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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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INanchesterlehre und Christentum

zur Wehr zu greifen und auch die Hilfe des Staates anzurufen, wo sie un¬
gerechterweise angegriffen und bedroht werden. Im Gegenteil; so wie die
Dinge heute liegen, wird eine versöhnende Thätigkeit nur verstanden werden
und eine gute Stätte finden, wo sie verbunden auftritt mit energischer Zurück¬
weisung der Versuche, weit über das Maß hinausgehende Forderungen der
Arbeiter gewaltsam durchzusetzen. Aber auch der Kampf muß christlich geführt
werden mit dem Wunsche, zu einem gerechten Frieden zu gelangen.

Die Gewaltsamkeit im Vorgehen der uach Verwirklichung eines falschen
Ideals von sozialer Gerechtigkeit ringenden Lohnarbeiter zu mildern, wird aber
wiederum kein andres Mittel so geeignet sein, als die Einführung der Religion
als einer stärkenden und tröstenden, das Gemüt befreienden Macht bei den
Seelen, die in ihrer hilflosen Vereinzelung argwöhnisch und verbittert geworden
sind. "Ich weiß, daß mein Erlöser lebt" -- das muß das Heilswort werden
sür die Seelen, die unter der Last schwerer, erschöpfender Arbeit zu erliegen
drohen. Fort mit der Heuchelei, daß die Arbeit selbst, als Mitarbeit an der
Kultur erfaßt und verstanden, eine erhebende, erlösende und heiligende Kraft
in sich trage! Um den Kraftaufwand zu bestreikn, den die Aufgaben eines
modernen Großstaats gebieterisch verlangen, wird für Millionen und aber
Millionen die höchste Anstrengung und Anspannung zu einseitiger und niedriger
Thätigkeit als hartes Lebenslos zur Notwendigkeit. Diese Schichten der Be¬
völkerung auf die Segnungen der Kultur zu verweisen, klingt wie schnöde
Ironie und kann unter Umständen als direkte Aufforderung zur Empörung
wirken. Eine ähnliche Verletzung der Menschlichkeit liegt in dem klugen Einfall
der Manchesterprofessoren, daß man zu dem harten Spruch des Lebens Lio
vos von vobis auch noch den Raub hinzufügen müsse, der den Arbeiter um
die "Illusion," um den letzten Rest von Glauben und Hoffen bringt. Statt
den Hoffnungskeim, der sich etwa noch in der verdüsterten Seele des Gedruckten
regen mag, mit der eisigen Kälte nüchterner Kritik zu zerstören, wollen wir
Christen versuchen, den Herzen das Wort dessen nahe zu bringen, der gesagt
hat: "Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht." Zwischen völligem
Versinken im Elend und leidenschaftlichem Hinhorchen nach der Aufruhrglocke
wird die Seele des Belasteten niemals die maßvolle Mitte finden, solange
nicht ein Glaube und eine Hoffnung höherer Art und höhern Ursprungs dem
in den Kerker der Leiblichkeit Gebannten einen Ausblick verschafft auf ein
Stück blauenden Himmels und ihn ahnende Fühlung gewinnen läßt mit einer
Welt, wo sich eine wärmende Luft des Lichtes und der Liebe an die Seele
Karl Trost anschmeichelt.




INanchesterlehre und Christentum

zur Wehr zu greifen und auch die Hilfe des Staates anzurufen, wo sie un¬
gerechterweise angegriffen und bedroht werden. Im Gegenteil; so wie die
Dinge heute liegen, wird eine versöhnende Thätigkeit nur verstanden werden
und eine gute Stätte finden, wo sie verbunden auftritt mit energischer Zurück¬
weisung der Versuche, weit über das Maß hinausgehende Forderungen der
Arbeiter gewaltsam durchzusetzen. Aber auch der Kampf muß christlich geführt
werden mit dem Wunsche, zu einem gerechten Frieden zu gelangen.

