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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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gewissermaßen die Erklärung des bekannten Wortes von Gvrtschakow: I^ii.
üussäs ne bonas xss, mai8 Sö rvoueillö, indem er die mannigfaltigen
Reformen auf dem Gebiete der Landwirtschaft, des Heeres und des Schul¬
wesens erörtert und endlich zu demi Resultate kommt, daß Nußland unter
Alexander II. wohl in Asien von Erfolg zu Erfolg fortschreitet, aber nicht
nur in der Balkanhalbinsel seinen Einfluß zum Teil verliert, sondern auch im
Innern durch das schleichende Gift des Nihilismus seine Festigkeit einbüßt.
Fast teilnahmlos sieht es zu, wie das von Napoleon III. verkündete und zuerst
in Italien zum Siege geführte Nationalitätsprinzip mehr und mehr die Zer¬
setzung des Türkenreichs herbeiführt. Aber schon erscheint nicht Nußland allein
in seinem politischen Einflüsse geschwächt, sondern auch Napoleons III. Stimme
verhallt in Italien mehr und mehr in dem Kampf der Geister, die er rief,
und wenige Jahre später bringt ihm sein Versuch, dnrch Einmischung in die
verwirrten Zustände Mexikos den Rang eines Weltherrschers zu erwerben,
durch den tragischen Untergang des Kaisers Maximilian eine nie auszutilgende
Schmach ein. Die ausführliche Darstellung der amerikanischen Zustände vor
und nach dem Bundeskriege, wie des Bundeskrieges selbst und der erschüt¬
ternden Katastrophe von Queretaro gehören zu den schönsten Stellen des
Buches.

Den zweiten Abschnitt, das Zeitalter Wilhelms I., leitet Kaemmel ein
durch eine ausführliche Darstellung des deutschen und österreichischen Wirt¬
schafts- und Geisteslebens, die er mit den Worten abschließt: "Und ein so
hochgebildetes, großes Volk von so gewaltigen geistigen und wirtschaftlichen
Interessen, von solchem Reichtum an bedeutenden Persönlichkeiten, entbehrte
noch immer selbst jenes Maßes von politischer Einheit, das ihm die Sicherung
seiner Kulturarbeit und der ihm gebührenden Stellung in der Welt bewirkte!
Diese Einheit zu schaffen um jeden Preis war ebenso gut eine praktische Not¬
wendigkeit wie eine sittliche Pflicht." So eröffnet er zugleich den Eintritt
Wilhelms I. nicht in die Weltgeschichte, sondern zunächst in die Leidens¬
geschichte seiner ersten Regierungsjahre, sein mühvolles Arbeiten an der Heeres¬
reform und seinen Kampf mit dem Abgeordnetenhause bis zu jenem erschüt¬
ternden Augenblick, wo der sünfundsechzigjährige Monarch, von der Masse ge¬
schmäht, von den Freisinnigen verkannt, selbst von feinem Sohne und seiner
Gemahlin nicht verstanden, den schmerzlichen Entschluß faßt, der Negierung zu
entsagen, aber die fertig geschriebne Erklärung doch wieder zerreißt, als er den
gewaltigsten Staatsmann dieses Jahrhunderts bereit findet, die Leitung des
preußischen Staates an seiner Seite zu übernehmen, auch ohne Budget und
ohne Programm. In dieser bedeutsamen Stunde, am 22. September 1862,
kam jener Bund zu stände zwischen dem pflichttreuen Monarchen und dem
großen Staatsmanne zum gemeinsamen Leiden und Kämpfen für die große
Nation, die von beiden nichts wissen wollte. Auch der Gefahren ihres kühnen


gewissermaßen die Erklärung des bekannten Wortes von Gvrtschakow: I^ii.
üussäs ne bonas xss, mai8 Sö rvoueillö, indem er die mannigfaltigen
Reformen auf dem Gebiete der Landwirtschaft, des Heeres und des Schul¬
wesens erörtert und endlich zu demi Resultate kommt, daß Nußland unter
Alexander II. wohl in Asien von Erfolg zu Erfolg fortschreitet, aber nicht
nur in der Balkanhalbinsel seinen Einfluß zum Teil verliert, sondern auch im
Innern durch das schleichende Gift des Nihilismus seine Festigkeit einbüßt.
Fast teilnahmlos sieht es zu, wie das von Napoleon III. verkündete und zuerst
in Italien zum Siege geführte Nationalitätsprinzip mehr und mehr die Zer¬
setzung des Türkenreichs herbeiführt. Aber schon erscheint nicht Nußland allein
in seinem politischen Einflüsse geschwächt, sondern auch Napoleons III. Stimme
verhallt in Italien mehr und mehr in dem Kampf der Geister, die er rief,
und wenige Jahre später bringt ihm sein Versuch, dnrch Einmischung in die
verwirrten Zustände Mexikos den Rang eines Weltherrschers zu erwerben,
durch den tragischen Untergang des Kaisers Maximilian eine nie auszutilgende
Schmach ein. Die ausführliche Darstellung der amerikanischen Zustände vor
und nach dem Bundeskriege, wie des Bundeskrieges selbst und der erschüt¬
ternden Katastrophe von Queretaro gehören zu den schönsten Stellen des
Buches.

Den zweiten Abschnitt, das Zeitalter Wilhelms I., leitet Kaemmel ein
durch eine ausführliche Darstellung des deutschen und österreichischen Wirt¬
schafts- und Geisteslebens, die er mit den Worten abschließt: „Und ein so
hochgebildetes, großes Volk von so gewaltigen geistigen und wirtschaftlichen
Interessen, von solchem Reichtum an bedeutenden Persönlichkeiten, entbehrte
noch immer selbst jenes Maßes von politischer Einheit, das ihm die Sicherung
seiner Kulturarbeit und der ihm gebührenden Stellung in der Welt bewirkte!
Diese Einheit zu schaffen um jeden Preis war ebenso gut eine praktische Not¬
wendigkeit wie eine sittliche Pflicht." So eröffnet er zugleich den Eintritt
Wilhelms I. nicht in die Weltgeschichte, sondern zunächst in die Leidens¬
geschichte seiner ersten Regierungsjahre, sein mühvolles Arbeiten an der Heeres¬
reform und seinen Kampf mit dem Abgeordnetenhause bis zu jenem erschüt¬
ternden Augenblick, wo der sünfundsechzigjährige Monarch, von der Masse ge¬
schmäht, von den Freisinnigen verkannt, selbst von feinem Sohne und seiner
Gemahlin nicht verstanden, den schmerzlichen Entschluß faßt, der Negierung zu
entsagen, aber die fertig geschriebne Erklärung doch wieder zerreißt, als er den
gewaltigsten Staatsmann dieses Jahrhunderts bereit findet, die Leitung des
preußischen Staates an seiner Seite zu übernehmen, auch ohne Budget und
ohne Programm. In dieser bedeutsamen Stunde, am 22. September 1862,
kam jener Bund zu stände zwischen dem pflichttreuen Monarchen und dem
großen Staatsmanne zum gemeinsamen Leiden und Kämpfen für die große
Nation, die von beiden nichts wissen wollte. Auch der Gefahren ihres kühnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/138>, abgerufen am 23.07.2024.