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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

glauben im Grunde nur daran, daß Polizei notwendig ist." Oder IV, 213:
Man sehe einem Menschen im Leben viel nach, wenn er sich nur zur strengsten
Theorie der Moral bekenne; dagegen beobachte man das Leben des erklärten
Freigeists durch das Mikroskop, um Fehltritte zu entdecken und damit die
Falschheit der Theorie des Gegners zu beweisen.

Die andre Gedankenreihe bildet den Gegensatz gegen den platten Mili¬
tarismus, der in der Begründung der Moral eine so große Rolle spielt. Nur
in außerordentlich engen Lebenskreisen kann die Ansicht aufkommen, daß das
Moralische das allgemein Nützliche sei. Häufig genug ist der Fall, daß die
Herrschenden zwar das ihnen, aber keineswegs das ihren Untergebnen Nützliche
diesen als das allgemein Nützliche einzureden suchen, und manchmal haben sie
damit Erfolg. Bei weiteren Umblick sieht man, daß es ein allen gleichmäßig
Nützliches gar nicht geben kann, weil ja die Interessen einander widerstreiten
und des einen Nutzen meist eines andern Schaden ist, und daß sür die Er¬
haltung des Einzelnen, der Gemeinde, des Volkes bald das, was man gut
nennt, bald das sogenannte Böse förderlich ist. ^ustitia kunäÄiusnwm, rvg'Qoruin
klingt sehr schön, aber um die Gerechtigkeit der Weltmächte, die teils durch
Eroberung, teils durch Handel emporgekommen sind, sieht es windig aus, und
einem kleinen Staate, den ein mächtiger Nachbar zu verspeisen Appetit hat,
hilft alle seine Gerechtigkeit nichts. Überdies hat sich alle menschliche Tugend
im Kampfe mit ihrem Gegenteil entwickelt, ohne das sogar ihr Begriff fehlen
würde, sodaß man in der That mit Nietzsche sagen kann, alle Tugend habe
sich aus Lastern entwickelt. Und endlich wechselt der Begriff der Tugend
selbst; der größte und auffälligste, geradezu weltgeschichtliche vou diesen Begriffs¬
wechseln besteht darin, daß die Tugenden der heroischen Zeitalter in den bürger¬
lichen und zahmen Zeitaltern zu Lastern gestempelt werden, während um¬
gekehrt die Krämermoral dem Ritter verächtlich erscheint. Der Lärm um das
Duell wird dadurch verursacht, daß heute die beiden verschiednen Moralen,
die erste allerdings sehr abgeschwächt, neben einander bestehen. Richard Löwen¬
herz ließ am 20. August 1191 vor den Thoren von Akkon 2600 Geiseln nieder¬
metzeln. In der Erzählung dieser Schandthat -- wie wir Heutigen so etwas
zu nennen pflegen -- berichtet ein frommer Chronist (ich kann nicht finden,
welcher): "Des Königs Ritter stürzten sich auf die Geiseln, voll Begier, seinen
Willen zu erfüllen, und voll Dank gegen Gott, der ihnen eine solche Rache
gönnte." Für was alles haben nicht schon fromme und tugendhafte Christen
Gott gedankt! Das alles hat nun Nietzsche erwogen und damit noch eine
andre Reihe von Betrachtungen verbunden. Er spottet VII, 186 über die
Milch der frommen Denkungsart und fährt fort: "Fast alles, was wir höhere
Kultur nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit;
das ^vom Bildungsphilister gefürchtete und verabscheut^ wilde Tier ist gar
nicht abgetötet worden, es lebt, es blüht, es hat sich mir -- vergöttlicht.


Friedrich Nietzsche

glauben im Grunde nur daran, daß Polizei notwendig ist." Oder IV, 213:
Man sehe einem Menschen im Leben viel nach, wenn er sich nur zur strengsten
Theorie der Moral bekenne; dagegen beobachte man das Leben des erklärten
Freigeists durch das Mikroskop, um Fehltritte zu entdecken und damit die
Falschheit der Theorie des Gegners zu beweisen.

