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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Schulmißhcmdlungen

Jugend einwirkt als die gefürchtete Milde. Man prüft nicht die Würdigkeit
des Mannes, dem man eine so bedenkliche Gewalt über die Kinder anvertraut;
man nimmt ohne weiteres an, daß er für die ihm gestellte Aufgabe befähigt
sei. Liegt denn nicht in dem einseitigen Hervorheben des Wertes körperlicher
Züchtigungsmittel für gewaltthätige Naturen geradezu eine Aufmunterung,
ihrer Leidenschaft zu stöhnen? werden sie nicht durch ihre Befähigung zum
"Hauen" andre Mängel ihrer Ausbildung oder die vollständige Unfähigkeit zu
einer geschickten, verstündigen Behandlung der Kinder zu verbergen suchen?
Trotz und Unbotmäßigkeit sind die Untugenden, die man bei der heran¬
wachsenden Jugend am meisten fürchtet, und die man rechtzeitig brechen möchte.
Aber die Schulmißhandlungen zeugen von einem Mangel an Selbstbeherrschung,
der diesen Untugenden nahe verwandt ist, wenn nicht von etwas schlimmeren,
Mangel an Mitgefühl und Hang zur Grausamkeit. Hochmut, falsches Selbst¬
bewußtsein ist die Quelle dieser Ausschreitungen. Will man die Verzerrung
der Moralbegriffe und die Verwüstungen moralischer Gefühle durch das
Nietzschetum nicht weiter fördern, so schreite man unnachsichtlich gegen die
Schulmißhandlungen ein.

Oder wie muß es auf das Gemüt der .Kinder einwirken, wenn sie Zeugen
von Auftritten sind, deren bloße Wiedergabe durch die Presse oder durch münd¬
lichen Bericht abstoßend auf uns wirkt und uns anwidert? Als Beweis dafür,
wie es in der Schule, die der verstorbne Knabe besuchte, hergeht, sei hier nur
angeführt, daß Ghmnasiallehrer, die im Sommer zeitweilig in der Nähe dieser
Gemeindeschule unterrichteten, sich bei ihrem Rektor wiederholt darüber be¬
schwert haben, sie könnten bei dem zu ihnen hcrüberdringenden Geschrei der
gezüchtigten Kinder nicht unterrichten.

Das ist das unsäglich Traurige an der Angelegenheit, daß es die
schwächsten, schntzbedürftigsten, am wenigsten widerstandsfähigen Mitglieder der
menschlichen Gesellschaft sind, die sich diese Behandlung gefallen lassen müssen,
deren Unerfcihrcnheit und Mangel an Einsicht in so unverantwortlicher Weise
gemißbraucht wird. Die verschüchterten, geäugstigten Kleinen wagen kaum
einmal, die Schutzmittel in Anspruch zu nehmen, die ihnen denn doch noch zu
Gebote stehen. Man muß mühsam aus ihnen herausfragen, was ihnen ge¬
schehen ist, und in einzelnen Füllen haben die Lehrer sogar die Kinder bedroht,
sie würden mehr Schläge bekommen, wenn sie etwas ausplauderten. Die
Kinder sind die einzigen Zeugen dieser Auftritte; sie aber haben nicht das volle
Verständnis für das Unwürdige solches Verfahrens. Sie betrachten die Prüge¬
leien als eine unvermeidliche Zugabe des Unterrichts, die freilich nicht dazu
dient, die Lust, in die Schule zu gehen, bei ihnen zu vergrößern. Die Fähigkeit,
über diese Borgänge wahrheitsgetreu zu berichten, ist mangelhaft bei ihnen
entwickelt. Je mehr aber so ein Dunkel über der ganzen Angelegenheit liegt,
je schwerer es ist, Licht hineinzubringen, desto größer ist die Besorgnis der


Schulmißhcmdlungen

Jugend einwirkt als die gefürchtete Milde. Man prüft nicht die Würdigkeit
des Mannes, dem man eine so bedenkliche Gewalt über die Kinder anvertraut;
man nimmt ohne weiteres an, daß er für die ihm gestellte Aufgabe befähigt
sei. Liegt denn nicht in dem einseitigen Hervorheben des Wertes körperlicher
Züchtigungsmittel für gewaltthätige Naturen geradezu eine Aufmunterung,
ihrer Leidenschaft zu stöhnen? werden sie nicht durch ihre Befähigung zum
„Hauen" andre Mängel ihrer Ausbildung oder die vollständige Unfähigkeit zu
einer geschickten, verstündigen Behandlung der Kinder zu verbergen suchen?
Trotz und Unbotmäßigkeit sind die Untugenden, die man bei der heran¬
wachsenden Jugend am meisten fürchtet, und die man rechtzeitig brechen möchte.
Aber die Schulmißhandlungen zeugen von einem Mangel an Selbstbeherrschung,
der diesen Untugenden nahe verwandt ist, wenn nicht von etwas schlimmeren,
Mangel an Mitgefühl und Hang zur Grausamkeit. Hochmut, falsches Selbst¬
bewußtsein ist die Quelle dieser Ausschreitungen. Will man die Verzerrung
der Moralbegriffe und die Verwüstungen moralischer Gefühle durch das
Nietzschetum nicht weiter fördern, so schreite man unnachsichtlich gegen die
Schulmißhandlungen ein.

