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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Joseph Lhamberlain

geschrittnen politischen Glaubensbekenntnisses. Ein Sprosse der alten Familien,
ein Cecil, Cavendish oder Stanley, dringt zum Verständnis des Staatswesens
von oben herab. Chamberlain gelangte dazu von unten herauf. Die Er¬
ziehung des Gentleman in Oxford oder Cambridge war ihm versagt gewesen.
Die Jahre, wo der Geist am empfänglichsten ist, hatte er am Schreibpult ver¬
bracht und in einer Umgebung, die von der geistigen Atmosphäre jener Bil¬
dungsstätten nichts eingeatmet hatte. Kein Wunder, daß die Welt sich in
seinem Kopfe anders malte, als in dem der goldnen Jugend. Dem Nonkon-
formisten war natürlich die Staatskirche ein Greuel, und in dem Streite um
den Religionsunterricht in den Schulen treffen wir ihn zuerst auf dem poli¬
tischen Kampfplatze als dessen Gegner. Er wollte den Religionsunterricht ganz
aus den Schulen verbannen oder nur unter der Bedingung zulassen, daß alle
selten in der Behandlung gleichgestellt würden. Die Unmöglichkeit dieser
Forderung leuchtet sofort ein, wenn man die Zahl der in England bestehenden
Sekten betrachtet, die sich jetzt auf etwa dreihundert beläuft und auch zu
Anfang der siebziger Jahre, als der Schulstreit tobte, über zweihundert betrug.

Obgleich nun Chamberlain schon damals Vorsitzender des Ausschusses der
nationalen Erziehungsliga war, so lag der Schwerpunkt seiner öffentlichen
Thätigkeit doch nicht in der staatlichen, sondern in der städtischen Politik. In
der städtischen Selbstverwaltung Birminghams bereitete er sich für das weitere
Feld des britischen Reiches vor. Wir haben auch in Deutschland die Er¬
fahrung gemacht, daß die Verwaltung eines großen städtischen Gemeinwesens
keine schlechte Schule für einen Minister ist, ebenso wie daß ein Mann in der
Jugend radikalen Anschauungen huldigen und doch später einen Kronberater
abgeben kann. Nun giebt es zweierlei Arten von Radikalen: die eine ist
kritischer Natur, in ihrer Folgerichtigkeit voll ätzender Schärfe, überall ver¬
letzend, aber nicht imstande aufzubauen, die andre ist praktischer Natur und
begnügt sich mit dem Erreichbaren. Während jene versuchen, eine senkrechte
Wand hinauszulaufen oder sie mit dem Kopfe einzurennen, sind diese zufrieden
zu warten, bis sie ihre Leiter fertig gezimmert haben. Die Kritiker gelangen,
wenn die Wand widersteht, bald auf den Standpunkt unfruchtbarer Verneinung,
wodurch sie zwar ungemein grundsatztreu erscheinen, aber auch in politischer
Thätigkeit auf bloße Nörgelei beschränkt werden. Mit den Praktikern dagegen
läßt sich ganz wohl auskommen. Sie haben ihr Anpassungsvermögen nicht
eingebüßt und sind oft geeignet, einer etwas eingerosteten Staatsmaschine neues
Leben einzuflößen. Wie Salz für sich allein oder im Übermaße genossen nichts
taugt, aber in gehöriger Mischung ein wertvolles und unentbehrliches Nahrungs¬
mittel ist, so wirken auch radikale Ideen, mit Mäßigkeit angewandt, befruchtend
und wohlthätig. Jeder wirkliche Fortschritt, d. h. ein Fortschritt, der nicht
eine heftige Gegenwirkung unvermeidlich macht, ist auf eine solche maßhaltende
Mischung zurückzuführen. Unmerkbar setzen sich dann die neuen Gedanken


Joseph Lhamberlain

geschrittnen politischen Glaubensbekenntnisses. Ein Sprosse der alten Familien,
ein Cecil, Cavendish oder Stanley, dringt zum Verständnis des Staatswesens
von oben herab. Chamberlain gelangte dazu von unten herauf. Die Er¬
ziehung des Gentleman in Oxford oder Cambridge war ihm versagt gewesen.
Die Jahre, wo der Geist am empfänglichsten ist, hatte er am Schreibpult ver¬
bracht und in einer Umgebung, die von der geistigen Atmosphäre jener Bil¬
dungsstätten nichts eingeatmet hatte. Kein Wunder, daß die Welt sich in
seinem Kopfe anders malte, als in dem der goldnen Jugend. Dem Nonkon-
formisten war natürlich die Staatskirche ein Greuel, und in dem Streite um
den Religionsunterricht in den Schulen treffen wir ihn zuerst auf dem poli¬
tischen Kampfplatze als dessen Gegner. Er wollte den Religionsunterricht ganz
aus den Schulen verbannen oder nur unter der Bedingung zulassen, daß alle
selten in der Behandlung gleichgestellt würden. Die Unmöglichkeit dieser
Forderung leuchtet sofort ein, wenn man die Zahl der in England bestehenden
Sekten betrachtet, die sich jetzt auf etwa dreihundert beläuft und auch zu
Anfang der siebziger Jahre, als der Schulstreit tobte, über zweihundert betrug.

