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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

man ausrufen: zwei Seelen und ein Gedanke! Der Unterschied ist nur der, daß
Nietzsche gleich mir die Schwierigkeiten erkennt, die aus dem Widerspruch zwischen
der wirtschaftlichen Lage und der staatsrechtlichen Stellung des Arbeiterstnndes
entspringen -- Rodbertus hat sie schon vor 1848 kräftig ausgesprochen --,
während Männer vom Schlage Treitschkes die Augen hartnäckig dagegen zu
verschließen Pflegen; Treitschke selbst hat diese Schwierigkeiten wenigstens einiger¬
maßen anerkannt; er ereifert sich daher in seiner Streitschrift gegen das all¬
gemeine Stimmrecht, gegen übertriebne Schulbildung der untern Klassen und will
die freigeistigen Ansichten der höhern Stände in die untern nicht durchsickern lassen.
Früher als ich hat Nietzsche auch schon erkannt, daß es mit der "europäischen
Kleinstaaterei" zu Ende geht, und daß die Zeit des Kampfes um die Herrschaft
über den Erdball angebrochen, den Völkern der Zwang zur großen Politik
auferlegt ist; wenn er jedoch von diesem Gesichtspunkte aus Rußland für die
einzige unter den heutigen Mächten erklärt, die eine Zukunft habe, so lasse ich
das nur unter der hoffentlich unzutreffender Voraussetzung gelten, daß es dem
deutschen Volke entweder an der Einsicht fehlt, seinen Beruf zu erkennen, oder
an dem Mute, ihn zu erfüllen (VII, 156 und VIII, 151). Und um schließlich
noch etwas Nebensächliches zu erwähnen, wir verabscheuen beide das Bier und
den Tabak; Nietzsche meint sogar, ein Mann, der täglich Bier trinkt und raucht,
sei gar nicht fähig, die feinern Probleme auch nur aufzufassen. Darüber
könnte ja vielleicht durch eine Umfrage bei den Männern der feinern Probleme
Gewißheit verschafft werden.

So würde es also ein wenig mich selbst treffen, wenn ich Nietzsche in Ver¬
ruf erklären wollte, und ganz anders gerichtete Männer werden sich wahrschein¬
lich in Nietzsche ebenso wieder finden. Also kann ich seine Lektüre nicht wohl
widerraten. Aber ich möchte bitten, daß jeder, der sich mit ihm abgeben will,
ihn ganz lese, alle zwölf Bände, denn durch die Lektüre einzelner von seinen
Schriften kann allerdings Unheil angerichtet werden. Hat er doch selbst in
den spätern Schriften die härtesten Urteile über die frühern gefällt, und wäre
es ihm vergönnt gewesen, noch weiter im Lichte der Vernunft zu wandeln,
so würde er jetzt wahrscheinlich die letzten von seinen Schriften am allerhärtesten
verurteilen.

Wenn man nun fragt, wie er dazu gekommen ist, zuletzt den Boden unter
den Füßen zu verlieren und kometenartig ins Grenzenlose zu schweifen, so
muß gerade die Erklärungsweise abgewiesen werden, die der Beifall der
Schwarmgeister nahe legt. Nietzsche war nichts weniger als ein zügelloser
Mensch, der alle Bande heiliger Scheu zu lösen versucht hätte, um dem
Sinnengenuß zu fröhnen. Das Erotische, woran man in solchen Fällen zu¬
nächst zu denken pflegt, hat weder in seinen gröbern noch in seinen seinem
Formen bei ihm eine Rolle gespielt; er gehörte auch hierin zu den Aus-
ncihmeuaturen. Für sein Gemüt sand er Genüge in der Freundschaft. Die


Friedrich Nietzsche

man ausrufen: zwei Seelen und ein Gedanke! Der Unterschied ist nur der, daß
Nietzsche gleich mir die Schwierigkeiten erkennt, die aus dem Widerspruch zwischen
der wirtschaftlichen Lage und der staatsrechtlichen Stellung des Arbeiterstnndes
entspringen — Rodbertus hat sie schon vor 1848 kräftig ausgesprochen —,
während Männer vom Schlage Treitschkes die Augen hartnäckig dagegen zu
verschließen Pflegen; Treitschke selbst hat diese Schwierigkeiten wenigstens einiger¬
maßen anerkannt; er ereifert sich daher in seiner Streitschrift gegen das all¬
gemeine Stimmrecht, gegen übertriebne Schulbildung der untern Klassen und will
die freigeistigen Ansichten der höhern Stände in die untern nicht durchsickern lassen.
Früher als ich hat Nietzsche auch schon erkannt, daß es mit der „europäischen
Kleinstaaterei" zu Ende geht, und daß die Zeit des Kampfes um die Herrschaft
über den Erdball angebrochen, den Völkern der Zwang zur großen Politik
auferlegt ist; wenn er jedoch von diesem Gesichtspunkte aus Rußland für die
einzige unter den heutigen Mächten erklärt, die eine Zukunft habe, so lasse ich
das nur unter der hoffentlich unzutreffender Voraussetzung gelten, daß es dem
deutschen Volke entweder an der Einsicht fehlt, seinen Beruf zu erkennen, oder
an dem Mute, ihn zu erfüllen (VII, 156 und VIII, 151). Und um schließlich
noch etwas Nebensächliches zu erwähnen, wir verabscheuen beide das Bier und
den Tabak; Nietzsche meint sogar, ein Mann, der täglich Bier trinkt und raucht,
sei gar nicht fähig, die feinern Probleme auch nur aufzufassen. Darüber
könnte ja vielleicht durch eine Umfrage bei den Männern der feinern Probleme
Gewißheit verschafft werden.