Oder wie muß es auf das Gemüt der .Kinder einwirken, wenn sie Zeugen
von Auftritten sind, deren bloße Wiedergabe durch die Presse oder durch münd¬
lichen Bericht abstoßend auf uns wirkt und uns anwidert? Als Beweis dafür,
wie es in der Schule, die der verstorbne Knabe besuchte, hergeht, sei hier nur
angeführt, daß Ghmnasiallehrer, die im Sommer zeitweilig in der Nähe dieser
Gemeindeschule unterrichteten, sich bei ihrem Rektor wiederholt darüber be¬
schwert haben, sie könnten bei dem zu ihnen hcrüberdringenden Geschrei der
gezüchtigten Kinder nicht unterrichten.

Das ist das unsäglich Traurige an der Angelegenheit, daß es die
schwächsten, schntzbedürftigsten, am wenigsten widerstandsfähigen Mitglieder der
menschlichen Gesellschaft sind, die sich diese Behandlung gefallen lassen müssen,
deren Unerfcihrcnheit und Mangel an Einsicht in so unverantwortlicher Weise
gemißbraucht wird. Die verschüchterten, geäugstigten Kleinen wagen kaum
einmal, die Schutzmittel in Anspruch zu nehmen, die ihnen denn doch noch zu
Gebote stehen. Man muß mühsam aus ihnen herausfragen, was ihnen ge¬
schehen ist, und in einzelnen Füllen haben die Lehrer sogar die Kinder bedroht,
sie würden mehr Schläge bekommen, wenn sie etwas ausplauderten. Die
Kinder sind die einzigen Zeugen dieser Auftritte; sie aber haben nicht das volle
Verständnis für das Unwürdige solches Verfahrens. Sie betrachten die Prüge¬
leien als eine unvermeidliche Zugabe des Unterrichts, die freilich nicht dazu
dient, die Lust, in die Schule zu gehen, bei ihnen zu vergrößern. Die Fähigkeit,
über diese Borgänge wahrheitsgetreu zu berichten, ist mangelhaft bei ihnen
entwickelt. Je mehr aber so ein Dunkel über der ganzen Angelegenheit liegt,
je schwerer es ist, Licht hineinzubringen, desto größer ist die Besorgnis der


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[0340] Schulmißhcmdlungen Jugend einwirkt als die gefürchtete Milde. Man prüft nicht die Würdigkeit des Mannes, dem man eine so bedenkliche Gewalt über die Kinder anvertraut; man nimmt ohne weiteres an, daß er für die ihm gestellte Aufgabe befähigt sei. Liegt denn nicht in dem einseitigen Hervorheben des Wertes körperlicher Züchtigungsmittel für gewaltthätige Naturen geradezu eine Aufmunterung, ihrer Leidenschaft zu stöhnen? werden sie nicht durch ihre Befähigung zum „Hauen" andre Mängel ihrer Ausbildung oder die vollständige Unfähigkeit zu einer geschickten, verstündigen Behandlung der Kinder zu verbergen suchen? Trotz und Unbotmäßigkeit sind die Untugenden, die man bei der heran¬ wachsenden Jugend am meisten fürchtet, und die man rechtzeitig brechen möchte. Aber die Schulmißhandlungen zeugen von einem Mangel an Selbstbeherrschung, der diesen Untugenden nahe verwandt ist, wenn nicht von etwas schlimmeren, Mangel an Mitgefühl und Hang zur Grausamkeit. Hochmut, falsches Selbst¬ bewußtsein ist die Quelle dieser Ausschreitungen. Will man die Verzerrung der Moralbegriffe und die Verwüstungen moralischer Gefühle durch das Nietzschetum nicht weiter fördern, so schreite man unnachsichtlich gegen die Schulmißhandlungen ein. Oder wie muß es auf das Gemüt der .Kinder einwirken, wenn sie Zeugen von Auftritten sind, deren bloße Wiedergabe durch die Presse oder durch münd¬ lichen Bericht abstoßend auf uns wirkt und uns anwidert? Als Beweis dafür, wie es in der Schule, die der verstorbne Knabe besuchte, hergeht, sei hier nur angeführt, daß Ghmnasiallehrer, die im Sommer zeitweilig in der Nähe dieser Gemeindeschule unterrichteten, sich bei ihrem Rektor wiederholt darüber be¬ schwert haben, sie könnten bei dem zu ihnen hcrüberdringenden Geschrei der gezüchtigten Kinder nicht unterrichten. Das ist das unsäglich Traurige an der Angelegenheit, daß es die schwächsten, schntzbedürftigsten, am wenigsten widerstandsfähigen Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sind, die sich diese Behandlung gefallen lassen müssen, deren Unerfcihrcnheit und Mangel an Einsicht in so unverantwortlicher Weise gemißbraucht wird. Die verschüchterten, geäugstigten Kleinen wagen kaum einmal, die Schutzmittel in Anspruch zu nehmen, die ihnen denn doch noch zu Gebote stehen. Man muß mühsam aus ihnen herausfragen, was ihnen ge¬ schehen ist, und in einzelnen Füllen haben die Lehrer sogar die Kinder bedroht, sie würden mehr Schläge bekommen, wenn sie etwas ausplauderten. Die Kinder sind die einzigen Zeugen dieser Auftritte; sie aber haben nicht das volle Verständnis für das Unwürdige solches Verfahrens. Sie betrachten die Prüge¬ leien als eine unvermeidliche Zugabe des Unterrichts, die freilich nicht dazu dient, die Lust, in die Schule zu gehen, bei ihnen zu vergrößern. Die Fähigkeit, über diese Borgänge wahrheitsgetreu zu berichten, ist mangelhaft bei ihnen entwickelt. Je mehr aber so ein Dunkel über der ganzen Angelegenheit liegt, je schwerer es ist, Licht hineinzubringen, desto größer ist die Besorgnis der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/340>, abgerufen am 26.06.2024.