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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

seine Arbeitsleistungen sind höchst menschliche Verrichtungen. Der mechanische
Arbeiter dagegen ist aus dem angegebnen Grunde nur außerhalb der Arbeit
Mensch, muß also eine längere Ruhezeit haben, wenn er Mensch werden oder
sein soll. Gegen Kürzung der Arbeitszeit hat zwar auch Tille nichts ein¬
zuwenden, aber aus welchem Grunde billigt er sie! Ein Maximalarbeitstag,
führt er einmal aus, sei eine sehr gute, die Auslese befördernde Maßregel,
weil sie zu einer so intensiven Arbeit zwinge, daß alle "Minderwertigen" die
Arbeit verlören und als Lumpenproletarier zu Grunde gingen, vorausgesetzt,
daß uicht etwa eine Arbeitslosenversicherung, die er entschieden verwirft, diesem
Prozeß entgegenwirkt. Welcher Unsinn und welcher Frevel, jeden Menschen
für minderwertig zu erklären und zum Untergange zu verurteilen, der sich für
die Hatz des modernen Erwerbslebens nicht eignet und z. B. mit seinem Ge¬
hirn, seinen Augen und seinen Fingern das Tempo der mit Dampf getriebnen
Spindeln, die er bedienen soll, nicht innezuhalten vermag! Die dazu erforder¬
liche einseitige Virtuosität ist vom Standpunkte vernünftiger Menschenabschätzung
beinahe wertlos. Ein Bauer, der sich nur langsam zu bewegen und langsam
zu denken vermag, der aber eine vielseitige Thätigkeit übt, Gemüt und Charakter
hat, ist zehnmal mehr wert als so ein lebendiger Maschinenteil. Der kühne
Mann, der sich unwürdigen Lebensbedingungen nicht fügen mag und Wilddieb
wird, ist mehr wert als ein zweibeiniges Arbeitstier. Eine gesittete Familie
läßt ein mit chronischen Leiden behaftetes Kind, das gar nichts leisten und
nicht einen Pfennig verdienen kann, nicht zu Grunde gehen, sondern pflegt es
sorgsam, und wollte sie es ans die Straße werfen, so würde das als Ver¬
brechen bestraft werden, und diese angeblichen Verehrer des Germanentums
wollen jeden als einen Minderwertigen zum Untergänge verurteilen, der sich
nicht zu Lebensbedingungen und Leistungen versteht, denen der echte Germane
schon aus Stolz den Tod vorziehen würde!

Und was wäre denn das volkswirtschaftliche Ende einer solchen Ent¬
wicklung? Die auf der ganzen Erde verbreiteten, aber als Fabrikarbeiter auf
den Hund gekommnen Germanen würden Staaten oder Genossenschaften bilden,
und diese würden in rastloser Arbeit Waren häufen, mit denen sie einander
unterbieten und die sie einander zuschieben würden, bis sie ein unermeßliches
Gebirge von Kattun, Teppichen, Möbeln, Spielwaren, Handschuhen, Knöpfen,
Pianinos, Fahrrädern, Büchern, Damenhüten, Porzellanwaren, Nippsachen,
Albums mit Musik aufgehäuft hätten, neben dem sie verhungern würden, weil
sie wegen Absatzmangels kein Geld hätten, das Brodgetreide oder das Gebäck
zu kaufen, von dem sich ein nicht minder hohes Gebirge, mit Zucker bestreut,
daneben erheben würde.

Ich fordre kein Schlaraffenleben, weder für mich noch für andre; ich
weiß, daß stramme Arbeit für das Gedeihen des Menschen notwendig ist, und
daß ohne sie das Leben auf die Dauer unerträglich wird; ich halte einen


Sozialauslese

seine Arbeitsleistungen sind höchst menschliche Verrichtungen. Der mechanische
Arbeiter dagegen ist aus dem angegebnen Grunde nur außerhalb der Arbeit
Mensch, muß also eine längere Ruhezeit haben, wenn er Mensch werden oder
sein soll. Gegen Kürzung der Arbeitszeit hat zwar auch Tille nichts ein¬
zuwenden, aber aus welchem Grunde billigt er sie! Ein Maximalarbeitstag,
führt er einmal aus, sei eine sehr gute, die Auslese befördernde Maßregel,
weil sie zu einer so intensiven Arbeit zwinge, daß alle „Minderwertigen" die
Arbeit verlören und als Lumpenproletarier zu Grunde gingen, vorausgesetzt,
daß uicht etwa eine Arbeitslosenversicherung, die er entschieden verwirft, diesem
Prozeß entgegenwirkt. Welcher Unsinn und welcher Frevel, jeden Menschen
für minderwertig zu erklären und zum Untergange zu verurteilen, der sich für
die Hatz des modernen Erwerbslebens nicht eignet und z. B. mit seinem Ge¬
hirn, seinen Augen und seinen Fingern das Tempo der mit Dampf getriebnen
Spindeln, die er bedienen soll, nicht innezuhalten vermag! Die dazu erforder¬
liche einseitige Virtuosität ist vom Standpunkte vernünftiger Menschenabschätzung
beinahe wertlos. Ein Bauer, der sich nur langsam zu bewegen und langsam
zu denken vermag, der aber eine vielseitige Thätigkeit übt, Gemüt und Charakter
hat, ist zehnmal mehr wert als so ein lebendiger Maschinenteil. Der kühne
Mann, der sich unwürdigen Lebensbedingungen nicht fügen mag und Wilddieb
wird, ist mehr wert als ein zweibeiniges Arbeitstier. Eine gesittete Familie
läßt ein mit chronischen Leiden behaftetes Kind, das gar nichts leisten und
nicht einen Pfennig verdienen kann, nicht zu Grunde gehen, sondern pflegt es
sorgsam, und wollte sie es ans die Straße werfen, so würde das als Ver¬
brechen bestraft werden, und diese angeblichen Verehrer des Germanentums
wollen jeden als einen Minderwertigen zum Untergänge verurteilen, der sich
nicht zu Lebensbedingungen und Leistungen versteht, denen der echte Germane
schon aus Stolz den Tod vorziehen würde!

