Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches kann er sich durch Fleiß und Talent leicht emporarbeiten; er benimmt sich gegen Maßgebliches und Unmaßgebliches kann er sich durch Fleiß und Talent leicht emporarbeiten; er benimmt sich gegen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0152" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227788"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_397" prev="#ID_396"> kann er sich durch Fleiß und Talent leicht emporarbeiten; er benimmt sich gegen<lb/> seinen Arbeitgeber höflich, selten unterwürfig und mißtrauisch; das Wort Arbeiter<lb/> hat keine herabsetzende Bedeutung, man geht gern in die Fabrik. In Dentschlnnd<lb/> ist sich der Arbeiter seiner Untergebenheit bewußt; von Jngend an lebte er ab¬<lb/> gesondert von den Unternehmerkreisen; wegen seiner geringen physischen nud<lb/> psychischen Eigenschaften arbeitet er sich nnr selten empor; sein Auftreten gegenüber<lb/> dem Arbeitgeber ist vielfach demütig oder argwöhnisch; die Bezeichnung Arbeiter<lb/> hat etwas herabsetzendes; man liebt die Fabrikarbeit wenig und sucht sich, wenn,<lb/> irgend möglich, als Handwerker zu erhalten." Wie im ganzen Volke, so hat im<lb/> Arbeiterstande bei den Nordameriknnern die Panmixie große Gleichmäßigkeit, bei<lb/> den Deutschen die Absonderung und Inzucht starke Differenzirung erzeugt. Dort<lb/> steht der Durchschnitt der körperlichen und geistigen Begabung höher als in Deutsch¬<lb/> land; dagegen giebt es keine geistig so hoch stehenden Menschen und auch keine so<lb/> hoch qualifizirten Arbeiter wie bei uns, dafür aber auch keine solche Verkümmerung,<lb/> wie sie bei uns leider häufig ist. Die Verschmelzung beider Völker mit ihren<lb/> eigentümlichen Einrichtungen würde nach Ansicht des Verfassers „ein rein orga¬<lb/> nisches Volk" geben. (Wir wollen über die Berechtigung der Bezeichnung „orga¬<lb/> nisch" nicht streiten, aber wenn sie einmal gewählt war, so sehen wir nicht recht<lb/> ein, warum sich der Verfasser für den Titel „organische Güterverteilung" entschieden<lb/> hat, da es sich doch um weit mehr als bloß um die Güterverteilung handelt.)<lb/> Kindermcmn glaubt, daß unsre Zeit dieser „organischen" Verfassung zustrebe, daß<lb/> aber auch diese, wenn sie hergestellt sein werde, ihre eigentümlichen Übel erzeugen<lb/> werde. Was die Lage der Glasarbeiter betrifft, von der man wohl auf die der<lb/> Lohnarbeiter in den übrigen Industrien schließen darf, so wird nachgewiesen, daß<lb/> in Nordamerika die Löhne bei einzelnen Unterabteilungen dieser Arbeiterklasse viermal,<lb/> im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch stehen. Durch den höhern Preis einzelner<lb/> Güter, wie der Wohnungen, dnrch das Fehlen der Wohlfahrtseinrichtungen, deren<lb/> sich viele deutsche Arbeiter erfreuen, nud durch die UnWirtschaftlichkeit der amerika¬<lb/> nischen Hausfrauen wird dieser Vorteil bedeutend vermindert; die sehr genaue,<lb/> auf naturwissenschaftlicher Grundlage aufgebaute Berechnung des Verfassers ergiebt<lb/> ein durchschnittliches Übergewicht von 60 Prozent für den amerikanischen Glas¬<lb/> arbeiter, und das fällt schon ins Gewicht; der amerikanische Arbeiter lebt besser<lb/> als der deutsche, macht im Durchschnitt weniger Schulden und spart trotz lieder¬<lb/> lichern Lebens mehr, sodaß er leichter auf das Sprungbrett gelangt, von wo er<lb/> sich in die Kapitalistenklasse emporschwingen kann. Der Stoff für die Arbeit ist<lb/> mit großem Fleiß gesammelt und mit der strengsten wissenschaftlichen Sorgfalt und<lb/> Sauberkeit bearbeitet worden. Außer Behörden, wie dem badischen Finanzminister<lb/> Buchenberger, dem statistischen Bureau in Karlsruhe und den Regierungsbehörden<lb/> zu Straßburg und Trier haben fünf Arbeiterorganisationen, einundzwanzig Unter¬<lb/> nehmer und vierundsiebzig Arbeiter Beiträge geliefert; die Veitragenden werden<lb/> alle namentlich angeführt. Der Unterschied der beiden Systeme macht sich, wie der Ver¬<lb/> fasser darlegt, auch schou bei einer solchen Stoffsammlung dadurch bemerkbar, daß sich<lb/> der Saiuniler in Amerika mehr an die Arbeiter, in Dentschland mehr an die Unter¬<lb/> nehmer nild die Behörden halten kann und muß, und daß dort, wo die Arbeiter selbst<lb/> von den Behörden in die statistische Thätigkeit hineingezogen und darin unterrichtet<lb/> werden, das im persönlichen Verkehr, nicht bloß auf schriftlichen Wege, erlangte<lb/> statistische Rohmaterial reichlicher und besser ist und deu individuellen Charakter<lb/> der Thatsachen hervortreten läßt, während in Dentschland die Bearbeitung des Ur-<lb/> matcrials in Dnrchschnittsberechilnngen und Vergleichungen weiter fortgeschritten ist.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0152]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
