Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.und er doch noch keinen klaren Weg vor sich sah, nachträglich zum Universitüts- Das Idyll im Pfarrhause von Schliersee vom 1. Mai bis zum 12. Oktober und er doch noch keinen klaren Weg vor sich sah, nachträglich zum Universitüts- Das Idyll im Pfarrhause von Schliersee vom 1. Mai bis zum 12. Oktober <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0083" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225669"/> <p xml:id="ID_187" prev="#ID_186"> und er doch noch keinen klaren Weg vor sich sah, nachträglich zum Universitüts-<lb/> studium zu gelangen. Während die ersten drei Bücher als „Memorandum<lb/> meines Lebens" die Erinnerungen Platens an seine Kindheit, seinen Aufenthalt<lb/> im Kadettenhause zu München, sein Pagenleben am Münchner Hofe bis zu<lb/> seiner Ernennung zum Offizier zusammenfassen, das vierte und das fünfte Buch,<lb/> das Jahr vom April 1814 bis zum April 1815, schon eine Reihe von Tagc-<lb/> buchblättern in deutscher und französischer Sprache und dazwischen wieder<lb/> summarische Berichte und Allszüge aus den Tagebüchern enthalten, beginnen<lb/> mit dem sechsten Buche die „Diarien," die die Teilnahme Platens an dem<lb/> unblutigen Feldzug in Frankreich schildern (das bairische Armeekorps betrat<lb/> den feindlichen Boden erst nach der Schlacht bei Waterloo und dem zweiten<lb/> Sturze Napoleons), sehr ausführliche Aufzeichnungen über den beschwerlichen<lb/> Rückmarsch nach Baiern, das Wiedereinleben in München, den erneuten Zwie¬<lb/> spalt zwischen dem soldatischen Beruf des jungen Grafen und seinen littera¬<lb/> rischen Neigungen mit hundert und tausend Einzelheiten einschließen. Die<lb/> erste größere Unterbrechung der Eintönigkeit seines Münchner Gcirnisonlebens<lb/> bringt das zehnte Buch, das die Diarien einer vom 23. Juni bis 3. August<lb/> 1816 unternommnen Schweizerreise enthält. Dann folgen wiederum drei<lb/> Bücher Münchner Tagebuchblütter vom August 1816 bis zum Mai 1817,<lb/> Niederschriften zum Teil sehr düstern Charakters, die sich bis zu dem Ge¬<lb/> ständnis vom 1. April 1817 steigern: „Wenn ich mich auch von Zeit zu Zeit<lb/> ermanne, immer häufiger werden die Rückfcille in eine tiefe Melancholie, und<lb/> Gedanken des Todes und Selbstmords beherrschen mich fast ausschließlich.<lb/> Oft hält mich mir die Schonung für meine Eltern zurück. Mein Vater ist<lb/> alt und krank, meine gute Mutter sehr kränklich; sie schrieb mir heute, daß<lb/> sie sich nie mehr ganz erholen würde. Bald werden die einzigen Personen<lb/> von mir scheiden, die mich lieben, dann bin ich frei. Wir scheinen nur darum<lb/> geboren, um alles verlieren zu müssen. Wer sind wir? Was sollen wir?<lb/> Woher kommen wir? Wohin gehen wir? »Keine Antwort, diese Fragen<lb/> greifen finster in die Finsternis hinein.« Welche Prüfung für den schwachen<lb/> Menschen, auf diese Erde gepflanzt zu sein, ohne Stütze, an die er sich halten<lb/> könnte; ohne Hoffnung, auf die er bauen dürfte! Oft fühl ich mein Inneres<lb/> un stürmischen Aufruhr. Dann entdecke ich den Keim aller Laster in meiner<lb/> Brust; ich lästere die Gottheit selbst; ich hasse die Menschen, ich verachte mich<lb/> selbst. Wurden wir nicht, um zu leiden, wurden wir nicht, um zu sterben?