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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Alphonse Daudet

lungen gemacht; in der Normandie läßt Flaubert einen seiner Hauptromane
und Maupassant eine ganze Reihe von Geschichten spielen. Andrö Theuriet
schildert Lothringen, der jüngst verstorbne Ferdinand Fabre giebt seine Bilder
mit Vorliebe aus den Cevennen, Jules de Glouvet versetzt uns mit seinen
Bauerngeschichten nach Maine, und Pouvillvn nach Quercy. Es scheint also,
als ob man in den letzten Jahrzehnten des Pariser Romans überdrüssig ge¬
worden sei, und man auf dem Gebiete der Litteratur nach einer gesunden Dezen¬
tralisation strebe.

Niemand kommt über seine Jugendeindrücke hinweg, und glücklich der
Schriftsteller, dem es vergönnt gewesen ist, in einer originellen Umgebung,
unter merkwürdigen Menschen seine Jugendzeit verbracht zu haben, der später
dnrch einen krassen Wechsel dieser uugehobnen Schätze gewahr wird und in
der Ferne alle die Erinnerungen in einer Beleuchtung auftauchen sieht, die
selbst das Unscheinbare und Alltägliche zu einer Merkwürdigkeit, zu einem Er¬
eignis macht. So ist auch erst in Paris dem jungen Daudet seine kleine
verlassene Welt im Süden wie ein großer Naritätenkasten erschienen, und er
hat mit Entzücken daraus genommen, was er greifen konnte, glücklich über den
Schatz, an dem bis dahin fo viele achtlos vorübergegangen waren. ?lus on
Ä Ä's8xrit, sagt La Bruyvre, plus on trouvo Ä'orig'irmux, und dieser Geist, diese
wunderbare Witterung und feine Empfänglichkeit für das Seltsame im Alltäg¬
lichen, diese Schnelligkeit, novellistisch verwertbare Motive zu erfassen und seine
Beobachtungen in eine kleine dramatisch belebte Handlung zu bringen -- diese
Fähigkeiten hatten sich bei Daudet schou früh entwickelt.

Als er den uugehobnen Schatz seiner Heimat erkannt hatte, da begab er
sich wieder, der Einundzwnnzigjährige, von Paris nach der lachenden, sonnigen
Provence und suchte sich ein stilles Plätzchen aus. eine alte verfallene Mühle
in Pampvrigouste, die von Epheu und Rosmarin umrankt, fernab von allem
Verkehr lag, und hier schrieb er seine reizenden provenzalischen Skizzen: Die
Briefe aus meiner Mühle.

Wie schon liegt die Mühle! "Ein prächtiger Tannenwald zieht sich, ganz
von Licht überflutet, bis zu dem Fuß des Hügels herab. Am Horizonte die
schöngezackten Gipfel der Alpen. Kein Geräusch. Nur hin und wieder der
Ton einer Querpfeife, ein Brachvogel im Lavendel, das Glöckchen eines Maul¬
tiers auf der Landstraße -- das ganze schone provenzalische Land erhält sein
Leben durch das Licht. Und nun, wie kannst du verlangen, daß ich mich nach
deinem lärmenden, dunkeln Paris zurücksehne? Ich fühle mich glücklich in
meiner Mühle . . . und was für schone Dinge giebt es rund um mich herum!
Kaum bin ich acht Tage hier, und schon habe ich den Kopf voller Eindrücke
und Erinnerungen."

Und nun entwirft er uns reizende Genrebilder von den Bewohnern des
Landes, von ihren Gewohnheiten, ihren Träumen, ihren Legenden. Wir


Alphonse Daudet

lungen gemacht; in der Normandie läßt Flaubert einen seiner Hauptromane
und Maupassant eine ganze Reihe von Geschichten spielen. Andrö Theuriet
schildert Lothringen, der jüngst verstorbne Ferdinand Fabre giebt seine Bilder
mit Vorliebe aus den Cevennen, Jules de Glouvet versetzt uns mit seinen
Bauerngeschichten nach Maine, und Pouvillvn nach Quercy. Es scheint also,
als ob man in den letzten Jahrzehnten des Pariser Romans überdrüssig ge¬
worden sei, und man auf dem Gebiete der Litteratur nach einer gesunden Dezen¬
tralisation strebe.

Niemand kommt über seine Jugendeindrücke hinweg, und glücklich der
Schriftsteller, dem es vergönnt gewesen ist, in einer originellen Umgebung,
unter merkwürdigen Menschen seine Jugendzeit verbracht zu haben, der später
dnrch einen krassen Wechsel dieser uugehobnen Schätze gewahr wird und in
der Ferne alle die Erinnerungen in einer Beleuchtung auftauchen sieht, die
selbst das Unscheinbare und Alltägliche zu einer Merkwürdigkeit, zu einem Er¬
eignis macht. So ist auch erst in Paris dem jungen Daudet seine kleine
verlassene Welt im Süden wie ein großer Naritätenkasten erschienen, und er
hat mit Entzücken daraus genommen, was er greifen konnte, glücklich über den
Schatz, an dem bis dahin fo viele achtlos vorübergegangen waren. ?lus on
Ä Ä's8xrit, sagt La Bruyvre, plus on trouvo Ä'orig'irmux, und dieser Geist, diese
wunderbare Witterung und feine Empfänglichkeit für das Seltsame im Alltäg¬
lichen, diese Schnelligkeit, novellistisch verwertbare Motive zu erfassen und seine
Beobachtungen in eine kleine dramatisch belebte Handlung zu bringen — diese
Fähigkeiten hatten sich bei Daudet schou früh entwickelt.

