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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Doktrinarismus in der Sozialpolitik

graphen und Polizisten. Ohne Nächstenliebe, rücksichtsvolle Brüderlichkeit
und ohne Bekämpfung der Eigensucht im Herzen hilft die Freiheit nichts und
der Zwang nichts. Ohne eine religiös-sittliche Wiedergeburt des Volks ist die
bestehende Gesellschaftsordnung verloren, und die Proklamirung des "sozia¬
listischen Staats" erst recht der helle Unsinn. Und von diesem Gesichtspunkt
aus muß auch die sozialdemokratische Bewegung beurteilt werden. Sie hat
den Untergrund mit Manchestertum und Staats- und Kathedersozialismus
gemein in der materialistischen Verkennung der Pflichten der Einzelnen. Sie
fühlt heraus, wie furchtbar die Massen unter dieser grundsätzlichen Lieblosigkeit
leiden, und nutzt das aus. Natürlich hat sie leichtes Spiel, die Massen für
den Umsturz zu begeistern, wenn Manchestertum und Modesvzialismus ihnen
diese Lieblosigkeit als unabänderliches Verhängnis predigen. Was ohne Sitt¬
lichkeit und Liebe nach dem Umsturz wird, das kümmert den berufsmäßigen
Brunnenvergifter natürlich wenig, und die Masse fragt ihn darnach am aller¬
wenigsten.

Man kann hoffen, daß durch das schärfere Aufeinanderplatzen von Irrtum
auf Irrtum, von Extrem auf Extrem schließlich doch die Institution der
Strafprvfessoren etwas dazu beitragen wird, gesunde Anschauungen unter den
Gebildeten zu erwecken, und damit dann sicher auch im ganzen Volke. Die
Lücke, die in dem Reinholdschen Vortrage klafft, muß doch jeden, der sozialen
Fortschritt, Frieden und Gedeihen wünscht, mit dem Gefühl lebhafter Unzu¬
friedenheit erfüllen. Diese Bankrotterklärung der modernen Gesellschaft gegen¬
über dem sozialen Elend und Zwiespalt muß doch den gebildeten Praktikern
endlich die Augen öffnen, gerade so wie der Bankrott des Staatssozialismus
vom Staat selbst durch die Berufung der Strafprvfessoren anerkannt worden ist.

Wir sind weit davon entfernt, vou eiuer sittlich-religiösen Wiedergeburt
allein Besserung und Rettung zu erwarte", aber sie muß hinzutreten als Er¬
gänzung und als befruchtender Sauerteig zu allein, was an äußern Maßnahmen
zweckmäßig erscheinen kann. Ist sie vorhanden, so wird der Mittelweg leicht
gefunden werden zwischen den Extremen, und es werden mancherlei Mittel zum
Zweck, die heute ganz oder in ihrer Verallgemeinerung bedenklich erscheinen,
ohne Bedenken angewandt werden können oder sich als unnötig erweisen.

Nun ist, wie gesagt, Professor Wolf inzwischen mit dem zweiten Stückchen
seines Aufsatzes über Illusionisten und Realisten in der Nationalökonomie
hervorgetreten.*) Hatte er in dem ersten Teil mit Genugthuung darauf hin¬
gewiesen, daß der Kathcdersozialismus seinem frühern Dogma, dem Ruin des
Mittelstandes, untreu geworden sei, so betont er am Anfang des zweiten Teils
ausdrücklich, daß der Kathedersozialismus und die Sozialdemokratie sich immer



-) Der erste Teil ist in den Grenzboten (Heft 5> vom 3. Februar Seite 281) bereits be¬
sprochen worden.
Grenzboten I 1898 73
Doktrinarismus in der Sozialpolitik

graphen und Polizisten. Ohne Nächstenliebe, rücksichtsvolle Brüderlichkeit
und ohne Bekämpfung der Eigensucht im Herzen hilft die Freiheit nichts und
der Zwang nichts. Ohne eine religiös-sittliche Wiedergeburt des Volks ist die
bestehende Gesellschaftsordnung verloren, und die Proklamirung des „sozia¬
listischen Staats" erst recht der helle Unsinn. Und von diesem Gesichtspunkt
aus muß auch die sozialdemokratische Bewegung beurteilt werden. Sie hat
den Untergrund mit Manchestertum und Staats- und Kathedersozialismus
gemein in der materialistischen Verkennung der Pflichten der Einzelnen. Sie
fühlt heraus, wie furchtbar die Massen unter dieser grundsätzlichen Lieblosigkeit
leiden, und nutzt das aus. Natürlich hat sie leichtes Spiel, die Massen für
den Umsturz zu begeistern, wenn Manchestertum und Modesvzialismus ihnen
diese Lieblosigkeit als unabänderliches Verhängnis predigen. Was ohne Sitt¬
lichkeit und Liebe nach dem Umsturz wird, das kümmert den berufsmäßigen
Brunnenvergifter natürlich wenig, und die Masse fragt ihn darnach am aller¬
wenigsten.

