Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Von Dr. Heinrich von Marqucirdsen (14. und 15. Band der bei Brockhaus Maßgebliches und Unmaßgebliches Von Dr. Heinrich von Marqucirdsen (14. und 15. Band der bei Brockhaus <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0177" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227079"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_558" prev="#ID_557" next="#ID_559"> Von Dr. Heinrich von Marqucirdsen (14. und 15. Band der bei Brockhaus<lb/> erscheinenden Internationalen wissenschaftlichen Bibliothek, Leipzig, 1896) kann<lb/> einigen Nutzen stiften. Der größte Teil des Werkchens ist den Schwierigkeiten ge¬<lb/> widmet, die alle Arten von Vorurteil der fraglichen Wissenschaft bereiten, was<lb/> freilich auch von alle» andern Wissenschaften gilt, wie denn auch jedes der ange¬<lb/> führten Beispiele in verschiednen andern Wissenschaften verwendet werde» konnte,<lb/> das von der Trunksucht (S. 95 ff) z. B. in der Moral, Politik, Geschichte und<lb/> Kulturgeschichte. Spencer erinnert dort daran, daß in England die Trunksucht im<lb/> siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ganz allgemein geherrscht hat, auch und<lb/> sogar vorzugsweise bei den hohen und höchsten Ständen, daß sie aber seitdem<lb/> — bloß durch einen Wandel des Geschmacks und der Begriffe des Anständigen<lb/> und Schicklichen und ohne Anwendung eines vom Staat ausgeübten Zwanges —<lb/> aus den obern Schichten verschwunden und in den untern viel seltner geworden<lb/> ist. (Dasselbe gilt bekanntlich für Deutschland, nur mit dem Unterschiede, daß hier<lb/> die Trunksucht, als ein Laster der Vornehmen, im siebzehnten Jahrhundert, in<lb/> England dagegen, wie es scheint, erst im achtzehnten ihren Höhepunkt erreichte.)<lb/> Die Führer der Mäßigkeitsbewegnng aber, die eben mit der Ausrottung des letzten<lb/> Restes beschäftigt sind, bilden sich ein, das Laster sei in beständiger Zunahme be¬<lb/> griffen und so furchtbar gefährlich, daß die Gesetzgebung mit Zwang dagegen ein¬<lb/> schreiten müsse. Ein wirklich sehr hübsches Beispiel dafür, wie nicht allein grobe<lb/> Selbstsucht, sondern anch jede edle Leidenschaft gegen soziologische Thatsachen blind<lb/> macht! Im übrigen ist Herbert Spencer mit seinem krassen Naturalismus nicht<lb/> unser Maun. Einen recht geschmackvollen Ausdruck findet seine darwiuische Auf¬<lb/> fassung in dem Satze (I, 213), mit dem die hohe Organisation der höhern Tiere<lb/> erklärt werden soll: „Den nie aufhörenden Anstrengungen, zu saugen und zu fressen,<lb/> und den nie aufhörenden Anstrengungen, dem Gefangen- und Gefrcsseuwerden zu<lb/> entgehen, muß die Entwicklung der verschiednen Sinne und der von denselben ge¬<lb/> leiteten verschiednen Bewegungsorganen >so!j zugeschrieben werden." Da Spencer<lb/> neben dem Naturmechanismus keinen andern Entstehungsgrund der Wesen kennt,<lb/> so muß er auf diese Ursache auch die Schönheit des Menschenleibes, zu deren<lb/> wesentlichen Bestandteilen die Form der Bewegungsorgane gehört, und — die<lb/> Seelenschönheit samt allen geistigen Schöpfungen des Menschen zurückführen, und<lb/> dazu schütteln wir ungläubig den Kopf. — Spencer ist bekanntlich auf seine alten<lb/> Tage eine Hauptstütze jener Schule geworden, die im Darwinismus die Grundlage<lb/> einer aristokratischen Gesellschaftswissenschaft begrüßt. Der italienische Kriminnlist<lb/> Enrico Ferri dagegen beweist in seiner von or. Hans Kurella übersetzten<lb/> Schrift: Sozialismus und moderne Wissenschaft, Darwin, Spencer, Marx<lb/> (Leipzig, Georg H. Wigand, 1395), daß der Darwinismus zum Sozialismus führe;<lb/> die von den Gegnern gerühmte Auslese sei nnr ein Zersetzungsprozeß, die echte,<lb/> kultnrfördernde Auslese werde erst in der sozialistisch organisirten Gesellschaft vor<lb/> sich gehen. Ferri ist, gleich deu übrigen sozialistischen Professoren Italiens, deren<lb/> geistige Richtung sich aus den politischen Zuständen ihres Vaterlands leicht erklärt,<lb/> ein nchtnugswerter Charakter und eine liebenswürdige Persönlichkeit. Das an¬<lb/> stößigste an ihm ist uns seine Feindschaft gegen die Religion. Die heutigen Reli¬<lb/> gionen gelten ihm „als überflüssige Produkte einer moralischen Verknöcherung, die<lb/> vor der Ausbreitung einer anch nnr elementaren naturwissenschaftlichen Bildung<lb/> schwinden müssen" (S. 53). Ganz anders, wenn auch nicht verständiger, denkt<lb/> Benjamin Kitt über die Religion, dessen Soziale Evolution in Deutschland<lb/> einiges Aufsehen erregt hat, als ihre deutsche Übersetzung von E. Pfleiderer (mit</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0177]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Von Dr. Heinrich von Marqucirdsen (14. und 15. Band der bei Brockhaus