Die Gewaltsamkeit im Vorgehen der uach Verwirklichung eines falschen
Ideals von sozialer Gerechtigkeit ringenden Lohnarbeiter zu mildern, wird aber
wiederum kein andres Mittel so geeignet sein, als die Einführung der Religion
als einer stärkenden und tröstenden, das Gemüt befreienden Macht bei den
Seelen, die in ihrer hilflosen Vereinzelung argwöhnisch und verbittert geworden
sind. „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt" — das muß das Heilswort werden
sür die Seelen, die unter der Last schwerer, erschöpfender Arbeit zu erliegen
drohen. Fort mit der Heuchelei, daß die Arbeit selbst, als Mitarbeit an der
Kultur erfaßt und verstanden, eine erhebende, erlösende und heiligende Kraft
in sich trage! Um den Kraftaufwand zu bestreikn, den die Aufgaben eines
modernen Großstaats gebieterisch verlangen, wird für Millionen und aber
Millionen die höchste Anstrengung und Anspannung zu einseitiger und niedriger
Thätigkeit als hartes Lebenslos zur Notwendigkeit. Diese Schichten der Be¬
völkerung auf die Segnungen der Kultur zu verweisen, klingt wie schnöde
Ironie und kann unter Umständen als direkte Aufforderung zur Empörung
wirken. Eine ähnliche Verletzung der Menschlichkeit liegt in dem klugen Einfall
der Manchesterprofessoren, daß man zu dem harten Spruch des Lebens Lio
vos von vobis auch noch den Raub hinzufügen müsse, der den Arbeiter um
die „Illusion," um den letzten Rest von Glauben und Hoffen bringt. Statt
den Hoffnungskeim, der sich etwa noch in der verdüsterten Seele des Gedruckten
regen mag, mit der eisigen Kälte nüchterner Kritik zu zerstören, wollen wir
Christen versuchen, den Herzen das Wort dessen nahe zu bringen, der gesagt
hat: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht." Zwischen völligem
Versinken im Elend und leidenschaftlichem Hinhorchen nach der Aufruhrglocke
wird die Seele des Belasteten niemals die maßvolle Mitte finden, solange
nicht ein Glaube und eine Hoffnung höherer Art und höhern Ursprungs dem
in den Kerker der Leiblichkeit Gebannten einen Ausblick verschafft auf ein
Stück blauenden Himmels und ihn ahnende Fühlung gewinnen läßt mit einer
Welt, wo sich eine wärmende Luft des Lichtes und der Liebe an die Seele
Karl Trost anschmeichelt.




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[0428] INanchesterlehre und Christentum zur Wehr zu greifen und auch die Hilfe des Staates anzurufen, wo sie un¬ gerechterweise angegriffen und bedroht werden. Im Gegenteil; so wie die Dinge heute liegen, wird eine versöhnende Thätigkeit nur verstanden werden und eine gute Stätte finden, wo sie verbunden auftritt mit energischer Zurück¬ weisung der Versuche, weit über das Maß hinausgehende Forderungen der Arbeiter gewaltsam durchzusetzen. Aber auch der Kampf muß christlich geführt werden mit dem Wunsche, zu einem gerechten Frieden zu gelangen. Die Gewaltsamkeit im Vorgehen der uach Verwirklichung eines falschen Ideals von sozialer Gerechtigkeit ringenden Lohnarbeiter zu mildern, wird aber wiederum kein andres Mittel so geeignet sein, als die Einführung der Religion als einer stärkenden und tröstenden, das Gemüt befreienden Macht bei den Seelen, die in ihrer hilflosen Vereinzelung argwöhnisch und verbittert geworden sind. „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt" — das muß das Heilswort werden sür die Seelen, die unter der Last schwerer, erschöpfender Arbeit zu erliegen drohen. Fort mit der Heuchelei, daß die Arbeit selbst, als Mitarbeit an der Kultur erfaßt und verstanden, eine erhebende, erlösende und heiligende Kraft in sich trage! Um den Kraftaufwand zu bestreikn, den die Aufgaben eines modernen Großstaats gebieterisch verlangen, wird für Millionen und aber Millionen die höchste Anstrengung und Anspannung zu einseitiger und niedriger Thätigkeit als hartes Lebenslos zur Notwendigkeit. Diese Schichten der Be¬ völkerung auf die Segnungen der Kultur zu verweisen, klingt wie schnöde Ironie und kann unter Umständen als direkte Aufforderung zur Empörung wirken. Eine ähnliche Verletzung der Menschlichkeit liegt in dem klugen Einfall der Manchesterprofessoren, daß man zu dem harten Spruch des Lebens Lio vos von vobis auch noch den Raub hinzufügen müsse, der den Arbeiter um die „Illusion," um den letzten Rest von Glauben und Hoffen bringt. Statt den Hoffnungskeim, der sich etwa noch in der verdüsterten Seele des Gedruckten regen mag, mit der eisigen Kälte nüchterner Kritik zu zerstören, wollen wir Christen versuchen, den Herzen das Wort dessen nahe zu bringen, der gesagt hat: „Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht." Zwischen völligem Versinken im Elend und leidenschaftlichem Hinhorchen nach der Aufruhrglocke wird die Seele des Belasteten niemals die maßvolle Mitte finden, solange nicht ein Glaube und eine Hoffnung höherer Art und höhern Ursprungs dem in den Kerker der Leiblichkeit Gebannten einen Ausblick verschafft auf ein Stück blauenden Himmels und ihn ahnende Fühlung gewinnen läßt mit einer Welt, wo sich eine wärmende Luft des Lichtes und der Liebe an die Seele Karl Trost anschmeichelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/428>, abgerufen am 27.12.2024.