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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

Beamtentums und Militärs. Die Zweckmoral ist die Moral der Staatsober¬
häupter, der Eroberer, der Feldherren, der Diplomatie, der politischen Par¬
teien, der Kirchen, wo immer und insofern sie politische Mächte sind, und der
Fanatiker. Das Wesen des Fanatikers besteht eben darin, daß er seinen be¬
sondern Zweck für den Weltzweck hält und alles gut nennt, was diesem Zwecke
dient. Soweit die Jesuitenmoral wirklich Tadel verdient, ist der Umstand
daran schuld, daß sie "die Ehre Gottes und die Erhöhung des römischen
Stuhles" für den höchsten Zweck halten, dem sie alles andre unterordnen.
Neben der Hartmannschen Zurücknahme des "Wollenwollens" kann sich übrigens
dieser Zweck schon noch sehen lassen, schon darum, weil sich doch, von der
größern Ehre Gottes zu schweigen, einigermaßen voraussehen läßt, was zur
Erhöhung des Papsttums dienen würde (obwohl sich in diesem Punkte die
klugen Väter auch manchmal getäuscht haben), während niemand anzugeben
vermag, was wohl am geeignetsten sein möchte, das Ende der Welt zu be¬
schleunigen. Sollen wir zu diesem Zwecke den Deutschen, den Russen oder den
Engländern zur Weltherrschaft verhelfen oder eine kommunistische Weltrepublik
gründen? Sollen wir die Partei der Arbeiter oder die der Unternehmer er¬
greifen? Sollen wir überhaupt Schmerzen lindern und Freude verbreiten, was
Hartmann in andern Büchern so warm empfiehlt, oder ist das nicht höchst
unzweckmäßig, und müssen wir nicht vielmehr, um den letzten großen Entschluß
zu zeitigen, das Elend Elend sein lassen und womöglich verschärfen? Und da
wir schlechterdings nichts wissen von dem Zusammenhang eines noch so hohen
irdischen Zweckes, bestehe dieser auch in einer Großstaatgründung, mit dem
Endzweck, und da kein Mensch zu sagen vermag, ob nicht am Ende die kleinen
Zwecke vieler Spießbürger zusammengenommen dem Endzweck besser dienen als
der eine große Zweck eines Weltherrschers, so bleibt von der ganzen Zweck¬
moral nichts übrig als der Satz: sittlich gut ist, was nützt; d. h. also: Hart-
manns autonome Moral schlägt in die von ihm so sehr verachtete Nützlichkeits¬
moral um, und so rächt sich an ihm die Hegelsche Dialektik, die er ebenfalls
verachtet. Weltgeschichtlich ist nun freilich die Zweckmoral unentbehrlich; ohne
den Fanatismus der großen Staatsmänner, der Parteien, der Sekten, der
Propheten, deren jeder und jede seinen Zweck für den Zweck und Willen Gottes
hält, blieben die meisten weltgeschichtlichen Umwälzungen ungeschehen. Auch
ist es ein Zweck, was die verschiednen Moralen mit einander verbindet, sodaß
sie im allgemeinen zu einem leidlichen Einklange zusammenwirken. Das, was
wir moralisch gut zu nennen Pflegen, ist nämlich im allgemeinen in einem
höhern Grade lebenfördernd als das Gegenteil, und alle Arten von Moral
stimmen darin überein. daß sie Leben fördern wollen, sogar Hnrtmcmns Pessi¬
mismus will das -- vorläufig, bis es für das Weltall Zeit sein wird, zu
sterben. Nur im allgemeinen, nur sehr im allgemeinen wollen die Pflichten-
und die Zweckmoral das Leben, das die natürliche Moral immer will; manchmal,


