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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die hannoverschen Nationalliberalen

Rückzugsgefechte seiner Gegner kaum beachtet. Er schaltet fast wie ein Sou¬
verän, er bestimmt die Kandidaten für die ländlichen Wahlkreise -- und die
meisten Kreise sind ländlich --, ohne sich um die ciltweiberhaften Klagen des
Hannoverschen Kuriers und der übrigen nationalliberalen Presse zu kümmern.
Er ist recht hart, dieser Dr. Hahn, und ihn rührt weder das Gezeter über
"Einbrüche" noch der abgestandne Hinweis auf die mittelbare Begünstigung
sozialdemokratischer Wahlsiege. Er hat nichts dagegen, daß sich der eine oder
der andre seiner Kandidaten vorläufig äußerlich der natioualliberalen Fraktion
anschließt, aber er hält streng darauf, daß jeder Kandidat in erster Linie
sicherer Gefolgsmann des Bundes ist und auf das agrarische Programm ver¬
pflichtet wird, das in allen Punkten bislang -- wohlverstanden: bislang --
von den Nationalliberalen bekämpft wurde. Unter diesen Bedingungen nimmt
er die Leute an, die ihm aus dem Lager der Natioualliberalen zur Prüfung
und Bestätigung ihrer Kandidaturen zugeführt werden. Es war ergötzlich zu
scheu, wie die nationalliberalen Wahlkomitees, eins nach dem andern, teils
unter lauten Wehklagen, teils in dumpfer Resignation vor ihrem Besieger zu¬
sammenbräche". Sie waren schwach und würdelos genug, ihren eignen -- nach
ihrer Meinung bewährten -- Kandidaten sofort fallen zu lassen, sobald die
Buudesleitung dessen Aufstellung mißbilligte und statt seiner einen der
ihrigen aufstellte, wenn dieser nur die unverbindliche Erklärung abgab, daß er
"politisch" auf nationalliberalem oder auch nur auf "nationalem" Boden stehe.
Sie sind so genügsam geworden, daß sie es schou als einen Erfolg ihrer
Partei ansehen, wenn die so vom Bunde abgestempelten Personen als Sieger
aus der Wahlurne hervorgehen. Erst ganz vor kurzem haben sich in einem
Wahlkreise (Hameln-Springe) die Nationalliberalen der Leitung zum Trotze auf
ihre Vergangenheit besonnen und den Kandidaten des Bundes abgestoßen, den sich
ihre Führer in Hannover schon achselzuckend hatten gefallen lassen. Dieser Vor¬
gang hat den Mut der Natioualliberalen auch in andern Gegenden wieder einiger¬
maßen belebt und zur Nacheiferung angereizt. Jedoch kommt diese Ernennung
gegenüber der vorgeschrittucu Wahlbeweguug allem Anschein nach zu spät.

Die ganze Wahltaktik der Personen, die durch ein widriges Geschick Leiter
der nationalliberalen Sache im Hannoverschen geworden sind, läuft zur Zeit
darauf hinaus, die Partei äußerlich zusammenzuhalten, möglichst wenig Ein¬
bußen an Zahl zu erleiden und fremdartigen Elementen ihre Firma zur Ver¬
fügung zu stellen, unbekümmert um die innere Festigkeit der Partei und ohne
Sorge darum, daß durch solche Taktik die Auflösung der Partei besonders
gefördert wird. Die Natioualliberalen trösten sich damit, daß der Bund der
Landwirte eine wirtschaftliche Partei ist, und daß er für politische Fragen, die
mit wirtschaftlichen nicht zusammenhängen, seinen Mitgliedern keine Verpflich¬
tungen auferlegt -- aber war nicht das Zentrum ursprünglich auch eine rein
kirchliche Partei, das seinen Mitgliedern in nichtkirchlichen politischen Fragen
freie Hand ließ, und ist es jetzt nicht eine eminent politische Partei geworden?


