Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Das Zeitalter Napoleons III. und Wilhelms I. daß er die Welt nur einseitig betrachte, daß er das zeitlich und räumlich Nachdem uns der Verfasser mit dem Hofe Napoleons III., den er mit Das Zeitalter Napoleons III. und Wilhelms I. daß er die Welt nur einseitig betrachte, daß er das zeitlich und räumlich Nachdem uns der Verfasser mit dem Hofe Napoleons III., den er mit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227772"/> <fw type="header" place="top"> Das Zeitalter Napoleons III. und Wilhelms I.</fw><lb/> <p xml:id="ID_355" prev="#ID_354"> daß er die Welt nur einseitig betrachte, daß er das zeitlich und räumlich<lb/> nächste für das bedeutendste, das seinem Herzen und seiner Überzeugung ver¬<lb/> wandte für das allein wertvolle halte. Fern von allen diesen Schwächen<lb/> und Einseitigkeiten hält sich die neueste Darstellung des letzten halben Jahr¬<lb/> hunderts in dem mit äußerst wertvollen, immer authentischen Porträts und<lb/> Städtebildern, Karikaturen, Karten und Schlachtplänen geschmückten zehnten<lb/> Bande von O. Spamers illustrirter Weltgeschichte (Leipzig, 1898, auch<lb/> als selbständiges Buch erschienen unter dem Titel „Jllustrirte Geschichte der<lb/> neuesten Zeit von der Begründung des zweiten Napoleonischen Kaiserreichs bis<lb/> zur Gegenwart"). Nur ein Verfasser, der, wie Otto Kaemmel. sich frühzeitig<lb/> geübt hat, auf den ungeebueten Wegen der Spezialforschung zur geschichtliche»<lb/> Wahrheit vorzudringen und mit gleichem Eifer den weiten Blick auf ganze<lb/> Perioden der Kultur- und Weltgeschichte früherer Jahrhunderte zu üben, konnte<lb/> die Hoffnung hegen, mit eigner Überzeugung und warmem Vaterlandsgcfühl den<lb/> Leser durch die letzten vierzig Jahre seit 1852 aufklärend und belehrend zu be¬<lb/> gleiten, ohne ihn zu kränken oder gar — zu langweilen. Daß er der letztern Gefahr<lb/> entgangen ist, erscheint umso merkwürdiger, als er es fast ganz verschmäht hat,<lb/> durch irgend eine parteiisch gefärbte Anekdote dem Appetit des Lesers zu Hilfe<lb/> zu kommen. Allein während das umfangreiche Werk von mehr als sechshundert<lb/> Seiten im ganzen den würdigen und ernsten Ton des Philosophen oder des<lb/> Staatsmannes anschlägt, läßt es doch an geeigneter Stelle niemals die warme<lb/> Empfindung des vaterländisch gesinnten Staatsbürgers vermissen.</p><lb/> <p xml:id="ID_356" next="#ID_357"> Nachdem uns der Verfasser mit dem Hofe Napoleons III., den er mit<lb/> Meisterschaft (S. 5) charakterisiert, bekannt gemacht hat, giebt er uns einen<lb/> umfassenden Einblick in die Verwaltung und das Heerwesen, in Schule und<lb/> Kirche, Gewerbe und Handel, in die Entwicklung der Wissenschaften und Künste<lb/> und läßt uns, wie in dem ersten Aktschlüsse eines Trauerspiels, ahnen, daß<lb/> dieser großartige Prachtbau des kaiserlichen Frankreichs ans der unberechenbaren<lb/> Grundlage des allgemeinen Stimmrechts, also der Volkssouveränität, sehr un¬<lb/> sicher ruhe. Eine in ähnlicher Weise umfassende Behandlung des britischen<lb/> Großstaates führt ihn zu der Überzeugung, die einst Lord Beaeonssield in die<lb/> kecken Worte kleidete: „England ist gar nicht mehr eine europäische, sondern<lb/> nur eine asiatische Großmacht." Umso interessanter muß sich die Entwicklung<lb/> des Krimkriegs gestalten, worin jene beiden Großmächte, später noch fekundirt<lb/> von Österreich und Sardinien, dem russischen Selbstherrscher, der fast dreißig<lb/> Jahre selbst in das westeuropäische Konzert wiederholentlich arge Mißtöne<lb/> gebracht hatte, die Alleinherrschaft im türkisch-griechischen Süden von Europa<lb/> entrissen. Selbst die Einzelschilderungen, wie der Kampf um Sebastopol, das<lb/> Wüten der Cholera, des Fiebers, des Typhus, endlich die aufopfernde Thätig¬<lb/> keit der englischen Diakonissen wirkt spannend und ergreifend wie ein Roman.<lb/> Wenn sich der Erzähler von nun an den Bestrebungen der europäischen Kolonial-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0136]
Das Zeitalter Napoleons III. und Wilhelms I.