Man kann hoffen, daß durch das schärfere Aufeinanderplatzen von Irrtum
auf Irrtum, von Extrem auf Extrem schließlich doch die Institution der
Strafprvfessoren etwas dazu beitragen wird, gesunde Anschauungen unter den
Gebildeten zu erwecken, und damit dann sicher auch im ganzen Volke. Die
Lücke, die in dem Reinholdschen Vortrage klafft, muß doch jeden, der sozialen
Fortschritt, Frieden und Gedeihen wünscht, mit dem Gefühl lebhafter Unzu¬
friedenheit erfüllen. Diese Bankrotterklärung der modernen Gesellschaft gegen¬
über dem sozialen Elend und Zwiespalt muß doch den gebildeten Praktikern
endlich die Augen öffnen, gerade so wie der Bankrott des Staatssozialismus
vom Staat selbst durch die Berufung der Strafprvfessoren anerkannt worden ist.

Wir sind weit davon entfernt, vou eiuer sittlich-religiösen Wiedergeburt
allein Besserung und Rettung zu erwarte«, aber sie muß hinzutreten als Er¬
gänzung und als befruchtender Sauerteig zu allein, was an äußern Maßnahmen
zweckmäßig erscheinen kann. Ist sie vorhanden, so wird der Mittelweg leicht
gefunden werden zwischen den Extremen, und es werden mancherlei Mittel zum
Zweck, die heute ganz oder in ihrer Verallgemeinerung bedenklich erscheinen,
ohne Bedenken angewandt werden können oder sich als unnötig erweisen.

Nun ist, wie gesagt, Professor Wolf inzwischen mit dem zweiten Stückchen
seines Aufsatzes über Illusionisten und Realisten in der Nationalökonomie
hervorgetreten.*) Hatte er in dem ersten Teil mit Genugthuung darauf hin¬
gewiesen, daß der Kathcdersozialismus seinem frühern Dogma, dem Ruin des
Mittelstandes, untreu geworden sei, so betont er am Anfang des zweiten Teils
ausdrücklich, daß der Kathedersozialismus und die Sozialdemokratie sich immer



-) Der erste Teil ist in den Grenzboten (Heft 5> vom 3. Februar Seite 281) bereits be¬
sprochen worden.
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[0581] Doktrinarismus in der Sozialpolitik graphen und Polizisten. Ohne Nächstenliebe, rücksichtsvolle Brüderlichkeit und ohne Bekämpfung der Eigensucht im Herzen hilft die Freiheit nichts und der Zwang nichts. Ohne eine religiös-sittliche Wiedergeburt des Volks ist die bestehende Gesellschaftsordnung verloren, und die Proklamirung des „sozia¬ listischen Staats" erst recht der helle Unsinn. Und von diesem Gesichtspunkt aus muß auch die sozialdemokratische Bewegung beurteilt werden. Sie hat den Untergrund mit Manchestertum und Staats- und Kathedersozialismus gemein in der materialistischen Verkennung der Pflichten der Einzelnen. Sie fühlt heraus, wie furchtbar die Massen unter dieser grundsätzlichen Lieblosigkeit leiden, und nutzt das aus. Natürlich hat sie leichtes Spiel, die Massen für den Umsturz zu begeistern, wenn Manchestertum und Modesvzialismus ihnen diese Lieblosigkeit als unabänderliches Verhängnis predigen. Was ohne Sitt¬ lichkeit und Liebe nach dem Umsturz wird, das kümmert den berufsmäßigen Brunnenvergifter natürlich wenig, und die Masse fragt ihn darnach am aller¬ wenigsten. Man kann hoffen, daß durch das schärfere Aufeinanderplatzen von Irrtum auf Irrtum, von Extrem auf Extrem schließlich doch die Institution der Strafprvfessoren etwas dazu beitragen wird, gesunde Anschauungen unter den Gebildeten zu erwecken, und damit dann sicher auch im ganzen Volke. Die Lücke, die in dem Reinholdschen Vortrage klafft, muß doch jeden, der sozialen Fortschritt, Frieden und Gedeihen wünscht, mit dem Gefühl lebhafter Unzu¬ friedenheit erfüllen. Diese Bankrotterklärung der modernen Gesellschaft gegen¬ über dem sozialen Elend und Zwiespalt muß doch den gebildeten Praktikern endlich die Augen öffnen, gerade so wie der Bankrott des Staatssozialismus vom Staat selbst durch die Berufung der Strafprvfessoren anerkannt worden ist. Wir sind weit davon entfernt, vou eiuer sittlich-religiösen Wiedergeburt allein Besserung und Rettung zu erwarte«, aber sie muß hinzutreten als Er¬ gänzung und als befruchtender Sauerteig zu allein, was an äußern Maßnahmen zweckmäßig erscheinen kann. Ist sie vorhanden, so wird der Mittelweg leicht gefunden werden zwischen den Extremen, und es werden mancherlei Mittel zum Zweck, die heute ganz oder in ihrer Verallgemeinerung bedenklich erscheinen, ohne Bedenken angewandt werden können oder sich als unnötig erweisen. Nun ist, wie gesagt, Professor Wolf inzwischen mit dem zweiten Stückchen seines Aufsatzes über Illusionisten und Realisten in der Nationalökonomie hervorgetreten.*) Hatte er in dem ersten Teil mit Genugthuung darauf hin¬ gewiesen, daß der Kathcdersozialismus seinem frühern Dogma, dem Ruin des Mittelstandes, untreu geworden sei, so betont er am Anfang des zweiten Teils ausdrücklich, daß der Kathedersozialismus und die Sozialdemokratie sich immer -) Der erste Teil ist in den Grenzboten (Heft 5> vom 3. Februar Seite 281) bereits be¬ sprochen worden. Grenzboten I 1898 73

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/581>, abgerufen am 09.01.2025.