So würde es also ein wenig mich selbst treffen, wenn ich Nietzsche in Ver¬
ruf erklären wollte, und ganz anders gerichtete Männer werden sich wahrschein¬
lich in Nietzsche ebenso wieder finden. Also kann ich seine Lektüre nicht wohl
widerraten. Aber ich möchte bitten, daß jeder, der sich mit ihm abgeben will,
ihn ganz lese, alle zwölf Bände, denn durch die Lektüre einzelner von seinen
Schriften kann allerdings Unheil angerichtet werden. Hat er doch selbst in
den spätern Schriften die härtesten Urteile über die frühern gefällt, und wäre
es ihm vergönnt gewesen, noch weiter im Lichte der Vernunft zu wandeln,
so würde er jetzt wahrscheinlich die letzten von seinen Schriften am allerhärtesten
verurteilen.

Wenn man nun fragt, wie er dazu gekommen ist, zuletzt den Boden unter
den Füßen zu verlieren und kometenartig ins Grenzenlose zu schweifen, so
muß gerade die Erklärungsweise abgewiesen werden, die der Beifall der
Schwarmgeister nahe legt. Nietzsche war nichts weniger als ein zügelloser
Mensch, der alle Bande heiliger Scheu zu lösen versucht hätte, um dem
Sinnengenuß zu fröhnen. Das Erotische, woran man in solchen Fällen zu¬
nächst zu denken pflegt, hat weder in seinen gröbern noch in seinen seinem
Formen bei ihm eine Rolle gespielt; er gehörte auch hierin zu den Aus-
ncihmeuaturen. Für sein Gemüt sand er Genüge in der Freundschaft. Die


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[0189] Friedrich Nietzsche man ausrufen: zwei Seelen und ein Gedanke! Der Unterschied ist nur der, daß Nietzsche gleich mir die Schwierigkeiten erkennt, die aus dem Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen Lage und der staatsrechtlichen Stellung des Arbeiterstnndes entspringen — Rodbertus hat sie schon vor 1848 kräftig ausgesprochen —, während Männer vom Schlage Treitschkes die Augen hartnäckig dagegen zu verschließen Pflegen; Treitschke selbst hat diese Schwierigkeiten wenigstens einiger¬ maßen anerkannt; er ereifert sich daher in seiner Streitschrift gegen das all¬ gemeine Stimmrecht, gegen übertriebne Schulbildung der untern Klassen und will die freigeistigen Ansichten der höhern Stände in die untern nicht durchsickern lassen. Früher als ich hat Nietzsche auch schon erkannt, daß es mit der „europäischen Kleinstaaterei" zu Ende geht, und daß die Zeit des Kampfes um die Herrschaft über den Erdball angebrochen, den Völkern der Zwang zur großen Politik auferlegt ist; wenn er jedoch von diesem Gesichtspunkte aus Rußland für die einzige unter den heutigen Mächten erklärt, die eine Zukunft habe, so lasse ich das nur unter der hoffentlich unzutreffender Voraussetzung gelten, daß es dem deutschen Volke entweder an der Einsicht fehlt, seinen Beruf zu erkennen, oder an dem Mute, ihn zu erfüllen (VII, 156 und VIII, 151). Und um schließlich noch etwas Nebensächliches zu erwähnen, wir verabscheuen beide das Bier und den Tabak; Nietzsche meint sogar, ein Mann, der täglich Bier trinkt und raucht, sei gar nicht fähig, die feinern Probleme auch nur aufzufassen. Darüber könnte ja vielleicht durch eine Umfrage bei den Männern der feinern Probleme Gewißheit verschafft werden. So würde es also ein wenig mich selbst treffen, wenn ich Nietzsche in Ver¬ ruf erklären wollte, und ganz anders gerichtete Männer werden sich wahrschein¬ lich in Nietzsche ebenso wieder finden. Also kann ich seine Lektüre nicht wohl widerraten. Aber ich möchte bitten, daß jeder, der sich mit ihm abgeben will, ihn ganz lese, alle zwölf Bände, denn durch die Lektüre einzelner von seinen Schriften kann allerdings Unheil angerichtet werden. Hat er doch selbst in den spätern Schriften die härtesten Urteile über die frühern gefällt, und wäre es ihm vergönnt gewesen, noch weiter im Lichte der Vernunft zu wandeln, so würde er jetzt wahrscheinlich die letzten von seinen Schriften am allerhärtesten verurteilen. Wenn man nun fragt, wie er dazu gekommen ist, zuletzt den Boden unter den Füßen zu verlieren und kometenartig ins Grenzenlose zu schweifen, so muß gerade die Erklärungsweise abgewiesen werden, die der Beifall der Schwarmgeister nahe legt. Nietzsche war nichts weniger als ein zügelloser Mensch, der alle Bande heiliger Scheu zu lösen versucht hätte, um dem Sinnengenuß zu fröhnen. Das Erotische, woran man in solchen Fällen zu¬ nächst zu denken pflegt, hat weder in seinen gröbern noch in seinen seinem Formen bei ihm eine Rolle gespielt; er gehörte auch hierin zu den Aus- ncihmeuaturen. Für sein Gemüt sand er Genüge in der Freundschaft. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/189>, abgerufen am 23.07.2024.