kann er sich durch Fleiß und Talent leicht emporarbeiten; er benimmt sich gegen
seinen Arbeitgeber höflich, selten unterwürfig und mißtrauisch; das Wort Arbeiter
hat keine herabsetzende Bedeutung, man geht gern in die Fabrik. In Dentschlnnd
ist sich der Arbeiter seiner Untergebenheit bewußt; von Jngend an lebte er ab¬
gesondert von den Unternehmerkreisen; wegen seiner geringen physischen nud
psychischen Eigenschaften arbeitet er sich nnr selten empor; sein Auftreten gegenüber
dem Arbeitgeber ist vielfach demütig oder argwöhnisch; die Bezeichnung Arbeiter
hat etwas herabsetzendes; man liebt die Fabrikarbeit wenig und sucht sich, wenn,
irgend möglich, als Handwerker zu erhalten." Wie im ganzen Volke, so hat im
Arbeiterstande bei den Nordameriknnern die Panmixie große Gleichmäßigkeit, bei
den Deutschen die Absonderung und Inzucht starke Differenzirung erzeugt. Dort
steht der Durchschnitt der körperlichen und geistigen Begabung höher als in Deutsch¬
land; dagegen giebt es keine geistig so hoch stehenden Menschen und auch keine so
hoch qualifizirten Arbeiter wie bei uns, dafür aber auch keine solche Verkümmerung,
wie sie bei uns leider häufig ist. Die Verschmelzung beider Völker mit ihren
eigentümlichen Einrichtungen würde nach Ansicht des Verfassers „ein rein orga¬
nisches Volk" geben. (Wir wollen über die Berechtigung der Bezeichnung „orga¬
nisch" nicht streiten, aber wenn sie einmal gewählt war, so sehen wir nicht recht
ein, warum sich der Verfasser für den Titel „organische Güterverteilung" entschieden
hat, da es sich doch um weit mehr als bloß um die Güterverteilung handelt.)
Kindermcmn glaubt, daß unsre Zeit dieser „organischen" Verfassung zustrebe, daß
aber auch diese, wenn sie hergestellt sein werde, ihre eigentümlichen Übel erzeugen
werde. Was die Lage der Glasarbeiter betrifft, von der man wohl auf die der
Lohnarbeiter in den übrigen Industrien schließen darf, so wird nachgewiesen, daß
in Nordamerika die Löhne bei einzelnen Unterabteilungen dieser Arbeiterklasse viermal,
im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch stehen. Durch den höhern Preis einzelner
Güter, wie der Wohnungen, dnrch das Fehlen der Wohlfahrtseinrichtungen, deren
sich viele deutsche Arbeiter erfreuen, nud durch die UnWirtschaftlichkeit der amerika¬
nischen Hausfrauen wird dieser Vorteil bedeutend vermindert; die sehr genaue,
auf naturwissenschaftlicher Grundlage aufgebaute Berechnung des Verfassers ergiebt
ein durchschnittliches Übergewicht von 60 Prozent für den amerikanischen Glas¬
arbeiter, und das fällt schon ins Gewicht; der amerikanische Arbeiter lebt besser
als der deutsche, macht im Durchschnitt weniger Schulden und spart trotz lieder¬
lichern Lebens mehr, sodaß er leichter auf das Sprungbrett gelangt, von wo er
sich in die Kapitalistenklasse emporschwingen kann. Der Stoff für die Arbeit ist
mit großem Fleiß gesammelt und mit der strengsten wissenschaftlichen Sorgfalt und
Sauberkeit bearbeitet worden. Außer Behörden, wie dem badischen Finanzminister
Buchenberger, dem statistischen Bureau in Karlsruhe und den Regierungsbehörden
zu Straßburg und Trier haben fünf Arbeiterorganisationen, einundzwanzig Unter¬
nehmer und vierundsiebzig Arbeiter Beiträge geliefert; die Veitragenden werden
alle namentlich angeführt. Der Unterschied der beiden Systeme macht sich, wie der Ver¬
fasser darlegt, auch schou bei einer solchen Stoffsammlung dadurch bemerkbar, daß sich
der Saiuniler in Amerika mehr an die Arbeiter, in Dentschland mehr an die Unter¬
nehmer nild die Behörden halten kann und muß, und daß dort, wo die Arbeiter selbst
von den Behörden in die statistische Thätigkeit hineingezogen und darin unterrichtet
werden, das im persönlichen Verkehr, nicht bloß auf schriftlichen Wege, erlangte
statistische Rohmaterial reichlicher und besser ist und deu individuellen Charakter
der Thatsachen hervortreten läßt, während in Dentschland die Bearbeitung des Ur-
matcrials in Dnrchschnittsberechilnngen und Vergleichungen weiter fortgeschritten ist.
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