Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Friedrich Nietzsche Mord nicht aushalten; langes oder kürzeres Siechtum und Untergang wäre Friedrich Nietzsche Mord nicht aushalten; langes oder kürzeres Siechtum und Untergang wäre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0448" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/228084"/> <fw type="header" place="top"> Friedrich Nietzsche</fw><lb/> <p xml:id="ID_1233" prev="#ID_1232" next="#ID_1234"> Mord nicht aushalten; langes oder kürzeres Siechtum und Untergang wäre<lb/> mein Los, ganz abgesehn vom Bekanntwerden der Unthat und von der Be¬<lb/> strafung derselben" (XII, 177). Auch erkannte er die historische Berechtigung,<lb/> ja die Notwendigkeit dessen, was man gewöhnlich Moral nennt, vollauf an.<lb/> Das einemal nennt er sie eine unentbehrliche Notlüge. Unter der Spitzmarke:<lb/> Das Übertier, schreibt er (II, 65): „Die Bestie in uns will belogen werden;<lb/> Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irr¬<lb/> tümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Tier<lb/> geblieben. So aber hat er sich als etwas höheres genommen und sich strengere<lb/> Gesetze auferlegt. Er hat deshalb einen Haß gegen die der Tierheit näher ge-<lb/> bliebner Stufen, woraus die ehemalige Mißachtung des Sklaven, als eines Noch-<lb/> nicht-menschen, als einer Sache zu erklären ist." Er erkennt die Moral an als ein<lb/> Mittel, sowohl die Gattung als die Gemeinde zu veredeln und diese auf einer<lb/> gewissen Höhe zu erhalten (III, 207 und öfter). Jede Moral, schreibt er VII, 116,<lb/> „ist, im Gegensatz zum Iai8hör Msr, ein Stück Tyrannei gegen die Natur, auch<lb/> gegen die Vernunft; das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müßte<lb/> denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, daß alle Art<lb/> Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare<lb/> an jeder Moral ist, daß sie ein langer Zwang ist: um den Stoizismus oder<lb/> Port-Royal oder das Puritanertum zu verstehen, mag man sich des Zwangs<lb/> erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht,<lb/> des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus." Ein ander¬<lb/> mal meint er, es sei Grausamkeit notwendig, dem faseligen Menschentier Ge¬<lb/> dächtnis, die Grundbedingung des menschlichen Lebens, beizubringen, und<lb/> IV, 24 erwähnt er die wunderlichen Sitten der Naturvölker, z. B. daß dem<lb/> Kamtschadalen bei Todesstrafe verboten ist, den Schnee von den Schuhen mit<lb/> einem Messer abzuschaben; solche im übrigen zwecklose und daher unvernünftig<lb/> scheinende Gebote schienen nur den Zweck zu haben, überhaupt eine Sitte zu<lb/> begründen; sie beruhten also auf der Überzeugung, daß das Menschenleben nach<lb/> irgend einer festgesetzten Ordnung verlaufen müsse, und seien eine „Bekräftigung<lb/> des großen Satzes, mit dem jede Zivilisation beginnt: jede Sitte ist besser als<lb/> keine Sitte." Ein Gedanke, nebenbei bemerkt, von dem aus auch auf das<lb/> Verbot im Paradiese ein neues Licht fällt. Und er findet sogar, daß die Be¬<lb/> folgung der Sitte den Menschen schön mache; denn sie lasse bei dem, der sich<lb/> ihr ganz unterwirft, die Angriffs- und Verteidignngsorgcme verkümmern; deren<lb/> Übung und die entsprechende Gesinnung nämlich sei es, die häßlich machten.<lb/> Darum sei der alte Pavian häßlicher als der junge, und der junge weibliche<lb/> Pavian sei dem Menschen am ähnlichsten, also am schönsten; und er sügt<lb/> hinzu: Hiernach mache man einen Schluß auf den Ursprung der Schönheit<lb/> der Weiber (IV, 32). Sehr richtig! Wenn die Emanzipation durchgeführt<lb/> und das ganze weibliche Geschlecht in den Kampf ums Dasein hineingestoßen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0448]
Friedrich Nietzsche
Mord nicht aushalten; langes oder kürzeres Siechtum und Untergang wäre
mein Los, ganz abgesehn vom Bekanntwerden der Unthat und von der Be¬
strafung derselben" (XII, 177). Auch erkannte er die historische Berechtigung,
ja die Notwendigkeit dessen, was man gewöhnlich Moral nennt, vollauf an.
Das einemal nennt er sie eine unentbehrliche Notlüge. Unter der Spitzmarke:
Das Übertier, schreibt er (II, 65): „Die Bestie in uns will belogen werden;
Moral ist Notlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irr¬
tümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Tier
geblieben. So aber hat er sich als etwas höheres genommen und sich strengere
Gesetze auferlegt. Er hat deshalb einen Haß gegen die der Tierheit näher ge-
bliebner Stufen, woraus die ehemalige Mißachtung des Sklaven, als eines Noch-
nicht-menschen, als einer Sache zu erklären ist." Er erkennt die Moral an als ein
Mittel, sowohl die Gattung als die Gemeinde zu veredeln und diese auf einer
gewissen Höhe zu erhalten (III, 207 und öfter). Jede Moral, schreibt er VII, 116,
„ist, im Gegensatz zum Iai8hör Msr, ein Stück Tyrannei gegen die Natur, auch
gegen die Vernunft; das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müßte
denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, daß alle Art
Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare
an jeder Moral ist, daß sie ein langer Zwang ist: um den Stoizismus oder
Port-Royal oder das Puritanertum zu verstehen, mag man sich des Zwangs
erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht,
des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus." Ein ander¬
mal meint er, es sei Grausamkeit notwendig, dem faseligen Menschentier Ge¬
dächtnis, die Grundbedingung des menschlichen Lebens, beizubringen, und
IV, 24 erwähnt er die wunderlichen Sitten der Naturvölker, z. B. daß dem
Kamtschadalen bei Todesstrafe verboten ist, den Schnee von den Schuhen mit
einem Messer abzuschaben; solche im übrigen zwecklose und daher unvernünftig
scheinende Gebote schienen nur den Zweck zu haben, überhaupt eine Sitte zu
begründen; sie beruhten also auf der Überzeugung, daß das Menschenleben nach
irgend einer festgesetzten Ordnung verlaufen müsse, und seien eine „Bekräftigung
des großen Satzes, mit dem jede Zivilisation beginnt: jede Sitte ist besser als
keine Sitte." Ein Gedanke, nebenbei bemerkt, von dem aus auch auf das
Verbot im Paradiese ein neues Licht fällt. Und er findet sogar, daß die Be¬
folgung der Sitte den Menschen schön mache; denn sie lasse bei dem, der sich
ihr ganz unterwirft, die Angriffs- und Verteidignngsorgcme verkümmern; deren
Übung und die entsprechende Gesinnung nämlich sei es, die häßlich machten.
Darum sei der alte Pavian häßlicher als der junge, und der junge weibliche
Pavian sei dem Menschen am ähnlichsten, also am schönsten; und er sügt
hinzu: Hiernach mache man einen Schluß auf den Ursprung der Schönheit
der Weiber (IV, 32). Sehr richtig! Wenn die Emanzipation durchgeführt
und das ganze weibliche Geschlecht in den Kampf ums Dasein hineingestoßen
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