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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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führung des Kvuzessionszwangs für die gewerbsmäßige Arbeitsvermittlung. Sie
entspricht einem ausgesprochnen Bedürfnis, und man wird dabei vor scharfen Kontroll¬
maßregeln nicht zurückschrecken dürfen. Natürlich ist irgend welcher Erfolg in der
Hauptsache, um die es sich in der ganzen Frage handelt, von diesem in der That
winzig kleinen Mittel kaum zu erwarten. Hinweisen wenigstens möchte ich hier
beiläufig auch darauf, daß mau endlich einem Mangel abhelfen sollte, der mit
der menschlichen Natur einfach uiwerträglich ist, d. i. dem Mangel an jeder Über¬
wachung der Freizügigkeit Minderjähriger. Die modernen Verkehrsverhältnisse ent¬
rücken die eben der Schule entwachsenen Knaben und Mädchen vielfach völlig der
elterlichen Autorität und Verantwortung. Die Gleichgiltigkeit des Staats gegen
die doch ganz offenbar daraus erwachsenden schweren Schäden ist mir immer unbe¬
greiflich gewesen. Vereinsthätigkeit, auch die kirchliche, reicht nicht aus, wenn ge¬
holfen werden soll. Hier sind durchgreifende gesetzliche Reorganisationen nötig,
und zwar sehr weitgehende.

Die Erklärung der Staatsregierung enthält endlich noch folgenden, den Kern
der Sache wenigstens berührenden Satz: "Die Arbeiterwvhlfahrtspflege auf dem
Lande bedarf der thunlichsten Förderung. Über diese Frage wird ein Benehmen
mit den landwirtschaftlichen Interessenvertretungen in die Wege geleitet werden, um
diese vorwiegend dein Gebiete der Selbsthilfe angehörende Aufgabe auch staatlicher-
scits zu fördern." Soll aber diese Selbsthilfe in der Hand der landwirtschaftlichen
Interessenvertretungen etwas leisten, so ist doch in erster Linie die Erkenntnis der
bestehenden Mängel und der gute Wille, ihnen abzuhelfen, unerläßliche Voraussetzung.
Ist darauf zu rechnen? Darf die Regierung sich auf die Landwirtschaftskmnmern
verlassen, darf sie ihnen die Verantwortlichkeit in dieser so überaus wichtigen sozialen
und nationalen Aufgabe überlassen? Darf das preußische Beamtentum auch in dieser
Frage wieder hinter dem verhängnisvollen Schirme der "Selbstverwaltung" Deckung
suchen? Angesichts der Allmacht und der Natur der agrarischen Bewegung kann
heute die Antwort nur lauten: Nein und abermals nein!

Die Passive, wenn nicht ablehnende Haltung der preußischen Landwirtschafts-
kammern gegen die Bestrebungen des Vereins für Wohlfahrtspflege auf dem Lande
ist erst kürzlich in der zweiten Hauptversammlung dieses Vereins dnrch den Direktor
im Landwirtschaftsministeriunl Dr. Thiel ausdrücklich hervorgehoben und "tief be¬
dauert" worden. Man brauchte das vielleicht an und für sich nicht einmal allzu
tragisch zu nehmen. Ein gewisses Mißtrauen gegen Vereinsagitationen wäre
natürlich und verzeihlich, selbst wo es ungerechtfertigt ist, wie hier. Die Ritter¬
gutsbesitzer und Großbauern im Osten könnten sich sagen: Warum Vereinsagitation?
Warum nicht offnes, energisches Eintreten der Landräte, der Regierungspräsidenten,
der Oberpräsidenten für soziale Reformen, wie wir das in Preußen früher gewöhnt
waren? Aber in Wirklichkeit ist die Sache doch sehr ernst. Das Agrariertum und
damit die eigentliche, zur Zeit alleinherrschende Interessenvertretung der ostelbischen
Großgrundbesitzer und Großbauern lehnt die soziale Reform auf dem Lande grund¬
sätzlich ab. Das Agrariertum bestreitet entschieden, daß die Flucht vom Lande ihren
Hauptgrund habe in den Zuständen auf dem Laude, in der sozialen Stellung der
ostelbischen ländlichen Arbeiterbevölkerung, die mit den berechtigten Lebensansprüchen
der dentschen Arbeiter unverträglich geworden ist. Das ist notorisch. Ausdrücklich ist
dieser Standpunkt aber mich formulirt worden in der schon erwähnten Äußerung der
Hamburger Nachrichten über die Szniulasche Jnterpellation. Das Blatt schreibt
wörtlich: "Wir erblicken einen Hauptgrund des stets zunehmenden Verziehens der
Arbeitskräfte vom Laude namentlich in der Annehmlichkeit der städtischen Bequem-