Als er den uugehobnen Schatz seiner Heimat erkannt hatte, da begab er
sich wieder, der Einundzwnnzigjährige, von Paris nach der lachenden, sonnigen
Provence und suchte sich ein stilles Plätzchen aus. eine alte verfallene Mühle
in Pampvrigouste, die von Epheu und Rosmarin umrankt, fernab von allem
Verkehr lag, und hier schrieb er seine reizenden provenzalischen Skizzen: Die
Briefe aus meiner Mühle.

Wie schon liegt die Mühle! „Ein prächtiger Tannenwald zieht sich, ganz
von Licht überflutet, bis zu dem Fuß des Hügels herab. Am Horizonte die
schöngezackten Gipfel der Alpen. Kein Geräusch. Nur hin und wieder der
Ton einer Querpfeife, ein Brachvogel im Lavendel, das Glöckchen eines Maul¬
tiers auf der Landstraße — das ganze schone provenzalische Land erhält sein
Leben durch das Licht. Und nun, wie kannst du verlangen, daß ich mich nach
deinem lärmenden, dunkeln Paris zurücksehne? Ich fühle mich glücklich in
meiner Mühle . . . und was für schone Dinge giebt es rund um mich herum!
Kaum bin ich acht Tage hier, und schon habe ich den Kopf voller Eindrücke
und Erinnerungen."

Und nun entwirft er uns reizende Genrebilder von den Bewohnern des
Landes, von ihren Gewohnheiten, ihren Träumen, ihren Legenden. Wir


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[0198] Alphonse Daudet lungen gemacht; in der Normandie läßt Flaubert einen seiner Hauptromane und Maupassant eine ganze Reihe von Geschichten spielen. Andrö Theuriet schildert Lothringen, der jüngst verstorbne Ferdinand Fabre giebt seine Bilder mit Vorliebe aus den Cevennen, Jules de Glouvet versetzt uns mit seinen Bauerngeschichten nach Maine, und Pouvillvn nach Quercy. Es scheint also, als ob man in den letzten Jahrzehnten des Pariser Romans überdrüssig ge¬ worden sei, und man auf dem Gebiete der Litteratur nach einer gesunden Dezen¬ tralisation strebe. Niemand kommt über seine Jugendeindrücke hinweg, und glücklich der Schriftsteller, dem es vergönnt gewesen ist, in einer originellen Umgebung, unter merkwürdigen Menschen seine Jugendzeit verbracht zu haben, der später dnrch einen krassen Wechsel dieser uugehobnen Schätze gewahr wird und in der Ferne alle die Erinnerungen in einer Beleuchtung auftauchen sieht, die selbst das Unscheinbare und Alltägliche zu einer Merkwürdigkeit, zu einem Er¬ eignis macht. So ist auch erst in Paris dem jungen Daudet seine kleine verlassene Welt im Süden wie ein großer Naritätenkasten erschienen, und er hat mit Entzücken daraus genommen, was er greifen konnte, glücklich über den Schatz, an dem bis dahin fo viele achtlos vorübergegangen waren. ?lus on Ä Ä's8xrit, sagt La Bruyvre, plus on trouvo Ä'orig'irmux, und dieser Geist, diese wunderbare Witterung und feine Empfänglichkeit für das Seltsame im Alltäg¬ lichen, diese Schnelligkeit, novellistisch verwertbare Motive zu erfassen und seine Beobachtungen in eine kleine dramatisch belebte Handlung zu bringen — diese Fähigkeiten hatten sich bei Daudet schou früh entwickelt. Als er den uugehobnen Schatz seiner Heimat erkannt hatte, da begab er sich wieder, der Einundzwnnzigjährige, von Paris nach der lachenden, sonnigen Provence und suchte sich ein stilles Plätzchen aus. eine alte verfallene Mühle in Pampvrigouste, die von Epheu und Rosmarin umrankt, fernab von allem Verkehr lag, und hier schrieb er seine reizenden provenzalischen Skizzen: Die Briefe aus meiner Mühle. Wie schon liegt die Mühle! „Ein prächtiger Tannenwald zieht sich, ganz von Licht überflutet, bis zu dem Fuß des Hügels herab. Am Horizonte die schöngezackten Gipfel der Alpen. Kein Geräusch. Nur hin und wieder der Ton einer Querpfeife, ein Brachvogel im Lavendel, das Glöckchen eines Maul¬ tiers auf der Landstraße — das ganze schone provenzalische Land erhält sein Leben durch das Licht. Und nun, wie kannst du verlangen, daß ich mich nach deinem lärmenden, dunkeln Paris zurücksehne? Ich fühle mich glücklich in meiner Mühle . . . und was für schone Dinge giebt es rund um mich herum! Kaum bin ich acht Tage hier, und schon habe ich den Kopf voller Eindrücke und Erinnerungen." Und nun entwirft er uns reizende Genrebilder von den Bewohnern des Landes, von ihren Gewohnheiten, ihren Träumen, ihren Legenden. Wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/198>, abgerufen am 27.12.2024.