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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

kleine Beamte benutzte die Wohnstube zugleich als Eßzimmer und als Arbeits- und
Spielzimmer für die Kinder. Heutzutage findet man auch schon in diesen Kreisen
besondre Empfangszimmer, Eßzimmer, Schlaf- und Wohnzimmer. Von Lüftung
der Zimmer war bei Handwerksleuten kaum die Rede. Ich erinnere mich, daß
ein Handwerksmeister meinem Vater auf dessen Ermahnung, doch ein Fenster zu
öffnen, erwiderte: "O nein, gewiß nicht, da jagt man ja das Holz zum Fenster
hinaus, und so reich bin ich nicht!" Darüber find die Begriffe doch jetzt geklärt.
Man weiß besser Bescheid über die Gesundheitspflege. Das zeigen auch unsre
heutigen Schulgebäude in Stadt und Land, wenn man sie mit den elenden Kasten
vergleicht, in denen wir in unsrer Jugendzeit den Unterricht "genossen." Diese
Steigerung von Raum- und Luftbedürfnis ist ebenso eine Ursache für die Aus¬
dehnung unsrer Städte, wie die Vermehrung der Bevölkerung durch Zuzug von
außen.

Wie sich nun in Bezug auf die Wohnungsverhältnisse eine Annäherung der
Stände unter einander vollzogen hat und durch die billige Herstellung schöner
Wohnungen immer weiter vollziehen wird, so geht anch die Annäherung und Aus¬
gleichung der Stände in ihrer Bekleidung immer weiter vorwärts. Konnte man
noch im vorigen Jahrhundert den Bürgerlichen vom Adlichen schon in der Be¬
kleidung unterscheiden, indem man dem Bürgerlichen das Tragen bestimmter Farben
in seiner Kleidung, die Verwendung gestickter Röcke usw. untersagte, so ist die Be¬
kleidung jetzt vom Vornehmsten bis zum Niedrigsten in Form und Farbe so ziemlich
gleich und höchstens, vom Bettler abgesehen, in der Güte des Stoffes und in besserer
Erhaltung verschieden. Ein Engländer, ein Franzose, ein Russe der gebildeten
Klasse unterscheidet sich in seiner Kleidung nicht vom Deutschen, und auch der
Ungar und der Pole, ja selbst der Türke trägt seine Nationaltracht nur noch bei
feierlichen Gelegenheiten. In Universitätsstädten laufen Asiaten, Afrikaner, Söhne
der Valkauhalbinsel zu Dutzenden herum; an ihrer Bekleidung kann man sie nicht
erkennen. Selbst der Tiroler, der Handschuhe in den Badeorten verkauft oder mit
Landsleuten beiderlei Geschlechts Jodler vorträgt und die Leute mit "du" an¬
biedert, trägt gewöhnlich nicht die wirkliche Tiroler Landestracht, sondern ein
Phantasiekostüm, wie es der Philister aller Nationen in jedem Maskengeschäfte für
seine Karnevalsbelnstigungen kaufen kann. Für gewöhnlich geht aber auch der
Jodel- und Haudschuhtiroler in Zivil wie andre Menschen.

In frühern Jahrhunderten beschäftigten sich Behörden und Fürsten mit der
Tracht ihrer Unterthanen. Wir haben z. B. Anträge des Stadtrats von Darm-
stadt aus dem Jahre 1677, worin der Landgraf gebeten wird, "eine solche Kleider¬
ordnung zu machen, darnach ein jeder sich zu achten und keiner dem andern. es
gleich oder vorthnn möge." Die Landgräfin Elisabeth Dorothea erließ iir der'
That eine ausführliche Kleiderordnung im Jahre 1684, worin "ein jedes, so oft
es mit einer Tracht, die seinem Stand zuwider ist, betroffen würde, mit zehn
Gulden oder Gefängnisstrafe verfallen sein solle." Wiederholt wird in der Ver¬
ordnung auf Berücksichtigung von Herkommen und Stand bei der Auswahl der
Bekleidung erinnert und eine ganze Anzahl verbotner Bekleidungsstücke aufgezählt/
So wenig Erfolg diese Verordnungen gehabt haben, ebenso wenig wird es gelingen,
bei dem heutigen Verkehr der Völker und der einzelnen Stände unter einander die
Aufrechterhaltung der immer mehr schwindenden alten Volkstrachten anders'zu er-^
reichen als vorübergehend bei historischen Festzügen. Überhaupt kann ja bei un--'
befangner Betrachtung der heutigen Verhältnisse von einer Erhaltung der Trachten
gar nicht mehr die Rede sein, man könnte höchstens von einer Wiedereinführung
<L. v. -H5 " sprechen. Und das ist sicher unmöglich. ! ,' ?


