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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

der Verfasser auch Hertzka und namentlich Dühring zu den Anarchisten rechnet,
dagegen sehr lebhaft gegen solche protestirt, die Herbert Spencer (besonders wegen
seiner Schrift: Incliviäual vorsus tlig Leg.t>o) und Friedrich Nietzsche dazu zahlen
möchten. Sein Endurteil läßt sich folgendermaßen zusmumeufasseu. Die Propaganda
der That muß selbstverständlich als Verbrechen behandelt werden, aber Ausnahme¬
gesetze dagegen siud weder notwendig noch nützlich; Verbrechen bleibt Verbreche",
und wie Politische oder sonst ideologische Beweggründe nicht als Mildcrungsgrüude
gelten dürfen, so darf man sie auch nicht als erschwerende Umstände auffassen.
Die anarchistischen Theorien dagegen sind harmlose Hirngespinste; sie sind irrig,
sie sind utopisch, haben aber gleich allen theoretischen Irrtümern ihre Aufgabe und
darum ihre Daseinsberechtigung. Die Aufgabe des Anarchismus besteht darin, daß
er der Opposition gegen die herrschende Zeitrichtung den schärfsten Ausdruck ver¬
leiht, gegen eine Zeitrichtung, die deu Zwang auf allen Gebiete" fordert und alle
alten Freiheitsidenle als überwundne Jugcndeseleien verspottet. Ob sozialistischer
Znknnftsstciat oder auarchistischer Absolutismus, meint der Verfasser, das komme
doch auf eins heraus. Jedenfalls ist es nicht allem theoretisch korrekt, sondern
auch praktisch wichtig, bei der Behandlung des Gegenstandes anzuerkennen, daß der
radikale Liberalismus uicht zum Sozialismus, sondern zum Anarchismus führt.
Zwar entsteht, wie in der Natur, so auch in der Gesellschaft, jedes aus jedem,
aber doch nicht ans dieselbe Weise; wenn der Sozialismus den Liberalismus ablöst,
so geschieht es nicht durch Fortbildung, sondern durch Umschlag; dabei befindet
sich der Sozinlismus ans der Seite des Staatsabsolntismus, wie er ja auch von
diesem bei uns zur Zertrümmerung der liberalen Parteien benutzt worden ist. --
Wir schließen unsre heutige Übersicht mit einem juristischen Buche, das von den
Soziologen vielleicht als antisozial bezeichnet werden wird! Die Aufgabe" der
Strafrechtspflege vo" Dr. Richard Schmidt, Professor der Rechte i" Frei¬
burg i. B., Leipzig (Duncker und Humblot, 1895). Der Verfasser bekämpft die
Lisztsche Richtung und sucht nachzuweisen, daß die von dieser geforderte "Spezicil-
prcivention" (bei der die Strafe in ein der Individualität des Verbrechers an¬
zupassendes Heilverfahren übergeht) und die "Geueralprävention" (durch Erfüllung
der Forderungen der vergeltenden Gerechtigkeit, wobei die Strafe ohne Rücksicht
auf die Person des Verbrechers "ach senicr That abgemessen wird) nicht gleichzeitig
erreicht werden können, und daß bei Unvereinbarkeit dieser beiden Zwecke der
Strcisjustiz der erste dem zweiten als dem wichtiger" zu weichen habe. Daß das
geltende System, das den zweiten Zweck zu Grunde legt, verbesserungsbedürftig
sei, leugnet Schmidt nicht, aber daß es ganz schlecht, daher der Verbesserung nicht
sähig sei, bestreitet er den Neformsreunden der bezeichneten Richtung gegenüber.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

der Verfasser auch Hertzka und namentlich Dühring zu den Anarchisten rechnet,
dagegen sehr lebhaft gegen solche protestirt, die Herbert Spencer (besonders wegen
seiner Schrift: Incliviäual vorsus tlig Leg.t>o) und Friedrich Nietzsche dazu zahlen
möchten. Sein Endurteil läßt sich folgendermaßen zusmumeufasseu. Die Propaganda
der That muß selbstverständlich als Verbrechen behandelt werden, aber Ausnahme¬
gesetze dagegen siud weder notwendig noch nützlich; Verbrechen bleibt Verbreche»,
und wie Politische oder sonst ideologische Beweggründe nicht als Mildcrungsgrüude
gelten dürfen, so darf man sie auch nicht als erschwerende Umstände auffassen.
Die anarchistischen Theorien dagegen sind harmlose Hirngespinste; sie sind irrig,
sie sind utopisch, haben aber gleich allen theoretischen Irrtümern ihre Aufgabe und
darum ihre Daseinsberechtigung. Die Aufgabe des Anarchismus besteht darin, daß
er der Opposition gegen die herrschende Zeitrichtung den schärfsten Ausdruck ver¬
leiht, gegen eine Zeitrichtung, die deu Zwang auf allen Gebiete» fordert und alle
alten Freiheitsidenle als überwundne Jugcndeseleien verspottet. Ob sozialistischer
Znknnftsstciat oder auarchistischer Absolutismus, meint der Verfasser, das komme
doch auf eins heraus. Jedenfalls ist es nicht allem theoretisch korrekt, sondern
auch praktisch wichtig, bei der Behandlung des Gegenstandes anzuerkennen, daß der
radikale Liberalismus uicht zum Sozialismus, sondern zum Anarchismus führt.
Zwar entsteht, wie in der Natur, so auch in der Gesellschaft, jedes aus jedem,
aber doch nicht ans dieselbe Weise; wenn der Sozialismus den Liberalismus ablöst,
so geschieht es nicht durch Fortbildung, sondern durch Umschlag; dabei befindet
sich der Sozinlismus ans der Seite des Staatsabsolntismus, wie er ja auch von
diesem bei uns zur Zertrümmerung der liberalen Parteien benutzt worden ist. —
Wir schließen unsre heutige Übersicht mit einem juristischen Buche, das von den
Soziologen vielleicht als antisozial bezeichnet werden wird! Die Aufgabe» der
Strafrechtspflege vo» Dr. Richard Schmidt, Professor der Rechte i» Frei¬
burg i. B., Leipzig (Duncker und Humblot, 1895). Der Verfasser bekämpft die
Lisztsche Richtung und sucht nachzuweisen, daß die von dieser geforderte „Spezicil-
prcivention" (bei der die Strafe in ein der Individualität des Verbrechers an¬
zupassendes Heilverfahren übergeht) und die „Geueralprävention" (durch Erfüllung
der Forderungen der vergeltenden Gerechtigkeit, wobei die Strafe ohne Rücksicht
auf die Person des Verbrechers »ach senicr That abgemessen wird) nicht gleichzeitig
erreicht werden können, und daß bei Unvereinbarkeit dieser beiden Zwecke der
Strcisjustiz der erste dem zweiten als dem wichtiger» zu weichen habe. Daß das
geltende System, das den zweiten Zweck zu Grunde legt, verbesserungsbedürftig
sei, leugnet Schmidt nicht, aber daß es ganz schlecht, daher der Verbesserung nicht
sähig sei, bestreitet er den Neformsreunden der bezeichneten Richtung gegenüber.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/180>, abgerufen am 07.01.2025.