erscheinenden Internationalen wissenschaftlichen Bibliothek, Leipzig, 1896) kann
einigen Nutzen stiften. Der größte Teil des Werkchens ist den Schwierigkeiten ge¬
widmet, die alle Arten von Vorurteil der fraglichen Wissenschaft bereiten, was
freilich auch von alle» andern Wissenschaften gilt, wie denn auch jedes der ange¬
führten Beispiele in verschiednen andern Wissenschaften verwendet werde» konnte,
das von der Trunksucht (S. 95 ff) z. B. in der Moral, Politik, Geschichte und
Kulturgeschichte. Spencer erinnert dort daran, daß in England die Trunksucht im
siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ganz allgemein geherrscht hat, auch und
sogar vorzugsweise bei den hohen und höchsten Ständen, daß sie aber seitdem
— bloß durch einen Wandel des Geschmacks und der Begriffe des Anständigen
und Schicklichen und ohne Anwendung eines vom Staat ausgeübten Zwanges —
aus den obern Schichten verschwunden und in den untern viel seltner geworden
ist. (Dasselbe gilt bekanntlich für Deutschland, nur mit dem Unterschiede, daß hier
die Trunksucht, als ein Laster der Vornehmen, im siebzehnten Jahrhundert, in
England dagegen, wie es scheint, erst im achtzehnten ihren Höhepunkt erreichte.)
Die Führer der Mäßigkeitsbewegnng aber, die eben mit der Ausrottung des letzten
Restes beschäftigt sind, bilden sich ein, das Laster sei in beständiger Zunahme be¬
griffen und so furchtbar gefährlich, daß die Gesetzgebung mit Zwang dagegen ein¬
schreiten müsse. Ein wirklich sehr hübsches Beispiel dafür, wie nicht allein grobe
Selbstsucht, sondern anch jede edle Leidenschaft gegen soziologische Thatsachen blind
macht! Im übrigen ist Herbert Spencer mit seinem krassen Naturalismus nicht
unser Maun. Einen recht geschmackvollen Ausdruck findet seine darwiuische Auf¬
fassung in dem Satze (I, 213), mit dem die hohe Organisation der höhern Tiere
erklärt werden soll: „Den nie aufhörenden Anstrengungen, zu saugen und zu fressen,
und den nie aufhörenden Anstrengungen, dem Gefangen- und Gefrcsseuwerden zu
entgehen, muß die Entwicklung der verschiednen Sinne und der von denselben ge¬
leiteten verschiednen Bewegungsorganen >so!j zugeschrieben werden." Da Spencer
neben dem Naturmechanismus keinen andern Entstehungsgrund der Wesen kennt,
so muß er auf diese Ursache auch die Schönheit des Menschenleibes, zu deren
wesentlichen Bestandteilen die Form der Bewegungsorgane gehört, und — die
Seelenschönheit samt allen geistigen Schöpfungen des Menschen zurückführen, und
dazu schütteln wir ungläubig den Kopf. — Spencer ist bekanntlich auf seine alten
Tage eine Hauptstütze jener Schule geworden, die im Darwinismus die Grundlage
einer aristokratischen Gesellschaftswissenschaft begrüßt. Der italienische Kriminnlist
Enrico Ferri dagegen beweist in seiner von or. Hans Kurella übersetzten
Schrift: Sozialismus und moderne Wissenschaft, Darwin, Spencer, Marx
(Leipzig, Georg H. Wigand, 1395), daß der Darwinismus zum Sozialismus führe;
die von den Gegnern gerühmte Auslese sei nnr ein Zersetzungsprozeß, die echte,
kultnrfördernde Auslese werde erst in der sozialistisch organisirten Gesellschaft vor
sich gehen. Ferri ist, gleich deu übrigen sozialistischen Professoren Italiens, deren
geistige Richtung sich aus den politischen Zuständen ihres Vaterlands leicht erklärt,
ein nchtnugswerter Charakter und eine liebenswürdige Persönlichkeit. Das an¬
stößigste an ihm ist uns seine Feindschaft gegen die Religion. Die heutigen Reli¬
gionen gelten ihm „als überflüssige Produkte einer moralischen Verknöcherung, die
vor der Ausbreitung einer anch nnr elementaren naturwissenschaftlichen Bildung
schwinden müssen" (S. 53). Ganz anders, wenn auch nicht verständiger, denkt
Benjamin Kitt über die Religion, dessen Soziale Evolution in Deutschland
einiges Aufsehen erregt hat, als ihre deutsche Übersetzung von E. Pfleiderer (mit
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