Maßgebliches und Unmaßgebliches

kleine Beamte benutzte die Wohnstube zugleich als Eßzimmer und als Arbeits- und
Spielzimmer für die Kinder. Heutzutage findet man auch schon in diesen Kreisen
besondre Empfangszimmer, Eßzimmer, Schlaf- und Wohnzimmer. Von Lüftung
der Zimmer war bei Handwerksleuten kaum die Rede. Ich erinnere mich, daß
ein Handwerksmeister meinem Vater auf dessen Ermahnung, doch ein Fenster zu
öffnen, erwiderte: „O nein, gewiß nicht, da jagt man ja das Holz zum Fenster
hinaus, und so reich bin ich nicht!" Darüber find die Begriffe doch jetzt geklärt.
Man weiß besser Bescheid über die Gesundheitspflege. Das zeigen auch unsre
heutigen Schulgebäude in Stadt und Land, wenn man sie mit den elenden Kasten
vergleicht, in denen wir in unsrer Jugendzeit den Unterricht „genossen." Diese
Steigerung von Raum- und Luftbedürfnis ist ebenso eine Ursache für die Aus¬
dehnung unsrer Städte, wie die Vermehrung der Bevölkerung durch Zuzug von
außen.

Wie sich nun in Bezug auf die Wohnungsverhältnisse eine Annäherung der
Stände unter einander vollzogen hat und durch die billige Herstellung schöner
Wohnungen immer weiter vollziehen wird, so geht anch die Annäherung und Aus¬
gleichung der Stände in ihrer Bekleidung immer weiter vorwärts. Konnte man
noch im vorigen Jahrhundert den Bürgerlichen vom Adlichen schon in der Be¬
kleidung unterscheiden, indem man dem Bürgerlichen das Tragen bestimmter Farben
in seiner Kleidung, die Verwendung gestickter Röcke usw. untersagte, so ist die Be¬
kleidung jetzt vom Vornehmsten bis zum Niedrigsten in Form und Farbe so ziemlich
gleich und höchstens, vom Bettler abgesehen, in der Güte des Stoffes und in besserer
Erhaltung verschieden. Ein Engländer, ein Franzose, ein Russe der gebildeten
Klasse unterscheidet sich in seiner Kleidung nicht vom Deutschen, und auch der
Ungar und der Pole, ja selbst der Türke trägt seine Nationaltracht nur noch bei
feierlichen Gelegenheiten. In Universitätsstädten laufen Asiaten, Afrikaner, Söhne
der Valkauhalbinsel zu Dutzenden herum; an ihrer Bekleidung kann man sie nicht
erkennen. Selbst der Tiroler, der Handschuhe in den Badeorten verkauft oder mit
Landsleuten beiderlei Geschlechts Jodler vorträgt und die Leute mit „du" an¬
biedert, trägt gewöhnlich nicht die wirkliche Tiroler Landestracht, sondern ein
Phantasiekostüm, wie es der Philister aller Nationen in jedem Maskengeschäfte für
seine Karnevalsbelnstigungen kaufen kann. Für gewöhnlich geht aber auch der
Jodel- und Haudschuhtiroler in Zivil wie andre Menschen.

In frühern Jahrhunderten beschäftigten sich Behörden und Fürsten mit der
Tracht ihrer Unterthanen. Wir haben z. B. Anträge des Stadtrats von Darm-
stadt aus dem Jahre 1677, worin der Landgraf gebeten wird, „eine solche Kleider¬
ordnung zu machen, darnach ein jeder sich zu achten und keiner dem andern. es
gleich oder vorthnn möge." Die Landgräfin Elisabeth Dorothea erließ iir der'
That eine ausführliche Kleiderordnung im Jahre 1684, worin „ein jedes, so oft
es mit einer Tracht, die seinem Stand zuwider ist, betroffen würde, mit zehn
Gulden oder Gefängnisstrafe verfallen sein solle." Wiederholt wird in der Ver¬
ordnung auf Berücksichtigung von Herkommen und Stand bei der Auswahl der
Bekleidung erinnert und eine ganze Anzahl verbotner Bekleidungsstücke aufgezählt/
So wenig Erfolg diese Verordnungen gehabt haben, ebenso wenig wird es gelingen,
bei dem heutigen Verkehr der Völker und der einzelnen Stände unter einander die
Aufrechterhaltung der immer mehr schwindenden alten Volkstrachten anders'zu er-^
reichen als vorübergehend bei historischen Festzügen. Überhaupt kann ja bei un--'
befangner Betrachtung der heutigen Verhältnisse von einer Erhaltung der Trachten
gar nicht mehr die Rede sein, man könnte höchstens von einer Wiedereinführung
<L. v. -H5 " sprechen. Und das ist sicher unmöglich. ! ,' ?