Und was wäre denn das volkswirtschaftliche Ende einer solchen Ent¬
wicklung? Die auf der ganzen Erde verbreiteten, aber als Fabrikarbeiter auf
den Hund gekommnen Germanen würden Staaten oder Genossenschaften bilden,
und diese würden in rastloser Arbeit Waren häufen, mit denen sie einander
unterbieten und die sie einander zuschieben würden, bis sie ein unermeßliches
Gebirge von Kattun, Teppichen, Möbeln, Spielwaren, Handschuhen, Knöpfen,
Pianinos, Fahrrädern, Büchern, Damenhüten, Porzellanwaren, Nippsachen,
Albums mit Musik aufgehäuft hätten, neben dem sie verhungern würden, weil
sie wegen Absatzmangels kein Geld hätten, das Brodgetreide oder das Gebäck
zu kaufen, von dem sich ein nicht minder hohes Gebirge, mit Zucker bestreut,
daneben erheben würde.

Ich fordre kein Schlaraffenleben, weder für mich noch für andre; ich
weiß, daß stramme Arbeit für das Gedeihen des Menschen notwendig ist, und
daß ohne sie das Leben auf die Dauer unerträglich wird; ich halte einen


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[0532] Sozialauslese seine Arbeitsleistungen sind höchst menschliche Verrichtungen. Der mechanische Arbeiter dagegen ist aus dem angegebnen Grunde nur außerhalb der Arbeit Mensch, muß also eine längere Ruhezeit haben, wenn er Mensch werden oder sein soll. Gegen Kürzung der Arbeitszeit hat zwar auch Tille nichts ein¬ zuwenden, aber aus welchem Grunde billigt er sie! Ein Maximalarbeitstag, führt er einmal aus, sei eine sehr gute, die Auslese befördernde Maßregel, weil sie zu einer so intensiven Arbeit zwinge, daß alle „Minderwertigen" die Arbeit verlören und als Lumpenproletarier zu Grunde gingen, vorausgesetzt, daß uicht etwa eine Arbeitslosenversicherung, die er entschieden verwirft, diesem Prozeß entgegenwirkt. Welcher Unsinn und welcher Frevel, jeden Menschen für minderwertig zu erklären und zum Untergange zu verurteilen, der sich für die Hatz des modernen Erwerbslebens nicht eignet und z. B. mit seinem Ge¬ hirn, seinen Augen und seinen Fingern das Tempo der mit Dampf getriebnen Spindeln, die er bedienen soll, nicht innezuhalten vermag! Die dazu erforder¬ liche einseitige Virtuosität ist vom Standpunkte vernünftiger Menschenabschätzung beinahe wertlos. Ein Bauer, der sich nur langsam zu bewegen und langsam zu denken vermag, der aber eine vielseitige Thätigkeit übt, Gemüt und Charakter hat, ist zehnmal mehr wert als so ein lebendiger Maschinenteil. Der kühne Mann, der sich unwürdigen Lebensbedingungen nicht fügen mag und Wilddieb wird, ist mehr wert als ein zweibeiniges Arbeitstier. Eine gesittete Familie läßt ein mit chronischen Leiden behaftetes Kind, das gar nichts leisten und nicht einen Pfennig verdienen kann, nicht zu Grunde gehen, sondern pflegt es sorgsam, und wollte sie es ans die Straße werfen, so würde das als Ver¬ brechen bestraft werden, und diese angeblichen Verehrer des Germanentums wollen jeden als einen Minderwertigen zum Untergänge verurteilen, der sich nicht zu Lebensbedingungen und Leistungen versteht, denen der echte Germane schon aus Stolz den Tod vorziehen würde! Und was wäre denn das volkswirtschaftliche Ende einer solchen Ent¬ wicklung? Die auf der ganzen Erde verbreiteten, aber als Fabrikarbeiter auf den Hund gekommnen Germanen würden Staaten oder Genossenschaften bilden, und diese würden in rastloser Arbeit Waren häufen, mit denen sie einander unterbieten und die sie einander zuschieben würden, bis sie ein unermeßliches Gebirge von Kattun, Teppichen, Möbeln, Spielwaren, Handschuhen, Knöpfen, Pianinos, Fahrrädern, Büchern, Damenhüten, Porzellanwaren, Nippsachen, Albums mit Musik aufgehäuft hätten, neben dem sie verhungern würden, weil sie wegen Absatzmangels kein Geld hätten, das Brodgetreide oder das Gebäck zu kaufen, von dem sich ein nicht minder hohes Gebirge, mit Zucker bestreut, daneben erheben würde. Ich fordre kein Schlaraffenleben, weder für mich noch für andre; ich weiß, daß stramme Arbeit für das Gedeihen des Menschen notwendig ist, und daß ohne sie das Leben auf die Dauer unerträglich wird; ich halte einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/532>, abgerufen am 09.01.2025.