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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

mählich und ihm selbst unbemerkt erstorben sein, wie das bei den gebildeten
Jünglingen jener Zeit ganz allgemein der Fall war. Die deutsche Philosophie
von Kant bis Schopenhauer hatte Gott beseitigt -- von dem einzigen Theisten,
Herbart, fanden nnr die psychologischen und die pädagogischen Schriften ein
größeres Publikum --, und in jedem Kreise, der auf moderne Bildung An¬
spruch machte, galt es als selbstverständlich, daß der Glaube an Gott nur als
Volksaberglaube zu dulden sei; ja die für die moderne Bildung begeisterten
arbeiteten daran, ihn auch im Volke auszurotten. Wenn Nietzsche einmal an¬
deutet, daß der Verkehr mit den Pastorenfamilien seiner Verwandtschaft, so
gutmütig, rechtschaffen und tüchtig sie auch waren, den Hang zur Verneinung
eher gefördert als gehemmt habe, so entspricht das ja einer Erfahrung, die
man häufig macht. Zweifel bleiben keinem Denkenden erspart, und die Frage,
die die alte Kirche jahrhundertelang in Aufruhr versetzt hatte: woher das
Böse? quälte ihn schon als Dreizehnjährigen (VII, 289). Der Verlauf solcher
Prozesse hängt sehr vom Temperament und von persönlichen Erfahrungen ab.
Ein junger Mann, der alles ernst und schwer nimmt und sich in jeden Fall
tief eingrübelt, findet natürlich weit mehr Schlimmes in der Welt, als ein
leichtsinniger Genußmensch, und so kann es weiter nicht verwundern, wenn
Nietzsche findet, falls Gott existire, könne er nicht gut sein, und wenn er
Zarathustra (VI, 379) sagen läßt: "Zu vieles mißriet ihm, diesem Töpfer,
der nicht ausgelernt hatte! Daß er aber Rache an seinen Töpfen und Ge¬
schöpfen nahm, dafür daß sie ihm schlecht gerieten -- das war eine Sünde
wider den guten Geschmack." Einmal bemerkt er: "Es müßte geistigere Ge¬
schöpfe geben als der Mensch ist, bloß um den Humor ganz auszukosten, der
darin liegt, daß der Mensch sich für den Zweck des ganzen Weltdaseins ansieht,
und die Menschheit ernstlich nur mit Aussicht auf eine Weltmission sich zu¬
frieden giebt. Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen
zum Affen Gottes, als fortwährenden Anlaß zur Erheiterung in seinen allzu¬
langer Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl
das Spottgelachter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum" (III, 200).

Nicht eben jener Glaube des Menschen an seine Bestimmung, wohl aber
das Verhalten der Menschen in Staat und Gesellschaft und im Erwerbsleben ist
auch mir oft so lächerlich erschienen, daß ich ebenfalls oft gedacht habe: Was
muß unser Herrgott für Spaß daran haben! Ich wandelte einmal mit einem
Freunde an einem Bach. Unser Nahen erschreckte einen im Grase liegenden
Entenschwarm, und wie die armen Dinger mit lautem Angstgequak vor uns
her watschelten, Anläufe zu einer Wendung nach dem Bache nahmen, aber
immer wieder, in der Angst, wir könnten sie einholen, ein Stück weiter
geradeaus watschelten, bis sie doch endlich Mut faßten und eine nach der
andern ins Wasser plumpsten, wo sie sich, der eingebildeten großen Gefahr
entronnen, beruhigten, das war so komisch, daß wir laut lachen mußten.


Grenzboten II 1898 ->5
Friedrich Nietzsche

mählich und ihm selbst unbemerkt erstorben sein, wie das bei den gebildeten
Jünglingen jener Zeit ganz allgemein der Fall war. Die deutsche Philosophie
von Kant bis Schopenhauer hatte Gott beseitigt — von dem einzigen Theisten,
Herbart, fanden nnr die psychologischen und die pädagogischen Schriften ein
größeres Publikum —, und in jedem Kreise, der auf moderne Bildung An¬
spruch machte, galt es als selbstverständlich, daß der Glaube an Gott nur als
Volksaberglaube zu dulden sei; ja die für die moderne Bildung begeisterten
arbeiteten daran, ihn auch im Volke auszurotten. Wenn Nietzsche einmal an¬
deutet, daß der Verkehr mit den Pastorenfamilien seiner Verwandtschaft, so
gutmütig, rechtschaffen und tüchtig sie auch waren, den Hang zur Verneinung
eher gefördert als gehemmt habe, so entspricht das ja einer Erfahrung, die
man häufig macht. Zweifel bleiben keinem Denkenden erspart, und die Frage,
die die alte Kirche jahrhundertelang in Aufruhr versetzt hatte: woher das
Böse? quälte ihn schon als Dreizehnjährigen (VII, 289). Der Verlauf solcher
Prozesse hängt sehr vom Temperament und von persönlichen Erfahrungen ab.
Ein junger Mann, der alles ernst und schwer nimmt und sich in jeden Fall
tief eingrübelt, findet natürlich weit mehr Schlimmes in der Welt, als ein
leichtsinniger Genußmensch, und so kann es weiter nicht verwundern, wenn
Nietzsche findet, falls Gott existire, könne er nicht gut sein, und wenn er
Zarathustra (VI, 379) sagen läßt: „Zu vieles mißriet ihm, diesem Töpfer,
der nicht ausgelernt hatte! Daß er aber Rache an seinen Töpfen und Ge¬
schöpfen nahm, dafür daß sie ihm schlecht gerieten — das war eine Sünde
wider den guten Geschmack." Einmal bemerkt er: „Es müßte geistigere Ge¬
schöpfe geben als der Mensch ist, bloß um den Humor ganz auszukosten, der
darin liegt, daß der Mensch sich für den Zweck des ganzen Weltdaseins ansieht,
und die Menschheit ernstlich nur mit Aussicht auf eine Weltmission sich zu¬
frieden giebt. Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen
zum Affen Gottes, als fortwährenden Anlaß zur Erheiterung in seinen allzu¬
langer Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl
das Spottgelachter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum" (III, 200).