führung des Kvuzessionszwangs für die gewerbsmäßige Arbeitsvermittlung. Sie
entspricht einem ausgesprochnen Bedürfnis, und man wird dabei vor scharfen Kontroll¬
maßregeln nicht zurückschrecken dürfen. Natürlich ist irgend welcher Erfolg in der
Hauptsache, um die es sich in der ganzen Frage handelt, von diesem in der That
winzig kleinen Mittel kaum zu erwarten. Hinweisen wenigstens möchte ich hier
beiläufig auch darauf, daß mau endlich einem Mangel abhelfen sollte, der mit
der menschlichen Natur einfach uiwerträglich ist, d. i. dem Mangel an jeder Über¬
wachung der Freizügigkeit Minderjähriger. Die modernen Verkehrsverhältnisse ent¬
rücken die eben der Schule entwachsenen Knaben und Mädchen vielfach völlig der
elterlichen Autorität und Verantwortung. Die Gleichgiltigkeit des Staats gegen
die doch ganz offenbar daraus erwachsenden schweren Schäden ist mir immer unbe¬
greiflich gewesen. Vereinsthätigkeit, auch die kirchliche, reicht nicht aus, wenn ge¬
holfen werden soll. Hier sind durchgreifende gesetzliche Reorganisationen nötig,
und zwar sehr weitgehende.

Die Erklärung der Staatsregierung enthält endlich noch folgenden, den Kern
der Sache wenigstens berührenden Satz: „Die Arbeiterwvhlfahrtspflege auf dem
Lande bedarf der thunlichsten Förderung. Über diese Frage wird ein Benehmen
mit den landwirtschaftlichen Interessenvertretungen in die Wege geleitet werden, um
diese vorwiegend dein Gebiete der Selbsthilfe angehörende Aufgabe auch staatlicher-
scits zu fördern." Soll aber diese Selbsthilfe in der Hand der landwirtschaftlichen
Interessenvertretungen etwas leisten, so ist doch in erster Linie die Erkenntnis der
bestehenden Mängel und der gute Wille, ihnen abzuhelfen, unerläßliche Voraussetzung.
Ist darauf zu rechnen? Darf die Regierung sich auf die Landwirtschaftskmnmern
verlassen, darf sie ihnen die Verantwortlichkeit in dieser so überaus wichtigen sozialen
und nationalen Aufgabe überlassen? Darf das preußische Beamtentum auch in dieser
Frage wieder hinter dem verhängnisvollen Schirme der „Selbstverwaltung" Deckung
suchen? Angesichts der Allmacht und der Natur der agrarischen Bewegung kann
heute die Antwort nur lauten: Nein und abermals nein!

Die Passive, wenn nicht ablehnende Haltung der preußischen Landwirtschafts-
kammern gegen die Bestrebungen des Vereins für Wohlfahrtspflege auf dem Lande
ist erst kürzlich in der zweiten Hauptversammlung dieses Vereins dnrch den Direktor
im Landwirtschaftsministeriunl Dr. Thiel ausdrücklich hervorgehoben und „tief be¬
dauert" worden. Man brauchte das vielleicht an und für sich nicht einmal allzu
tragisch zu nehmen. Ein gewisses Mißtrauen gegen Vereinsagitationen wäre
natürlich und verzeihlich, selbst wo es ungerechtfertigt ist, wie hier. Die Ritter¬
gutsbesitzer und Großbauern im Osten könnten sich sagen: Warum Vereinsagitation?
Warum nicht offnes, energisches Eintreten der Landräte, der Regierungspräsidenten,
der Oberpräsidenten für soziale Reformen, wie wir das in Preußen früher gewöhnt
waren? Aber in Wirklichkeit ist die Sache doch sehr ernst. Das Agrariertum und
damit die eigentliche, zur Zeit alleinherrschende Interessenvertretung der ostelbischen
Großgrundbesitzer und Großbauern lehnt die soziale Reform auf dem Lande grund¬
sätzlich ab. Das Agrariertum bestreitet entschieden, daß die Flucht vom Lande ihren
Hauptgrund habe in den Zuständen auf dem Laude, in der sozialen Stellung der
ostelbischen ländlichen Arbeiterbevölkerung, die mit den berechtigten Lebensansprüchen
der dentschen Arbeiter unverträglich geworden ist. Das ist notorisch. Ausdrücklich ist
dieser Standpunkt aber mich formulirt worden in der schon erwähnten Äußerung der
Hamburger Nachrichten über die Szniulasche Jnterpellation. Das Blatt schreibt
wörtlich: „Wir erblicken einen Hauptgrund des stets zunehmenden Verziehens der
Arbeitskräfte vom Laude namentlich in der Annehmlichkeit der städtischen Bequem-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/350>, abgerufen am 27.12.2024.