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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

Steigerung der Leistungsfähigkeit sofort auch die Ansprüche an die Leistung
entsprechend steigert. Das gilt nicht bloß von der Fähigkeit, eine sitzende
Lebensweise und anstrengende Geistesarbeit zu ertragen, es gilt von den Prü¬
fungen, deren Anforderungen gesteigert werden, wenn die bisherigen nicht hoch
genug waren, den Zudrang zu dem betreffenden Zweige des Staatsdienstes zu
vermindern, es gilt von den Künsten der Nadler, der Seiltänzer und der
Trapezturner, es gilt von den Künsten des Geschäftsschwindels und der Reklame
sowie von wirklich gediegnen gewerblichen und Kunstleistungen, sofern es sich
nur nicht um einzigartige handelt, die außerhalb des Wettbewerbs stehen.
Überall und immer hat nur der erste den Vorteil davon; die Konkurrenz be¬
wirkt sehr bald, daß die neue Leistung nicht höher gelohnt wird, als vorher
die alte gelohnt wurde. Beim Industriearbeiter handelt es sich nur selten um
Leistungen, zu denen eine außerordentliche Begabung erfordert würde; meistens
beruht die Überlegenheit entweder bloß auf Körperkraft oder anf einer ganz
einseitigen Virtuosität; diese zweite aber wird unter dem Drucke der Konkurrenz
ebenso leicht Gemeingut des größten Teiles der Arbeiterschaft eines Jndustrie¬
zweiges, wie z. B, ein neues Kunststückchen der Artisteuwelt. Die Körperkraft
aber, einschließlich der Gehirnkraft, die zu einseitiger angespannter Aufmerksam¬
keit bei der Maschinenbedienung notwendig ist, siegt meistens nur zu ihrem
eignen Verderben. Denn die größere Tüchtigkeit besteht gewöhnlich in der
Energie, mit der sich der Arbeiter bei Überanstrengung oder gesnndheitsschüd-
lichen Einflüssen auszuhalten zwingt. Wo keine Konkurrenz drängt, wird ein
Arbeiter, der von schlechten Dünsten Kopfschmerz bekommt, entweder davon¬
gehen und eine angenehmere Beschäftigung suchen oder höhern Lohn bei ab¬
gekürzter Arbeitszeit fordern. Sind dagegen alle gefunden Berufsarten über¬
füllt, und drängt auch in den ungesunden schon die Konkurrenz, da können
freilich die Tüchtigern, d. h. die es am längsten aushalten, einen höhern Lohn
erzielen, aber der wiegt doch die Zerstörung der Gesundheit nicht auf.

Damit stehen wir bei der Thatsache, die schon so oft hervorgehoben
worden ist, daß gerade in der Industrie die Auslese der Angepaßten keineswegs
eine Auslese der Besten und am allerwenigsten eine Verbesserung des Menschen¬
schlags bedeutet. Bei den Schneidern wird der am meisten verdienen, der am
anhaltendsten auf seinem Schemel sitzt und seine Verdauungsorgane am gründ¬
lichsten zerrüttet, seine Beine, seine Lungen und seine Augen am rücksichts¬
losesten schwächt. Bei den Kohlenbauern der, der sich die medizinisch inter¬
essanteste Kohlenlunge anschafft, bei den Kellnern der, der am wenigsten Rücksicht
nimmt auf die Forderungen der Natur seines leiblichen Organismus. Bei
cilledem können weder Apollogestalten noch erhabne Geister herauskommen, und
die Nasse wird dadurch zweifellos verschlechtert. Gewiß, die Industrie ist ein
Gebiet, ja sie ist das einzige Gebiet auf der Welt, wo das am besten ange¬
paßte, das der Konkurrenzkampf ausliest, das in seiner Art beste ist, aber


Sozialauslese

Steigerung der Leistungsfähigkeit sofort auch die Ansprüche an die Leistung
entsprechend steigert. Das gilt nicht bloß von der Fähigkeit, eine sitzende
Lebensweise und anstrengende Geistesarbeit zu ertragen, es gilt von den Prü¬
fungen, deren Anforderungen gesteigert werden, wenn die bisherigen nicht hoch
genug waren, den Zudrang zu dem betreffenden Zweige des Staatsdienstes zu
vermindern, es gilt von den Künsten der Nadler, der Seiltänzer und der
Trapezturner, es gilt von den Künsten des Geschäftsschwindels und der Reklame
sowie von wirklich gediegnen gewerblichen und Kunstleistungen, sofern es sich
nur nicht um einzigartige handelt, die außerhalb des Wettbewerbs stehen.
Überall und immer hat nur der erste den Vorteil davon; die Konkurrenz be¬
wirkt sehr bald, daß die neue Leistung nicht höher gelohnt wird, als vorher
die alte gelohnt wurde. Beim Industriearbeiter handelt es sich nur selten um
Leistungen, zu denen eine außerordentliche Begabung erfordert würde; meistens
beruht die Überlegenheit entweder bloß auf Körperkraft oder anf einer ganz
einseitigen Virtuosität; diese zweite aber wird unter dem Drucke der Konkurrenz
ebenso leicht Gemeingut des größten Teiles der Arbeiterschaft eines Jndustrie¬
zweiges, wie z. B, ein neues Kunststückchen der Artisteuwelt. Die Körperkraft
aber, einschließlich der Gehirnkraft, die zu einseitiger angespannter Aufmerksam¬
keit bei der Maschinenbedienung notwendig ist, siegt meistens nur zu ihrem
eignen Verderben. Denn die größere Tüchtigkeit besteht gewöhnlich in der
Energie, mit der sich der Arbeiter bei Überanstrengung oder gesnndheitsschüd-
lichen Einflüssen auszuhalten zwingt. Wo keine Konkurrenz drängt, wird ein
Arbeiter, der von schlechten Dünsten Kopfschmerz bekommt, entweder davon¬
gehen und eine angenehmere Beschäftigung suchen oder höhern Lohn bei ab¬
gekürzter Arbeitszeit fordern. Sind dagegen alle gefunden Berufsarten über¬
füllt, und drängt auch in den ungesunden schon die Konkurrenz, da können
freilich die Tüchtigern, d. h. die es am längsten aushalten, einen höhern Lohn
erzielen, aber der wiegt doch die Zerstörung der Gesundheit nicht auf.

