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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Zu dem Aampfe gegen die Unsittlichkeit

schränkt sich eine ansteckende Krankheit auf den Körper, worin sie zum Aus¬
bruch kommt? Gewiß nicht, denn sonst wäre es ja keine ansteckende Krankheit.
Die Unsittlichkeit, die Unzucht ist eine Seuche, die mit verheerender Gewalt
in Herzen und Sinne dringt und die zarten Keime der Liebe zum Guten,
Schönen, Erhabnen erstickt, vergiftet. Die Kinder, die den geschilderten sitt¬
lichen Gefahren ausgesetzt sind, bleiben nicht isolirt. Sie bringen den Krank¬
heitsstoff mit in die Schule, er teilt sich den andern Kindern mit, und wehe,
wenn Lehrer und Eltern nicht wachsam sind! In den meisten Füllen bleibt
das so infizirte Kind seinem Schicksal überlassen. Die Schülerzahl in den
einzelnen Klassen ist zu groß, als daß der Lehrer jedes einzelne Kind genügend
beobachten und in der Erziehung fördern könnte. Die häuslichen Verhältnisse
erlauben es den Eltern gewöhnlich nicht, ihren Erziehungspflichten genügend
nachzukommen. Die meisten haben vollauf zu thun, die leiblichen Bedürf¬
nisse der Kinder zu befriedigen; für die Sorge um die Erziehung bleibt nur
wenig oder keine Zeit übrig. Das Kind verfällt dem Dämon der Unzucht;
zwar äußert sich das erst uur in Worten und Geberden, aber nirgends setzen
sich Worte gewisser und schneller in Thaten um, als wenn die Unsittlichkeit
die treibende Kraft dieses Umwandlungsprozesses ist. So birgt jedes sittlich
erkrankte Kind eine unermeßliche Gefahr für die andern Kinder.

Ein weiterer Zufluß erwächst der Prostitution aus dem in Großstädten üb¬
liche" Schlafstellenwesen. Es ist in der letzten Zeit genügend über dieses Thema
geschrieben worden; es ist bekannt, daß oft eine ganze Familie samt ihren
Schlafstellenmietern, ohne Unterschied der Geschlechter, in einem engen Zimmer
oder gar in einer Küche schläft, oder daß später heimkehrende Schlafstellen¬
mieter (die sich vielfach aus Prostituirten rekrutiren) durch den Schlafraum
halberwachsener Kinder, oder umgekehrt, gehen müssen. Welch schamloses
Treiben bietet sich da oft den unschuldigen Kinderaugen dar! Die sittliche
Gefahr, die für das heranwachsende Geschlecht aus diesen ungesunden Verhält¬
nissen entsteht, liegt auf der Hand. Und was hat die Gesellschaft, was haben
Staat und Stadt zur Besserung dieser Verhältnisse gethan? Nichts, oder so
gut wie nichts!

Das Bestreben der wackern Männer und Frauen, die sich um die
Gründung von Vereinen zur Hebung der Sittlichkeit und zur Bekämpfung der
Unzucht verdient gemacht haben, soll nicht verkannt werden, es soll nicht ver¬
schwiegen werden, daß die Privatwohlthütigkeit nicht zurückgehalten hat, für
diese Zwecke Gaben zu spenden, die gewiß nicht nutzlos verwandt worden sind.
Aber alles dies ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hier hilft nicht
private Wohlthätigkeit, nicht Barmherzigkeit, uicht sittliche Entrüstung Einzelner.
Hier muß der Staat oder die Stadt helfe", hier muß aus den Steuern der
Bürger das Kapital herbeigeschafft werden, das zur Errichtung öffentlicher
Wohlfahrts- (uicht Wohlthüügkeitö-) Anstalten erforderlich ist. Wir haben als


Zu dem Aampfe gegen die Unsittlichkeit

schränkt sich eine ansteckende Krankheit auf den Körper, worin sie zum Aus¬
bruch kommt? Gewiß nicht, denn sonst wäre es ja keine ansteckende Krankheit.
Die Unsittlichkeit, die Unzucht ist eine Seuche, die mit verheerender Gewalt
in Herzen und Sinne dringt und die zarten Keime der Liebe zum Guten,
Schönen, Erhabnen erstickt, vergiftet. Die Kinder, die den geschilderten sitt¬
lichen Gefahren ausgesetzt sind, bleiben nicht isolirt. Sie bringen den Krank¬
heitsstoff mit in die Schule, er teilt sich den andern Kindern mit, und wehe,
wenn Lehrer und Eltern nicht wachsam sind! In den meisten Füllen bleibt
das so infizirte Kind seinem Schicksal überlassen. Die Schülerzahl in den
einzelnen Klassen ist zu groß, als daß der Lehrer jedes einzelne Kind genügend
beobachten und in der Erziehung fördern könnte. Die häuslichen Verhältnisse
erlauben es den Eltern gewöhnlich nicht, ihren Erziehungspflichten genügend
nachzukommen. Die meisten haben vollauf zu thun, die leiblichen Bedürf¬
nisse der Kinder zu befriedigen; für die Sorge um die Erziehung bleibt nur
wenig oder keine Zeit übrig. Das Kind verfällt dem Dämon der Unzucht;
zwar äußert sich das erst uur in Worten und Geberden, aber nirgends setzen
sich Worte gewisser und schneller in Thaten um, als wenn die Unsittlichkeit
die treibende Kraft dieses Umwandlungsprozesses ist. So birgt jedes sittlich
erkrankte Kind eine unermeßliche Gefahr für die andern Kinder.