Nicht eben jener Glaube des Menschen an seine Bestimmung, wohl aber
das Verhalten der Menschen in Staat und Gesellschaft und im Erwerbsleben ist
auch mir oft so lächerlich erschienen, daß ich ebenfalls oft gedacht habe: Was
muß unser Herrgott für Spaß daran haben! Ich wandelte einmal mit einem
Freunde an einem Bach. Unser Nahen erschreckte einen im Grase liegenden
Entenschwarm, und wie die armen Dinger mit lautem Angstgequak vor uns
her watschelten, Anläufe zu einer Wendung nach dem Bache nahmen, aber
immer wieder, in der Angst, wir könnten sie einholen, ein Stück weiter
geradeaus watschelten, bis sie doch endlich Mut faßten und eine nach der
andern ins Wasser plumpsten, wo sie sich, der eingebildeten großen Gefahr
entronnen, beruhigten, das war so komisch, daß wir laut lachen mußten.


Grenzboten II 1898 ->5
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[0441] Friedrich Nietzsche mählich und ihm selbst unbemerkt erstorben sein, wie das bei den gebildeten Jünglingen jener Zeit ganz allgemein der Fall war. Die deutsche Philosophie von Kant bis Schopenhauer hatte Gott beseitigt — von dem einzigen Theisten, Herbart, fanden nnr die psychologischen und die pädagogischen Schriften ein größeres Publikum —, und in jedem Kreise, der auf moderne Bildung An¬ spruch machte, galt es als selbstverständlich, daß der Glaube an Gott nur als Volksaberglaube zu dulden sei; ja die für die moderne Bildung begeisterten arbeiteten daran, ihn auch im Volke auszurotten. Wenn Nietzsche einmal an¬ deutet, daß der Verkehr mit den Pastorenfamilien seiner Verwandtschaft, so gutmütig, rechtschaffen und tüchtig sie auch waren, den Hang zur Verneinung eher gefördert als gehemmt habe, so entspricht das ja einer Erfahrung, die man häufig macht. Zweifel bleiben keinem Denkenden erspart, und die Frage, die die alte Kirche jahrhundertelang in Aufruhr versetzt hatte: woher das Böse? quälte ihn schon als Dreizehnjährigen (VII, 289). Der Verlauf solcher Prozesse hängt sehr vom Temperament und von persönlichen Erfahrungen ab. Ein junger Mann, der alles ernst und schwer nimmt und sich in jeden Fall tief eingrübelt, findet natürlich weit mehr Schlimmes in der Welt, als ein leichtsinniger Genußmensch, und so kann es weiter nicht verwundern, wenn Nietzsche findet, falls Gott existire, könne er nicht gut sein, und wenn er Zarathustra (VI, 379) sagen läßt: „Zu vieles mißriet ihm, diesem Töpfer, der nicht ausgelernt hatte! Daß er aber Rache an seinen Töpfen und Ge¬ schöpfen nahm, dafür daß sie ihm schlecht gerieten — das war eine Sünde wider den guten Geschmack." Einmal bemerkt er: „Es müßte geistigere Ge¬ schöpfe geben als der Mensch ist, bloß um den Humor ganz auszukosten, der darin liegt, daß der Mensch sich für den Zweck des ganzen Weltdaseins ansieht, und die Menschheit ernstlich nur mit Aussicht auf eine Weltmission sich zu¬ frieden giebt. Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen zum Affen Gottes, als fortwährenden Anlaß zur Erheiterung in seinen allzu¬ langer Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl das Spottgelachter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum" (III, 200). Nicht eben jener Glaube des Menschen an seine Bestimmung, wohl aber das Verhalten der Menschen in Staat und Gesellschaft und im Erwerbsleben ist auch mir oft so lächerlich erschienen, daß ich ebenfalls oft gedacht habe: Was muß unser Herrgott für Spaß daran haben! Ich wandelte einmal mit einem Freunde an einem Bach. Unser Nahen erschreckte einen im Grase liegenden Entenschwarm, und wie die armen Dinger mit lautem Angstgequak vor uns her watschelten, Anläufe zu einer Wendung nach dem Bache nahmen, aber immer wieder, in der Angst, wir könnten sie einholen, ein Stück weiter geradeaus watschelten, bis sie doch endlich Mut faßten und eine nach der andern ins Wasser plumpsten, wo sie sich, der eingebildeten großen Gefahr entronnen, beruhigten, das war so komisch, daß wir laut lachen mußten. Grenzboten II 1898 ->5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/441>, abgerufen am 27.12.2024.