daß er die Welt nur einseitig betrachte, daß er das zeitlich und räumlich
nächste für das bedeutendste, das seinem Herzen und seiner Überzeugung ver¬
wandte für das allein wertvolle halte. Fern von allen diesen Schwächen
und Einseitigkeiten hält sich die neueste Darstellung des letzten halben Jahr¬
hunderts in dem mit äußerst wertvollen, immer authentischen Porträts und
Städtebildern, Karikaturen, Karten und Schlachtplänen geschmückten zehnten
Bande von O. Spamers illustrirter Weltgeschichte (Leipzig, 1898, auch
als selbständiges Buch erschienen unter dem Titel „Jllustrirte Geschichte der
neuesten Zeit von der Begründung des zweiten Napoleonischen Kaiserreichs bis
zur Gegenwart"). Nur ein Verfasser, der, wie Otto Kaemmel. sich frühzeitig
geübt hat, auf den ungeebueten Wegen der Spezialforschung zur geschichtliche»
Wahrheit vorzudringen und mit gleichem Eifer den weiten Blick auf ganze
Perioden der Kultur- und Weltgeschichte früherer Jahrhunderte zu üben, konnte
die Hoffnung hegen, mit eigner Überzeugung und warmem Vaterlandsgcfühl den
Leser durch die letzten vierzig Jahre seit 1852 aufklärend und belehrend zu be¬
gleiten, ohne ihn zu kränken oder gar — zu langweilen. Daß er der letztern Gefahr
entgangen ist, erscheint umso merkwürdiger, als er es fast ganz verschmäht hat,
durch irgend eine parteiisch gefärbte Anekdote dem Appetit des Lesers zu Hilfe
zu kommen. Allein während das umfangreiche Werk von mehr als sechshundert
Seiten im ganzen den würdigen und ernsten Ton des Philosophen oder des
Staatsmannes anschlägt, läßt es doch an geeigneter Stelle niemals die warme
Empfindung des vaterländisch gesinnten Staatsbürgers vermissen.
Nachdem uns der Verfasser mit dem Hofe Napoleons III., den er mit
Meisterschaft (S. 5) charakterisiert, bekannt gemacht hat, giebt er uns einen
umfassenden Einblick in die Verwaltung und das Heerwesen, in Schule und
Kirche, Gewerbe und Handel, in die Entwicklung der Wissenschaften und Künste
und läßt uns, wie in dem ersten Aktschlüsse eines Trauerspiels, ahnen, daß
dieser großartige Prachtbau des kaiserlichen Frankreichs ans der unberechenbaren
Grundlage des allgemeinen Stimmrechts, also der Volkssouveränität, sehr un¬
sicher ruhe. Eine in ähnlicher Weise umfassende Behandlung des britischen
Großstaates führt ihn zu der Überzeugung, die einst Lord Beaeonssield in die
kecken Worte kleidete: „England ist gar nicht mehr eine europäische, sondern
nur eine asiatische Großmacht." Umso interessanter muß sich die Entwicklung
des Krimkriegs gestalten, worin jene beiden Großmächte, später noch fekundirt
von Österreich und Sardinien, dem russischen Selbstherrscher, der fast dreißig
Jahre selbst in das westeuropäische Konzert wiederholentlich arge Mißtöne
gebracht hatte, die Alleinherrschaft im türkisch-griechischen Süden von Europa
entrissen. Selbst die Einzelschilderungen, wie der Kampf um Sebastopol, das
Wüten der Cholera, des Fiebers, des Typhus, endlich die aufopfernde Thätig¬
keit der englischen Diakonissen wirkt spannend und ergreifend wie ein Roman.
Wenn sich der Erzähler von nun an den Bestrebungen der europäischen Kolonial-
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