Zwei philosophische Systeme

Beamtentums und Militärs. Die Zweckmoral ist die Moral der Staatsober¬
häupter, der Eroberer, der Feldherren, der Diplomatie, der politischen Par¬
teien, der Kirchen, wo immer und insofern sie politische Mächte sind, und der
Fanatiker. Das Wesen des Fanatikers besteht eben darin, daß er seinen be¬
sondern Zweck für den Weltzweck hält und alles gut nennt, was diesem Zwecke
dient. Soweit die Jesuitenmoral wirklich Tadel verdient, ist der Umstand
daran schuld, daß sie „die Ehre Gottes und die Erhöhung des römischen
Stuhles" für den höchsten Zweck halten, dem sie alles andre unterordnen.
Neben der Hartmannschen Zurücknahme des „Wollenwollens" kann sich übrigens
dieser Zweck schon noch sehen lassen, schon darum, weil sich doch, von der
größern Ehre Gottes zu schweigen, einigermaßen voraussehen läßt, was zur
Erhöhung des Papsttums dienen würde (obwohl sich in diesem Punkte die
klugen Väter auch manchmal getäuscht haben), während niemand anzugeben
vermag, was wohl am geeignetsten sein möchte, das Ende der Welt zu be¬
schleunigen. Sollen wir zu diesem Zwecke den Deutschen, den Russen oder den
Engländern zur Weltherrschaft verhelfen oder eine kommunistische Weltrepublik
gründen? Sollen wir die Partei der Arbeiter oder die der Unternehmer er¬
greifen? Sollen wir überhaupt Schmerzen lindern und Freude verbreiten, was
Hartmann in andern Büchern so warm empfiehlt, oder ist das nicht höchst
unzweckmäßig, und müssen wir nicht vielmehr, um den letzten großen Entschluß
zu zeitigen, das Elend Elend sein lassen und womöglich verschärfen? Und da
wir schlechterdings nichts wissen von dem Zusammenhang eines noch so hohen
irdischen Zweckes, bestehe dieser auch in einer Großstaatgründung, mit dem
Endzweck, und da kein Mensch zu sagen vermag, ob nicht am Ende die kleinen
Zwecke vieler Spießbürger zusammengenommen dem Endzweck besser dienen als
der eine große Zweck eines Weltherrschers, so bleibt von der ganzen Zweck¬
moral nichts übrig als der Satz: sittlich gut ist, was nützt; d. h. also: Hart-
manns autonome Moral schlägt in die von ihm so sehr verachtete Nützlichkeits¬
moral um, und so rächt sich an ihm die Hegelsche Dialektik, die er ebenfalls
verachtet. Weltgeschichtlich ist nun freilich die Zweckmoral unentbehrlich; ohne
den Fanatismus der großen Staatsmänner, der Parteien, der Sekten, der
Propheten, deren jeder und jede seinen Zweck für den Zweck und Willen Gottes
hält, blieben die meisten weltgeschichtlichen Umwälzungen ungeschehen. Auch
ist es ein Zweck, was die verschiednen Moralen mit einander verbindet, sodaß
sie im allgemeinen zu einem leidlichen Einklange zusammenwirken. Das, was
wir moralisch gut zu nennen Pflegen, ist nämlich im allgemeinen in einem
höhern Grade lebenfördernd als das Gegenteil, und alle Arten von Moral
stimmen darin überein. daß sie Leben fördern wollen, sogar Hnrtmcmns Pessi¬
mismus will das — vorläufig, bis es für das Weltall Zeit sein wird, zu
sterben. Nur im allgemeinen, nur sehr im allgemeinen wollen die Pflichten-
und die Zweckmoral das Leben, das die natürliche Moral immer will; manchmal,


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[0086] Zwei philosophische Systeme Beamtentums und Militärs. Die Zweckmoral ist die Moral der Staatsober¬ häupter, der Eroberer, der Feldherren, der Diplomatie, der politischen Par¬ teien, der Kirchen, wo immer und insofern sie politische Mächte sind, und der Fanatiker. Das Wesen des Fanatikers besteht eben darin, daß er seinen be¬ sondern Zweck für den Weltzweck hält und alles gut nennt, was diesem Zwecke dient. Soweit die Jesuitenmoral wirklich Tadel verdient, ist der Umstand daran schuld, daß sie „die Ehre Gottes und die Erhöhung des römischen Stuhles" für den höchsten Zweck halten, dem sie alles andre unterordnen. Neben der Hartmannschen Zurücknahme des „Wollenwollens" kann sich übrigens dieser Zweck schon noch sehen lassen, schon darum, weil sich doch, von der größern Ehre Gottes zu schweigen, einigermaßen voraussehen läßt, was zur Erhöhung des Papsttums dienen würde (obwohl sich in diesem Punkte die klugen Väter auch manchmal getäuscht haben), während niemand anzugeben vermag, was wohl am geeignetsten sein möchte, das Ende der Welt zu be¬ schleunigen. Sollen wir zu diesem Zwecke den Deutschen, den Russen oder den Engländern zur Weltherrschaft verhelfen oder eine kommunistische Weltrepublik gründen? Sollen wir die Partei der Arbeiter oder die der Unternehmer er¬ greifen? Sollen wir überhaupt Schmerzen lindern und Freude verbreiten, was Hartmann in andern Büchern so warm empfiehlt, oder ist das nicht höchst unzweckmäßig, und müssen wir nicht vielmehr, um den letzten großen Entschluß zu zeitigen, das Elend Elend sein lassen und womöglich verschärfen? Und da wir schlechterdings nichts wissen von dem Zusammenhang eines noch so hohen irdischen Zweckes, bestehe dieser auch in einer Großstaatgründung, mit dem Endzweck, und da kein Mensch zu sagen vermag, ob nicht am Ende die kleinen Zwecke vieler Spießbürger zusammengenommen dem Endzweck besser dienen als der eine große Zweck eines Weltherrschers, so bleibt von der ganzen Zweck¬ moral nichts übrig als der Satz: sittlich gut ist, was nützt; d. h. also: Hart- manns autonome Moral schlägt in die von ihm so sehr verachtete Nützlichkeits¬ moral um, und so rächt sich an ihm die Hegelsche Dialektik, die er ebenfalls verachtet. Weltgeschichtlich ist nun freilich die Zweckmoral unentbehrlich; ohne den Fanatismus der großen Staatsmänner, der Parteien, der Sekten, der Propheten, deren jeder und jede seinen Zweck für den Zweck und Willen Gottes hält, blieben die meisten weltgeschichtlichen Umwälzungen ungeschehen. Auch ist es ein Zweck, was die verschiednen Moralen mit einander verbindet, sodaß sie im allgemeinen zu einem leidlichen Einklange zusammenwirken. Das, was wir moralisch gut zu nennen Pflegen, ist nämlich im allgemeinen in einem höhern Grade lebenfördernd als das Gegenteil, und alle Arten von Moral stimmen darin überein. daß sie Leben fördern wollen, sogar Hnrtmcmns Pessi¬ mismus will das — vorläufig, bis es für das Weltall Zeit sein wird, zu sterben. Nur im allgemeinen, nur sehr im allgemeinen wollen die Pflichten- und die Zweckmoral das Leben, das die natürliche Moral immer will; manchmal,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/86>, abgerufen am 23.07.2024.