Damit stehen wir bei der Thatsache, die schon so oft hervorgehoben
worden ist, daß gerade in der Industrie die Auslese der Angepaßten keineswegs
eine Auslese der Besten und am allerwenigsten eine Verbesserung des Menschen¬
schlags bedeutet. Bei den Schneidern wird der am meisten verdienen, der am
anhaltendsten auf seinem Schemel sitzt und seine Verdauungsorgane am gründ¬
lichsten zerrüttet, seine Beine, seine Lungen und seine Augen am rücksichts¬
losesten schwächt. Bei den Kohlenbauern der, der sich die medizinisch inter¬
essanteste Kohlenlunge anschafft, bei den Kellnern der, der am wenigsten Rücksicht
nimmt auf die Forderungen der Natur seines leiblichen Organismus. Bei
cilledem können weder Apollogestalten noch erhabne Geister herauskommen, und
die Nasse wird dadurch zweifellos verschlechtert. Gewiß, die Industrie ist ein
Gebiet, ja sie ist das einzige Gebiet auf der Welt, wo das am besten ange¬
paßte, das der Konkurrenzkampf ausliest, das in seiner Art beste ist, aber


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[0528] Sozialauslese Steigerung der Leistungsfähigkeit sofort auch die Ansprüche an die Leistung entsprechend steigert. Das gilt nicht bloß von der Fähigkeit, eine sitzende Lebensweise und anstrengende Geistesarbeit zu ertragen, es gilt von den Prü¬ fungen, deren Anforderungen gesteigert werden, wenn die bisherigen nicht hoch genug waren, den Zudrang zu dem betreffenden Zweige des Staatsdienstes zu vermindern, es gilt von den Künsten der Nadler, der Seiltänzer und der Trapezturner, es gilt von den Künsten des Geschäftsschwindels und der Reklame sowie von wirklich gediegnen gewerblichen und Kunstleistungen, sofern es sich nur nicht um einzigartige handelt, die außerhalb des Wettbewerbs stehen. Überall und immer hat nur der erste den Vorteil davon; die Konkurrenz be¬ wirkt sehr bald, daß die neue Leistung nicht höher gelohnt wird, als vorher die alte gelohnt wurde. Beim Industriearbeiter handelt es sich nur selten um Leistungen, zu denen eine außerordentliche Begabung erfordert würde; meistens beruht die Überlegenheit entweder bloß auf Körperkraft oder anf einer ganz einseitigen Virtuosität; diese zweite aber wird unter dem Drucke der Konkurrenz ebenso leicht Gemeingut des größten Teiles der Arbeiterschaft eines Jndustrie¬ zweiges, wie z. B, ein neues Kunststückchen der Artisteuwelt. Die Körperkraft aber, einschließlich der Gehirnkraft, die zu einseitiger angespannter Aufmerksam¬ keit bei der Maschinenbedienung notwendig ist, siegt meistens nur zu ihrem eignen Verderben. Denn die größere Tüchtigkeit besteht gewöhnlich in der Energie, mit der sich der Arbeiter bei Überanstrengung oder gesnndheitsschüd- lichen Einflüssen auszuhalten zwingt. Wo keine Konkurrenz drängt, wird ein Arbeiter, der von schlechten Dünsten Kopfschmerz bekommt, entweder davon¬ gehen und eine angenehmere Beschäftigung suchen oder höhern Lohn bei ab¬ gekürzter Arbeitszeit fordern. Sind dagegen alle gefunden Berufsarten über¬ füllt, und drängt auch in den ungesunden schon die Konkurrenz, da können freilich die Tüchtigern, d. h. die es am längsten aushalten, einen höhern Lohn erzielen, aber der wiegt doch die Zerstörung der Gesundheit nicht auf. Damit stehen wir bei der Thatsache, die schon so oft hervorgehoben worden ist, daß gerade in der Industrie die Auslese der Angepaßten keineswegs eine Auslese der Besten und am allerwenigsten eine Verbesserung des Menschen¬ schlags bedeutet. Bei den Schneidern wird der am meisten verdienen, der am anhaltendsten auf seinem Schemel sitzt und seine Verdauungsorgane am gründ¬ lichsten zerrüttet, seine Beine, seine Lungen und seine Augen am rücksichts¬ losesten schwächt. Bei den Kohlenbauern der, der sich die medizinisch inter¬ essanteste Kohlenlunge anschafft, bei den Kellnern der, der am wenigsten Rücksicht nimmt auf die Forderungen der Natur seines leiblichen Organismus. Bei cilledem können weder Apollogestalten noch erhabne Geister herauskommen, und die Nasse wird dadurch zweifellos verschlechtert. Gewiß, die Industrie ist ein Gebiet, ja sie ist das einzige Gebiet auf der Welt, wo das am besten ange¬ paßte, das der Konkurrenzkampf ausliest, das in seiner Art beste ist, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/528>, abgerufen am 09.01.2025.