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[0156] Maßgebliches und Unmaßgebliches kleine Beamte benutzte die Wohnstube zugleich als Eßzimmer und als Arbeits- und Spielzimmer für die Kinder. Heutzutage findet man auch schon in diesen Kreisen besondre Empfangszimmer, Eßzimmer, Schlaf- und Wohnzimmer. Von Lüftung der Zimmer war bei Handwerksleuten kaum die Rede. Ich erinnere mich, daß ein Handwerksmeister meinem Vater auf dessen Ermahnung, doch ein Fenster zu öffnen, erwiderte: „O nein, gewiß nicht, da jagt man ja das Holz zum Fenster hinaus, und so reich bin ich nicht!" Darüber find die Begriffe doch jetzt geklärt. Man weiß besser Bescheid über die Gesundheitspflege. Das zeigen auch unsre heutigen Schulgebäude in Stadt und Land, wenn man sie mit den elenden Kasten vergleicht, in denen wir in unsrer Jugendzeit den Unterricht „genossen." Diese Steigerung von Raum- und Luftbedürfnis ist ebenso eine Ursache für die Aus¬ dehnung unsrer Städte, wie die Vermehrung der Bevölkerung durch Zuzug von außen. Wie sich nun in Bezug auf die Wohnungsverhältnisse eine Annäherung der Stände unter einander vollzogen hat und durch die billige Herstellung schöner Wohnungen immer weiter vollziehen wird, so geht anch die Annäherung und Aus¬ gleichung der Stände in ihrer Bekleidung immer weiter vorwärts. Konnte man noch im vorigen Jahrhundert den Bürgerlichen vom Adlichen schon in der Be¬ kleidung unterscheiden, indem man dem Bürgerlichen das Tragen bestimmter Farben in seiner Kleidung, die Verwendung gestickter Röcke usw. untersagte, so ist die Be¬ kleidung jetzt vom Vornehmsten bis zum Niedrigsten in Form und Farbe so ziemlich gleich und höchstens, vom Bettler abgesehen, in der Güte des Stoffes und in besserer Erhaltung verschieden. Ein Engländer, ein Franzose, ein Russe der gebildeten Klasse unterscheidet sich in seiner Kleidung nicht vom Deutschen, und auch der Ungar und der Pole, ja selbst der Türke trägt seine Nationaltracht nur noch bei feierlichen Gelegenheiten. In Universitätsstädten laufen Asiaten, Afrikaner, Söhne der Valkauhalbinsel zu Dutzenden herum; an ihrer Bekleidung kann man sie nicht erkennen. Selbst der Tiroler, der Handschuhe in den Badeorten verkauft oder mit Landsleuten beiderlei Geschlechts Jodler vorträgt und die Leute mit „du" an¬ biedert, trägt gewöhnlich nicht die wirkliche Tiroler Landestracht, sondern ein Phantasiekostüm, wie es der Philister aller Nationen in jedem Maskengeschäfte für seine Karnevalsbelnstigungen kaufen kann. Für gewöhnlich geht aber auch der Jodel- und Haudschuhtiroler in Zivil wie andre Menschen. In frühern Jahrhunderten beschäftigten sich Behörden und Fürsten mit der Tracht ihrer Unterthanen. Wir haben z. B. Anträge des Stadtrats von Darm- stadt aus dem Jahre 1677, worin der Landgraf gebeten wird, „eine solche Kleider¬ ordnung zu machen, darnach ein jeder sich zu achten und keiner dem andern. es gleich oder vorthnn möge." Die Landgräfin Elisabeth Dorothea erließ iir der' That eine ausführliche Kleiderordnung im Jahre 1684, worin „ein jedes, so oft es mit einer Tracht, die seinem Stand zuwider ist, betroffen würde, mit zehn Gulden oder Gefängnisstrafe verfallen sein solle." Wiederholt wird in der Ver¬ ordnung auf Berücksichtigung von Herkommen und Stand bei der Auswahl der Bekleidung erinnert und eine ganze Anzahl verbotner Bekleidungsstücke aufgezählt/ So wenig Erfolg diese Verordnungen gehabt haben, ebenso wenig wird es gelingen, bei dem heutigen Verkehr der Völker und der einzelnen Stände unter einander die Aufrechterhaltung der immer mehr schwindenden alten Volkstrachten anders'zu er-^ reichen als vorübergehend bei historischen Festzügen. Überhaupt kann ja bei un--' befangner Betrachtung der heutigen Verhältnisse von einer Erhaltung der Trachten gar nicht mehr die Rede sein, man könnte höchstens von einer Wiedereinführung <L. v. -H5 " sprechen. Und das ist sicher unmöglich. ! ,' ?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/156>, abgerufen am 27.12.2024.