Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Sozialauslese Wanderung, zur Besiedelung und Kultivirung der ganzen Erde führe; aber *) Tille gesteht gelegentlich, daß ihm die Gesetze, nach denen die Arbeiterwanderungen er¬
folgen, noch nicht ganz klar seien. Wenigstens ein sehr wichtiges Gesetz ergiebt die Weltgeschichte. Wo das Bedürfnis von Bauern und Handwerkern entscheidet, da strömt die Auswanderung in dünn bevölkerte fruchtbare Länder und schafft dort neue Kulturen! solchergestalt sind die Kolonien der Griechen, die der Deutschen im slawischen Osten, die der Engländer in Nordamerika ge¬ wesen und sind heute die englischen Kolonien in Australien und die deutschen in Südbrasilien. Wo dagegen das moderne Kapital die Leitung in die Hand bekommen hat, da entscheidet die Aussicht auf höhere Verzinsung! da werden die Menschenmassen planlos hin- und hergezogen und durch einander gequirlt, und da kümmert es niemanden, daß die "Erschließung der Hilfs¬ quellen eines Landes" vielleicht sowohl die Bevölkerung des erschlossenen wie die des Heimat¬ landes zu Grunde richtet. Sozialauslese Wanderung, zur Besiedelung und Kultivirung der ganzen Erde führe; aber *) Tille gesteht gelegentlich, daß ihm die Gesetze, nach denen die Arbeiterwanderungen er¬
folgen, noch nicht ganz klar seien. Wenigstens ein sehr wichtiges Gesetz ergiebt die Weltgeschichte. Wo das Bedürfnis von Bauern und Handwerkern entscheidet, da strömt die Auswanderung in dünn bevölkerte fruchtbare Länder und schafft dort neue Kulturen! solchergestalt sind die Kolonien der Griechen, die der Deutschen im slawischen Osten, die der Engländer in Nordamerika ge¬ wesen und sind heute die englischen Kolonien in Australien und die deutschen in Südbrasilien. Wo dagegen das moderne Kapital die Leitung in die Hand bekommen hat, da entscheidet die Aussicht auf höhere Verzinsung! da werden die Menschenmassen planlos hin- und hergezogen und durch einander gequirlt, und da kümmert es niemanden, daß die „Erschließung der Hilfs¬ quellen eines Landes" vielleicht sowohl die Bevölkerung des erschlossenen wie die des Heimat¬ landes zu Grunde richtet. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0530" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227432"/> <fw type="header" place="top"> Sozialauslese</fw><lb/> <p xml:id="ID_1932" prev="#ID_1931" next="#ID_1933"> Wanderung, zur Besiedelung und Kultivirung der ganzen Erde führe; aber<lb/> dieser Zweck kann vorläufig nur in sehr unvollkommner Weise erreicht werden,<lb/> weil die Geschlossenheit der heutigen Staaten das Abströmen der Überzähligen<lb/> in die dünnbevölkerten und zur Kolonisation am besten geeigneten Gebiete<lb/> hindert, und weil außerdem bei allen kolonialen Unternehmungen und bei den<lb/> Jntereffenkämpfen zwischen Staaten nicht das Bedürfnis von Ansiedlern, sondern<lb/> das kapitalistische Interesse von Bodenwucherern, Großhändlern, Goldaktionären<lb/> und dergleichen Leuten entscheidet."') So entsteht denn in den Staaten alter<lb/> Kultur eine relative Übervölkerung, in deren Gedränge nicht die Schlechtesten<lb/> ausgemerzt werden — denn sowohl der Schwächling wie der Lump pflanzt<lb/> sich fort, und der Verbrecher zeugt gewöhnlich Kinder, ehe er ins Zuchthaus<lb/> kommt —, sondern sehr viele von den Besten verkümmern. Nicht Smith hat<lb/> ein falsches Ideal, sondern Tille. Denn sein Drängen auf Steigerung der<lb/> Leistungen der Arbeiter, wodurch die edlern Völker die unedlem verdrängen<lb/> sollen, macht die Ware zum Götzen, dem die Menschen geopfert werden. Zu¬<lb/> nächst liegt die Gefahr nahe, daß nicht die niedern von den höhern, sondern<lb/> die höhern von den niedern aus ihren Ländern hinaufgearbeitet werden. Das<lb/> geschieht bekanntlich schon in ganz Osteuropa, und wie Hesse-Wartegg erzählt,<lb/> sind nicht allein die englisch-amerikanischen Dampfer des Stillen Ozeans mit<lb/> Chinesen bemannt, sondern fangen die Kapitäne auch schon an, ihre Schiffe<lb/> statt in Vancouver in dem weit wohlfeilern Hongkong ausbessern zu lassen.<lb/> Wird China von den europäischen Mächten aufgeteilt oder auch nur „er¬<lb/> schlossen," so werden die Kapitalisten aller Länder, die sich den Kuckuck um<lb/> Tilles Volksstandslehren kümmern, nichts eiligeres zu thun haben, als Fabriken<lb/> dort zu errichten und spottbillige Chinesen einzustellen, und wie der billige<lb/> Inder heute schon die Spinner und Weber von Lancashire bedrängt, so werden<lb/> die in Fabrikarbeiter verwandelten 300 Millionen Chinesen alle Fabrikarbeiter<lb/> Europas aushungern. Dafür, daß der bezopfte Mann von seiner seit<lb/> 3000 Jahren bebauten Scholle getrennt und in die Fabrik hineingetrieben<lb/> werde, wird das europäische Kapital schon sorgen — durch Landankäufe. Ein</p><lb/> <note xml:id="FID_60" place="foot"> *) Tille gesteht gelegentlich, daß ihm die Gesetze, nach denen die Arbeiterwanderungen er¬<lb/> folgen, noch nicht ganz klar seien. Wenigstens ein sehr wichtiges Gesetz ergiebt die Weltgeschichte.