Die hannoverschen Nationalliberalen

Rückzugsgefechte seiner Gegner kaum beachtet. Er schaltet fast wie ein Sou¬
verän, er bestimmt die Kandidaten für die ländlichen Wahlkreise — und die
meisten Kreise sind ländlich —, ohne sich um die ciltweiberhaften Klagen des
Hannoverschen Kuriers und der übrigen nationalliberalen Presse zu kümmern.
Er ist recht hart, dieser Dr. Hahn, und ihn rührt weder das Gezeter über
„Einbrüche" noch der abgestandne Hinweis auf die mittelbare Begünstigung
sozialdemokratischer Wahlsiege. Er hat nichts dagegen, daß sich der eine oder
der andre seiner Kandidaten vorläufig äußerlich der natioualliberalen Fraktion
anschließt, aber er hält streng darauf, daß jeder Kandidat in erster Linie
sicherer Gefolgsmann des Bundes ist und auf das agrarische Programm ver¬
pflichtet wird, das in allen Punkten bislang — wohlverstanden: bislang —
von den Nationalliberalen bekämpft wurde. Unter diesen Bedingungen nimmt
er die Leute an, die ihm aus dem Lager der Natioualliberalen zur Prüfung
und Bestätigung ihrer Kandidaturen zugeführt werden. Es war ergötzlich zu
scheu, wie die nationalliberalen Wahlkomitees, eins nach dem andern, teils
unter lauten Wehklagen, teils in dumpfer Resignation vor ihrem Besieger zu¬
sammenbräche». Sie waren schwach und würdelos genug, ihren eignen — nach
ihrer Meinung bewährten — Kandidaten sofort fallen zu lassen, sobald die
Buudesleitung dessen Aufstellung mißbilligte und statt seiner einen der
ihrigen aufstellte, wenn dieser nur die unverbindliche Erklärung abgab, daß er
„politisch" auf nationalliberalem oder auch nur auf „nationalem" Boden stehe.
Sie sind so genügsam geworden, daß sie es schou als einen Erfolg ihrer
Partei ansehen, wenn die so vom Bunde abgestempelten Personen als Sieger
aus der Wahlurne hervorgehen. Erst ganz vor kurzem haben sich in einem
Wahlkreise (Hameln-Springe) die Nationalliberalen der Leitung zum Trotze auf
ihre Vergangenheit besonnen und den Kandidaten des Bundes abgestoßen, den sich
ihre Führer in Hannover schon achselzuckend hatten gefallen lassen. Dieser Vor¬
gang hat den Mut der Natioualliberalen auch in andern Gegenden wieder einiger¬
maßen belebt und zur Nacheiferung angereizt. Jedoch kommt diese Ernennung
gegenüber der vorgeschrittucu Wahlbeweguug allem Anschein nach zu spät.

Die ganze Wahltaktik der Personen, die durch ein widriges Geschick Leiter
der nationalliberalen Sache im Hannoverschen geworden sind, läuft zur Zeit
darauf hinaus, die Partei äußerlich zusammenzuhalten, möglichst wenig Ein¬
bußen an Zahl zu erleiden und fremdartigen Elementen ihre Firma zur Ver¬
fügung zu stellen, unbekümmert um die innere Festigkeit der Partei und ohne
Sorge darum, daß durch solche Taktik die Auflösung der Partei besonders
gefördert wird. Die Natioualliberalen trösten sich damit, daß der Bund der
Landwirte eine wirtschaftliche Partei ist, und daß er für politische Fragen, die
mit wirtschaftlichen nicht zusammenhängen, seinen Mitgliedern keine Verpflich¬
tungen auferlegt — aber war nicht das Zentrum ursprünglich auch eine rein
kirchliche Partei, das seinen Mitgliedern in nichtkirchlichen politischen Fragen
freie Hand ließ, und ist es jetzt nicht eine eminent politische Partei geworden?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/380>, abgerufen am 23.07.2024.