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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

hat, wie der Sextaner seine Vokabeln, oder wie der Sammler seine Steine in
Kästen. Nietzsche aber empfand jede neue Erkenntnis, jede neue Ansicht als
eignes Erlebnis, und es fehlte ihm jene eigentümliche Selbsterhaltungskraft,
die den sonst ähnlich gearteten Goethe befähigte, alles, was ihn bedrückte, durch
Aussprechen aus dem Innersten der Seele herauszubringen, sodasz es fortan
uur als eine nicht mehr aufregende Erinnerung in ihn: lebte. In Nietzsche
lebte alles fort, sodaß seine Seele beständig in Gefahr schwebte, von ent¬
gegengesetzten Strebungen zerrissen zu werden. Das Glück, das die alten
Juden und die alten Griechen genossen haben, in einer einfachen Weltanschauung
ungestört zu leben, haben wir Heutigen ja alle verloren; wie wir alle Baustile
aller Völker und Zeiten, alle Rassenphhsiognomien und alle Trachten vor
Augen haben, so spuken alle Religionen, Philosophien und Politiker in unsern
Köpfen, sodaß es kein Wunder ist, wenn die Irrenhäuser nicht mehr zu¬
reichen. Aber die meisten wissen sich doch leidlich zu helfen; sie spinnen sich
in die Auffassung ihrer engern Gruppe ein und behandeln die übrigen Ansichten
als Guckkastenbilder; rücken aber deren Vertreter ihnen zu Leibe, so werden
sie als Feinde zurückgewiesen;^) so behauptet sich eine jede Gruppe und hält
ihre Monologe, es unserm Herrgott überlassend, ob und wie er aus dem
Stimmengewirr eine Symphonie, aus dem Gcgeneinanderarbeiten einen Bau
zustande bringen wird. Nietzsche aber war Träger und Vertreter aller dieser
Richtungen zugleich. Ich habe den Geist Europas in mich aufgenommen,
durfte er (XI, 389) von sich sagen und: "Ich habe von allen Europäern, die
leben und gelebt haben, die umfänglichste Seele: Plato, Voltaire, Goethe.
Es hängt von Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim
Wesen der Dinge, ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein
Gegenstück zum indischen wäre" (XII, 365).

Und diesem so gefährdeten Geiste fehlte jedes der schweren Gegengewichte,
die sonst an die Erde fesseln. In jungen Jahren schon zwang ihn Krankheit,
sein Amt aufzugeben. Er strebte auch weder nach Ämtern, Ehren und Würden,
uoch uach Geld und Sinnengenuß. Mit der Befriedigung der täglichen Not¬
durft begnügte er sich, und für diese hatte er niemals selbst zu sorgen; kleine
Erbschaften und die Fürsorge von Mutter und Schwester überhoben ihn aller
unangenehmen Notwendigkeiten, und als kurz vor der Umnachtung seines Geistes
die Geldsorge an ihn herantrat, hatte er den Zusammenhang mit der Gesellschaft
schon verloren. So wenig hatte er rechnen gelernt, daß er den verachtete, der bei
zweihundert bis dreihundert Thalern Einkommen aus Vermögen Beamter oder
Kaufmann wird (XII, 83). Er wußte also nicht einmal, daß ein Mann seines
Standes heute so viel schon auf Wohnung braucht. Vor dem Gemeinen freilich



") Nietzsche bemerkt einmal ganz richtig, die Leute würden wütend, wenn man sie zwingen
wolle, eine ihnen unangenehme Thatsache oder Wahrheit ins Auge zu fasse".
Friedrich Nietzsche

hat, wie der Sextaner seine Vokabeln, oder wie der Sammler seine Steine in
Kästen. Nietzsche aber empfand jede neue Erkenntnis, jede neue Ansicht als
eignes Erlebnis, und es fehlte ihm jene eigentümliche Selbsterhaltungskraft,
die den sonst ähnlich gearteten Goethe befähigte, alles, was ihn bedrückte, durch
Aussprechen aus dem Innersten der Seele herauszubringen, sodasz es fortan
uur als eine nicht mehr aufregende Erinnerung in ihn: lebte. In Nietzsche
lebte alles fort, sodaß seine Seele beständig in Gefahr schwebte, von ent¬
gegengesetzten Strebungen zerrissen zu werden. Das Glück, das die alten
Juden und die alten Griechen genossen haben, in einer einfachen Weltanschauung
ungestört zu leben, haben wir Heutigen ja alle verloren; wie wir alle Baustile
aller Völker und Zeiten, alle Rassenphhsiognomien und alle Trachten vor
Augen haben, so spuken alle Religionen, Philosophien und Politiker in unsern
Köpfen, sodaß es kein Wunder ist, wenn die Irrenhäuser nicht mehr zu¬
reichen. Aber die meisten wissen sich doch leidlich zu helfen; sie spinnen sich
in die Auffassung ihrer engern Gruppe ein und behandeln die übrigen Ansichten
als Guckkastenbilder; rücken aber deren Vertreter ihnen zu Leibe, so werden
sie als Feinde zurückgewiesen;^) so behauptet sich eine jede Gruppe und hält
ihre Monologe, es unserm Herrgott überlassend, ob und wie er aus dem
Stimmengewirr eine Symphonie, aus dem Gcgeneinanderarbeiten einen Bau
zustande bringen wird. Nietzsche aber war Träger und Vertreter aller dieser
Richtungen zugleich. Ich habe den Geist Europas in mich aufgenommen,
durfte er (XI, 389) von sich sagen und: „Ich habe von allen Europäern, die
leben und gelebt haben, die umfänglichste Seele: Plato, Voltaire, Goethe.
Es hängt von Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim
Wesen der Dinge, ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein
Gegenstück zum indischen wäre" (XII, 365).