<lb/> Wo das Bedürfnis von Bauern und Handwerkern entscheidet, da strömt die Auswanderung in<lb/> dünn bevölkerte fruchtbare Länder und schafft dort neue Kulturen! solchergestalt sind die Kolonien<lb/> der Griechen, die der Deutschen im slawischen Osten, die der Engländer in Nordamerika ge¬<lb/> wesen und sind heute die englischen Kolonien in Australien und die deutschen in Südbrasilien.<lb/> Wo dagegen das moderne Kapital die Leitung in die Hand bekommen hat, da entscheidet die<lb/> Aussicht auf höhere Verzinsung! da werden die Menschenmassen planlos hin- und hergezogen<lb/> und durch einander gequirlt, und da kümmert es niemanden, daß die „Erschließung der Hilfs¬<lb/> quellen eines Landes" vielleicht sowohl die Bevölkerung des erschlossenen wie die des Heimat¬<lb/> landes zu Grunde richtet.</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0530]
Sozialauslese
Wanderung, zur Besiedelung und Kultivirung der ganzen Erde führe; aber
dieser Zweck kann vorläufig nur in sehr unvollkommner Weise erreicht werden,
weil die Geschlossenheit der heutigen Staaten das Abströmen der Überzähligen
in die dünnbevölkerten und zur Kolonisation am besten geeigneten Gebiete
hindert, und weil außerdem bei allen kolonialen Unternehmungen und bei den
Jntereffenkämpfen zwischen Staaten nicht das Bedürfnis von Ansiedlern, sondern
das kapitalistische Interesse von Bodenwucherern, Großhändlern, Goldaktionären
und dergleichen Leuten entscheidet."') So entsteht denn in den Staaten alter
Kultur eine relative Übervölkerung, in deren Gedränge nicht die Schlechtesten
ausgemerzt werden — denn sowohl der Schwächling wie der Lump pflanzt
sich fort, und der Verbrecher zeugt gewöhnlich Kinder, ehe er ins Zuchthaus
kommt —, sondern sehr viele von den Besten verkümmern. Nicht Smith hat
ein falsches Ideal, sondern Tille. Denn sein Drängen auf Steigerung der
Leistungen der Arbeiter, wodurch die edlern Völker die unedlem verdrängen
sollen, macht die Ware zum Götzen, dem die Menschen geopfert werden. Zu¬
nächst liegt die Gefahr nahe, daß nicht die niedern von den höhern, sondern
die höhern von den niedern aus ihren Ländern hinaufgearbeitet werden. Das
geschieht bekanntlich schon in ganz Osteuropa, und wie Hesse-Wartegg erzählt,
sind nicht allein die englisch-amerikanischen Dampfer des Stillen Ozeans mit
Chinesen bemannt, sondern fangen die Kapitäne auch schon an, ihre Schiffe
statt in Vancouver in dem weit wohlfeilern Hongkong ausbessern zu lassen.
Wird China von den europäischen Mächten aufgeteilt oder auch nur „er¬
schlossen," so werden die Kapitalisten aller Länder, die sich den Kuckuck um
Tilles Volksstandslehren kümmern, nichts eiligeres zu thun haben, als Fabriken
dort zu errichten und spottbillige Chinesen einzustellen, und wie der billige
Inder heute schon die Spinner und Weber von Lancashire bedrängt, so werden
die in Fabrikarbeiter verwandelten 300 Millionen Chinesen alle Fabrikarbeiter
Europas aushungern. Dafür, daß der bezopfte Mann von seiner seit
3000 Jahren bebauten Scholle getrennt und in die Fabrik hineingetrieben
werde, wird das europäische Kapital schon sorgen — durch Landankäufe. Ein
*) Tille gesteht gelegentlich, daß ihm die Gesetze, nach denen die Arbeiterwanderungen er¬
folgen, noch nicht ganz klar seien. Wenigstens ein sehr wichtiges Gesetz ergiebt die Weltgeschichte.
Wo das Bedürfnis von Bauern und Handwerkern entscheidet, da strömt die Auswanderung in
dünn bevölkerte fruchtbare Länder und schafft dort neue Kulturen! solchergestalt sind die Kolonien
der Griechen, die der Deutschen im slawischen Osten, die der Engländer in Nordamerika ge¬
wesen und sind heute die englischen Kolonien in Australien und die deutschen in Südbrasilien.
Wo dagegen das moderne Kapital die Leitung in die Hand bekommen hat, da entscheidet die
Aussicht auf höhere Verzinsung! da werden die Menschenmassen planlos hin- und hergezogen
und durch einander gequirlt, und da kümmert es niemanden, daß die „Erschließung der Hilfs¬
quellen eines Landes" vielleicht sowohl die Bevölkerung des erschlossenen wie die des Heimat¬
landes zu Grunde richtet.
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