Ein weiterer Zufluß erwächst der Prostitution aus dem in Großstädten üb¬
liche« Schlafstellenwesen. Es ist in der letzten Zeit genügend über dieses Thema
geschrieben worden; es ist bekannt, daß oft eine ganze Familie samt ihren
Schlafstellenmietern, ohne Unterschied der Geschlechter, in einem engen Zimmer
oder gar in einer Küche schläft, oder daß später heimkehrende Schlafstellen¬
mieter (die sich vielfach aus Prostituirten rekrutiren) durch den Schlafraum
halberwachsener Kinder, oder umgekehrt, gehen müssen. Welch schamloses
Treiben bietet sich da oft den unschuldigen Kinderaugen dar! Die sittliche
Gefahr, die für das heranwachsende Geschlecht aus diesen ungesunden Verhält¬
nissen entsteht, liegt auf der Hand. Und was hat die Gesellschaft, was haben
Staat und Stadt zur Besserung dieser Verhältnisse gethan? Nichts, oder so
gut wie nichts!

Das Bestreben der wackern Männer und Frauen, die sich um die
Gründung von Vereinen zur Hebung der Sittlichkeit und zur Bekämpfung der
Unzucht verdient gemacht haben, soll nicht verkannt werden, es soll nicht ver¬
schwiegen werden, daß die Privatwohlthütigkeit nicht zurückgehalten hat, für
diese Zwecke Gaben zu spenden, die gewiß nicht nutzlos verwandt worden sind.
Aber alles dies ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hier hilft nicht
private Wohlthätigkeit, nicht Barmherzigkeit, uicht sittliche Entrüstung Einzelner.
Hier muß der Staat oder die Stadt helfe», hier muß aus den Steuern der
Bürger das Kapital herbeigeschafft werden, das zur Errichtung öffentlicher
Wohlfahrts- (uicht Wohlthüügkeitö-) Anstalten erforderlich ist. Wir haben als


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[0133] Zu dem Aampfe gegen die Unsittlichkeit schränkt sich eine ansteckende Krankheit auf den Körper, worin sie zum Aus¬ bruch kommt? Gewiß nicht, denn sonst wäre es ja keine ansteckende Krankheit. Die Unsittlichkeit, die Unzucht ist eine Seuche, die mit verheerender Gewalt in Herzen und Sinne dringt und die zarten Keime der Liebe zum Guten, Schönen, Erhabnen erstickt, vergiftet. Die Kinder, die den geschilderten sitt¬ lichen Gefahren ausgesetzt sind, bleiben nicht isolirt. Sie bringen den Krank¬ heitsstoff mit in die Schule, er teilt sich den andern Kindern mit, und wehe, wenn Lehrer und Eltern nicht wachsam sind! In den meisten Füllen bleibt das so infizirte Kind seinem Schicksal überlassen. Die Schülerzahl in den einzelnen Klassen ist zu groß, als daß der Lehrer jedes einzelne Kind genügend beobachten und in der Erziehung fördern könnte. Die häuslichen Verhältnisse erlauben es den Eltern gewöhnlich nicht, ihren Erziehungspflichten genügend nachzukommen. Die meisten haben vollauf zu thun, die leiblichen Bedürf¬ nisse der Kinder zu befriedigen; für die Sorge um die Erziehung bleibt nur wenig oder keine Zeit übrig. Das Kind verfällt dem Dämon der Unzucht; zwar äußert sich das erst uur in Worten und Geberden, aber nirgends setzen sich Worte gewisser und schneller in Thaten um, als wenn die Unsittlichkeit die treibende Kraft dieses Umwandlungsprozesses ist. So birgt jedes sittlich erkrankte Kind eine unermeßliche Gefahr für die andern Kinder. Ein weiterer Zufluß erwächst der Prostitution aus dem in Großstädten üb¬ liche« Schlafstellenwesen. Es ist in der letzten Zeit genügend über dieses Thema geschrieben worden; es ist bekannt, daß oft eine ganze Familie samt ihren Schlafstellenmietern, ohne Unterschied der Geschlechter, in einem engen Zimmer oder gar in einer Küche schläft, oder daß später heimkehrende Schlafstellen¬ mieter (die sich vielfach aus Prostituirten rekrutiren) durch den Schlafraum halberwachsener Kinder, oder umgekehrt, gehen müssen. Welch schamloses Treiben bietet sich da oft den unschuldigen Kinderaugen dar! Die sittliche Gefahr, die für das heranwachsende Geschlecht aus diesen ungesunden Verhält¬ nissen entsteht, liegt auf der Hand. Und was hat die Gesellschaft, was haben Staat und Stadt zur Besserung dieser Verhältnisse gethan? Nichts, oder so gut wie nichts! Das Bestreben der wackern Männer und Frauen, die sich um die Gründung von Vereinen zur Hebung der Sittlichkeit und zur Bekämpfung der Unzucht verdient gemacht haben, soll nicht verkannt werden, es soll nicht ver¬ schwiegen werden, daß die Privatwohlthütigkeit nicht zurückgehalten hat, für diese Zwecke Gaben zu spenden, die gewiß nicht nutzlos verwandt worden sind. Aber alles dies ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hier hilft nicht private Wohlthätigkeit, nicht Barmherzigkeit, uicht sittliche Entrüstung Einzelner. Hier muß der Staat oder die Stadt helfe», hier muß aus den Steuern der Bürger das Kapital herbeigeschafft werden, das zur Errichtung öffentlicher Wohlfahrts- (uicht Wohlthüügkeitö-) Anstalten erforderlich ist. Wir haben als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/133>, abgerufen am 23.07.2024.