm eignen Rücksichtslosigkeit wieder auf¬ gedeckt? Merkwürdigerweise hat Nietzsche selbst diese Bedeutung der Paulinisch- Lutherischen Lehre erwogen (IV, 66), ohne daß ihn dieses Wiederfinden seines Ich in Paulus mit diesem ausgesöhnt Hütte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/452>, abgerufen am 27.12.2024.