Die andre Gedankenreihe bildet den Gegensatz gegen den platten Mili¬
tarismus, der in der Begründung der Moral eine so große Rolle spielt. Nur
in außerordentlich engen Lebenskreisen kann die Ansicht aufkommen, daß das
Moralische das allgemein Nützliche sei. Häufig genug ist der Fall, daß die
Herrschenden zwar das ihnen, aber keineswegs das ihren Untergebnen Nützliche
diesen als das allgemein Nützliche einzureden suchen, und manchmal haben sie
damit Erfolg. Bei weiteren Umblick sieht man, daß es ein allen gleichmäßig
Nützliches gar nicht geben kann, weil ja die Interessen einander widerstreiten
und des einen Nutzen meist eines andern Schaden ist, und daß sür die Er¬
haltung des Einzelnen, der Gemeinde, des Volkes bald das, was man gut
nennt, bald das sogenannte Böse förderlich ist. ^ustitia kunäÄiusnwm, rvg'Qoruin
klingt sehr schön, aber um die Gerechtigkeit der Weltmächte, die teils durch
Eroberung, teils durch Handel emporgekommen sind, sieht es windig aus, und
einem kleinen Staate, den ein mächtiger Nachbar zu verspeisen Appetit hat,
hilft alle seine Gerechtigkeit nichts. Überdies hat sich alle menschliche Tugend
im Kampfe mit ihrem Gegenteil entwickelt, ohne das sogar ihr Begriff fehlen
würde, sodaß man in der That mit Nietzsche sagen kann, alle Tugend habe
sich aus Lastern entwickelt. Und endlich wechselt der Begriff der Tugend
selbst; der größte und auffälligste, geradezu weltgeschichtliche vou diesen Begriffs¬
wechseln besteht darin, daß die Tugenden der heroischen Zeitalter in den bürger¬
lichen und zahmen Zeitaltern zu Lastern gestempelt werden, während um¬
gekehrt die Krämermoral dem Ritter verächtlich erscheint. Der Lärm um das
Duell wird dadurch verursacht, daß heute die beiden verschiednen Moralen,
die erste allerdings sehr abgeschwächt, neben einander bestehen. Richard Löwen¬
herz ließ am 20. August 1191 vor den Thoren von Akkon 2600 Geiseln nieder¬
metzeln. In der Erzählung dieser Schandthat — wie wir Heutigen so etwas
zu nennen pflegen — berichtet ein frommer Chronist (ich kann nicht finden,
welcher): „Des Königs Ritter stürzten sich auf die Geiseln, voll Begier, seinen
Willen zu erfüllen, und voll Dank gegen Gott, der ihnen eine solche Rache
gönnte." Für was alles haben nicht schon fromme und tugendhafte Christen
Gott gedankt! Das alles hat nun Nietzsche erwogen und damit noch eine
andre Reihe von Betrachtungen verbunden. Er spottet VII, 186 über die
Milch der frommen Denkungsart und fährt fort: „Fast alles, was wir höhere
Kultur nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit;
das ^vom Bildungsphilister gefürchtete und verabscheut^ wilde Tier ist gar
nicht abgetötet worden, es lebt, es blüht, es hat sich mir — vergöttlicht.


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[0450] Friedrich Nietzsche glauben im Grunde nur daran, daß Polizei notwendig ist." Oder IV, 213: Man sehe einem Menschen im Leben viel nach, wenn er sich nur zur strengsten Theorie der Moral bekenne; dagegen beobachte man das Leben des erklärten Freigeists durch das Mikroskop, um Fehltritte zu entdecken und damit die Falschheit der Theorie des Gegners zu beweisen. Die andre Gedankenreihe bildet den Gegensatz gegen den platten Mili¬ tarismus, der in der Begründung der Moral eine so große Rolle spielt. Nur in außerordentlich engen Lebenskreisen kann die Ansicht aufkommen, daß das Moralische das allgemein Nützliche sei. Häufig genug ist der Fall, daß die Herrschenden zwar das ihnen, aber keineswegs das ihren Untergebnen Nützliche diesen als das allgemein Nützliche einzureden suchen, und manchmal haben sie damit Erfolg. Bei weiteren Umblick sieht man, daß es ein allen gleichmäßig Nützliches gar nicht geben kann, weil ja die Interessen einander widerstreiten und des einen Nutzen meist eines andern Schaden ist, und daß sür die Er¬ haltung des Einzelnen, der Gemeinde, des Volkes bald das, was man gut nennt, bald das sogenannte Böse förderlich ist. ^ustitia kunäÄiusnwm, rvg'Qoruin klingt sehr schön, aber um die Gerechtigkeit der Weltmächte, die teils durch Eroberung, teils durch Handel emporgekommen sind, sieht es windig aus, und einem kleinen Staate, den ein mächtiger Nachbar zu verspeisen Appetit hat, hilft alle seine Gerechtigkeit nichts. Überdies hat sich alle menschliche Tugend im Kampfe mit ihrem Gegenteil entwickelt, ohne das sogar ihr Begriff fehlen würde, sodaß man in der That mit Nietzsche sagen kann, alle Tugend habe sich aus Lastern entwickelt. Und endlich wechselt der Begriff der Tugend selbst; der größte und auffälligste, geradezu weltgeschichtliche vou diesen Begriffs¬ wechseln besteht darin, daß die Tugenden der heroischen Zeitalter in den bürger¬ lichen und zahmen Zeitaltern zu Lastern gestempelt werden, während um¬ gekehrt die Krämermoral dem Ritter verächtlich erscheint. Der Lärm um das Duell wird dadurch verursacht, daß heute die beiden verschiednen Moralen, die erste allerdings sehr abgeschwächt, neben einander bestehen. Richard Löwen¬ herz ließ am 20. August 1191 vor den Thoren von Akkon 2600 Geiseln nieder¬ metzeln. In der Erzählung dieser Schandthat — wie wir Heutigen so etwas zu nennen pflegen — berichtet ein frommer Chronist (ich kann nicht finden, welcher): „Des Königs Ritter stürzten sich auf die Geiseln, voll Begier, seinen Willen zu erfüllen, und voll Dank gegen Gott, der ihnen eine solche Rache gönnte." Für was alles haben nicht schon fromme und tugendhafte Christen Gott gedankt! Das alles hat nun Nietzsche erwogen und damit noch eine andre Reihe von Betrachtungen verbunden. Er spottet VII, 186 über die Milch der frommen Denkungsart und fährt fort: „Fast alles, was wir höhere Kultur nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit; das ^vom Bildungsphilister gefürchtete und verabscheut^ wilde Tier ist gar nicht abgetötet worden, es lebt, es blüht, es hat sich mir — vergöttlicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/450>, abgerufen am 28.12.2024.