Und diesem so gefährdeten Geiste fehlte jedes der schweren Gegengewichte,
die sonst an die Erde fesseln. In jungen Jahren schon zwang ihn Krankheit,
sein Amt aufzugeben. Er strebte auch weder nach Ämtern, Ehren und Würden,
uoch uach Geld und Sinnengenuß. Mit der Befriedigung der täglichen Not¬
durft begnügte er sich, und für diese hatte er niemals selbst zu sorgen; kleine
Erbschaften und die Fürsorge von Mutter und Schwester überhoben ihn aller
unangenehmen Notwendigkeiten, und als kurz vor der Umnachtung seines Geistes
die Geldsorge an ihn herantrat, hatte er den Zusammenhang mit der Gesellschaft
schon verloren. So wenig hatte er rechnen gelernt, daß er den verachtete, der bei
zweihundert bis dreihundert Thalern Einkommen aus Vermögen Beamter oder
Kaufmann wird (XII, 83). Er wußte also nicht einmal, daß ein Mann seines
Standes heute so viel schon auf Wohnung braucht. Vor dem Gemeinen freilich



") Nietzsche bemerkt einmal ganz richtig, die Leute würden wütend, wenn man sie zwingen
wolle, eine ihnen unangenehme Thatsache oder Wahrheit ins Auge zu fasse».
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[0196] Friedrich Nietzsche hat, wie der Sextaner seine Vokabeln, oder wie der Sammler seine Steine in Kästen. Nietzsche aber empfand jede neue Erkenntnis, jede neue Ansicht als eignes Erlebnis, und es fehlte ihm jene eigentümliche Selbsterhaltungskraft, die den sonst ähnlich gearteten Goethe befähigte, alles, was ihn bedrückte, durch Aussprechen aus dem Innersten der Seele herauszubringen, sodasz es fortan uur als eine nicht mehr aufregende Erinnerung in ihn: lebte. In Nietzsche lebte alles fort, sodaß seine Seele beständig in Gefahr schwebte, von ent¬ gegengesetzten Strebungen zerrissen zu werden. Das Glück, das die alten Juden und die alten Griechen genossen haben, in einer einfachen Weltanschauung ungestört zu leben, haben wir Heutigen ja alle verloren; wie wir alle Baustile aller Völker und Zeiten, alle Rassenphhsiognomien und alle Trachten vor Augen haben, so spuken alle Religionen, Philosophien und Politiker in unsern Köpfen, sodaß es kein Wunder ist, wenn die Irrenhäuser nicht mehr zu¬ reichen. Aber die meisten wissen sich doch leidlich zu helfen; sie spinnen sich in die Auffassung ihrer engern Gruppe ein und behandeln die übrigen Ansichten als Guckkastenbilder; rücken aber deren Vertreter ihnen zu Leibe, so werden sie als Feinde zurückgewiesen;^) so behauptet sich eine jede Gruppe und hält ihre Monologe, es unserm Herrgott überlassend, ob und wie er aus dem Stimmengewirr eine Symphonie, aus dem Gcgeneinanderarbeiten einen Bau zustande bringen wird. Nietzsche aber war Träger und Vertreter aller dieser Richtungen zugleich. Ich habe den Geist Europas in mich aufgenommen, durfte er (XI, 389) von sich sagen und: „Ich habe von allen Europäern, die leben und gelebt haben, die umfänglichste Seele: Plato, Voltaire, Goethe. Es hängt von Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim Wesen der Dinge, ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein Gegenstück zum indischen wäre" (XII, 365). Und diesem so gefährdeten Geiste fehlte jedes der schweren Gegengewichte, die sonst an die Erde fesseln. In jungen Jahren schon zwang ihn Krankheit, sein Amt aufzugeben. Er strebte auch weder nach Ämtern, Ehren und Würden, uoch uach Geld und Sinnengenuß. Mit der Befriedigung der täglichen Not¬ durft begnügte er sich, und für diese hatte er niemals selbst zu sorgen; kleine Erbschaften und die Fürsorge von Mutter und Schwester überhoben ihn aller unangenehmen Notwendigkeiten, und als kurz vor der Umnachtung seines Geistes die Geldsorge an ihn herantrat, hatte er den Zusammenhang mit der Gesellschaft schon verloren. So wenig hatte er rechnen gelernt, daß er den verachtete, der bei zweihundert bis dreihundert Thalern Einkommen aus Vermögen Beamter oder Kaufmann wird (XII, 83). Er wußte also nicht einmal, daß ein Mann seines Standes heute so viel schon auf Wohnung braucht. Vor dem Gemeinen freilich ") Nietzsche bemerkt einmal ganz richtig, die Leute würden wütend, wenn man sie zwingen wolle, eine ihnen unangenehme Thatsache oder Wahrheit ins Auge zu fasse».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/196>, abgerufen am 27.12.2024.