Obgleich nun Chamberlain schon damals Vorsitzender des Ausschusses der
nationalen Erziehungsliga war, so lag der Schwerpunkt seiner öffentlichen
Thätigkeit doch nicht in der staatlichen, sondern in der städtischen Politik. In
der städtischen Selbstverwaltung Birminghams bereitete er sich für das weitere
Feld des britischen Reiches vor. Wir haben auch in Deutschland die Er¬
fahrung gemacht, daß die Verwaltung eines großen städtischen Gemeinwesens
keine schlechte Schule für einen Minister ist, ebenso wie daß ein Mann in der
Jugend radikalen Anschauungen huldigen und doch später einen Kronberater
abgeben kann. Nun giebt es zweierlei Arten von Radikalen: die eine ist
kritischer Natur, in ihrer Folgerichtigkeit voll ätzender Schärfe, überall ver¬
letzend, aber nicht imstande aufzubauen, die andre ist praktischer Natur und
begnügt sich mit dem Erreichbaren. Während jene versuchen, eine senkrechte
Wand hinauszulaufen oder sie mit dem Kopfe einzurennen, sind diese zufrieden
zu warten, bis sie ihre Leiter fertig gezimmert haben. Die Kritiker gelangen,
wenn die Wand widersteht, bald auf den Standpunkt unfruchtbarer Verneinung,
wodurch sie zwar ungemein grundsatztreu erscheinen, aber auch in politischer
Thätigkeit auf bloße Nörgelei beschränkt werden. Mit den Praktikern dagegen
läßt sich ganz wohl auskommen. Sie haben ihr Anpassungsvermögen nicht
eingebüßt und sind oft geeignet, einer etwas eingerosteten Staatsmaschine neues
Leben einzuflößen. Wie Salz für sich allein oder im Übermaße genossen nichts
taugt, aber in gehöriger Mischung ein wertvolles und unentbehrliches Nahrungs¬
mittel ist, so wirken auch radikale Ideen, mit Mäßigkeit angewandt, befruchtend
und wohlthätig. Jeder wirkliche Fortschritt, d. h. ein Fortschritt, der nicht
eine heftige Gegenwirkung unvermeidlich macht, ist auf eine solche maßhaltende
Mischung zurückzuführen. Unmerkbar setzen sich dann die neuen Gedanken


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[0163] Joseph Lhamberlain geschrittnen politischen Glaubensbekenntnisses. Ein Sprosse der alten Familien, ein Cecil, Cavendish oder Stanley, dringt zum Verständnis des Staatswesens von oben herab. Chamberlain gelangte dazu von unten herauf. Die Er¬ ziehung des Gentleman in Oxford oder Cambridge war ihm versagt gewesen. Die Jahre, wo der Geist am empfänglichsten ist, hatte er am Schreibpult ver¬ bracht und in einer Umgebung, die von der geistigen Atmosphäre jener Bil¬ dungsstätten nichts eingeatmet hatte. Kein Wunder, daß die Welt sich in seinem Kopfe anders malte, als in dem der goldnen Jugend. Dem Nonkon- formisten war natürlich die Staatskirche ein Greuel, und in dem Streite um den Religionsunterricht in den Schulen treffen wir ihn zuerst auf dem poli¬ tischen Kampfplatze als dessen Gegner. Er wollte den Religionsunterricht ganz aus den Schulen verbannen oder nur unter der Bedingung zulassen, daß alle selten in der Behandlung gleichgestellt würden. Die Unmöglichkeit dieser Forderung leuchtet sofort ein, wenn man die Zahl der in England bestehenden Sekten betrachtet, die sich jetzt auf etwa dreihundert beläuft und auch zu Anfang der siebziger Jahre, als der Schulstreit tobte, über zweihundert betrug. Obgleich nun Chamberlain schon damals Vorsitzender des Ausschusses der nationalen Erziehungsliga war, so lag der Schwerpunkt seiner öffentlichen Thätigkeit doch nicht in der staatlichen, sondern in der städtischen Politik. In der städtischen Selbstverwaltung Birminghams bereitete er sich für das weitere Feld des britischen Reiches vor. Wir haben auch in Deutschland die Er¬ fahrung gemacht, daß die Verwaltung eines großen städtischen Gemeinwesens keine schlechte Schule für einen Minister ist, ebenso wie daß ein Mann in der Jugend radikalen Anschauungen huldigen und doch später einen Kronberater abgeben kann. Nun giebt es zweierlei Arten von Radikalen: die eine ist kritischer Natur, in ihrer Folgerichtigkeit voll ätzender Schärfe, überall ver¬ letzend, aber nicht imstande aufzubauen, die andre ist praktischer Natur und begnügt sich mit dem Erreichbaren. Während jene versuchen, eine senkrechte Wand hinauszulaufen oder sie mit dem Kopfe einzurennen, sind diese zufrieden zu warten, bis sie ihre Leiter fertig gezimmert haben. Die Kritiker gelangen, wenn die Wand widersteht, bald auf den Standpunkt unfruchtbarer Verneinung, wodurch sie zwar ungemein grundsatztreu erscheinen, aber auch in politischer Thätigkeit auf bloße Nörgelei beschränkt werden. Mit den Praktikern dagegen läßt sich ganz wohl auskommen. Sie haben ihr Anpassungsvermögen nicht eingebüßt und sind oft geeignet, einer etwas eingerosteten Staatsmaschine neues Leben einzuflößen. Wie Salz für sich allein oder im Übermaße genossen nichts taugt, aber in gehöriger Mischung ein wertvolles und unentbehrliches Nahrungs¬ mittel ist, so wirken auch radikale Ideen, mit Mäßigkeit angewandt, befruchtend und wohlthätig. Jeder wirkliche Fortschritt, d. h. ein Fortschritt, der nicht eine heftige Gegenwirkung unvermeidlich macht, ist auf eine solche maßhaltende Mischung zurückzuführen. Unmerkbar setzen sich dann die neuen Gedanken

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/163>, abgerufen am 23.07.2024.