<lb/> Je früher, desto besser."</p><lb/> <p xml:id="ID_188" next="#ID_189"> Das Idyll im Pfarrhause von Schliersee vom 1. Mai bis zum 12. Oktober<lb/> 1817 weckt wieder andre Töne in der Brust des noch nicht Einundzwanzig-<lb/> lahrigen. Er genoß die Stille, die ungestörte Arbeitszeit, die Natureindrücke<lb/> des Landlebens in vollen Zügen und seufzt noch im November, in die alten<lb/> Münchner Verhältnisse und Pflichten zurückgekehrt: „Wie sehr ich, seit ich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0083]
und er doch noch keinen klaren Weg vor sich sah, nachträglich zum Universitüts-
studium zu gelangen. Während die ersten drei Bücher als „Memorandum
meines Lebens" die Erinnerungen Platens an seine Kindheit, seinen Aufenthalt
im Kadettenhause zu München, sein Pagenleben am Münchner Hofe bis zu
seiner Ernennung zum Offizier zusammenfassen, das vierte und das fünfte Buch,
das Jahr vom April 1814 bis zum April 1815, schon eine Reihe von Tagc-
buchblättern in deutscher und französischer Sprache und dazwischen wieder
summarische Berichte und Allszüge aus den Tagebüchern enthalten, beginnen
mit dem sechsten Buche die „Diarien," die die Teilnahme Platens an dem
unblutigen Feldzug in Frankreich schildern (das bairische Armeekorps betrat
den feindlichen Boden erst nach der Schlacht bei Waterloo und dem zweiten
Sturze Napoleons), sehr ausführliche Aufzeichnungen über den beschwerlichen
Rückmarsch nach Baiern, das Wiedereinleben in München, den erneuten Zwie¬
spalt zwischen dem soldatischen Beruf des jungen Grafen und seinen littera¬
rischen Neigungen mit hundert und tausend Einzelheiten einschließen. Die
erste größere Unterbrechung der Eintönigkeit seines Münchner Gcirnisonlebens
bringt das zehnte Buch, das die Diarien einer vom 23. Juni bis 3. August
1816 unternommnen Schweizerreise enthält. Dann folgen wiederum drei
Bücher Münchner Tagebuchblütter vom August 1816 bis zum Mai 1817,
Niederschriften zum Teil sehr düstern Charakters, die sich bis zu dem Ge¬
ständnis vom 1. April 1817 steigern: „Wenn ich mich auch von Zeit zu Zeit
ermanne, immer häufiger werden die Rückfcille in eine tiefe Melancholie, und
Gedanken des Todes und Selbstmords beherrschen mich fast ausschließlich.
Oft hält mich mir die Schonung für meine Eltern zurück. Mein Vater ist
alt und krank, meine gute Mutter sehr kränklich; sie schrieb mir heute, daß
sie sich nie mehr ganz erholen würde. Bald werden die einzigen Personen
von mir scheiden, die mich lieben, dann bin ich frei. Wir scheinen nur darum
geboren, um alles verlieren zu müssen. Wer sind wir? Was sollen wir?
Woher kommen wir? Wohin gehen wir? »Keine Antwort, diese Fragen
greifen finster in die Finsternis hinein.« Welche Prüfung für den schwachen
Menschen, auf diese Erde gepflanzt zu sein, ohne Stütze, an die er sich halten
könnte; ohne Hoffnung, auf die er bauen dürfte! Oft fühl ich mein Inneres
un stürmischen Aufruhr. Dann entdecke ich den Keim aller Laster in meiner
Brust; ich lästere die Gottheit selbst; ich hasse die Menschen, ich verachte mich
selbst. Wurden wir nicht, um zu leiden, wurden wir nicht, um zu sterben?
Je früher, desto besser."
Das Idyll im Pfarrhause von Schliersee vom 1. Mai bis zum 12. Oktober
1817 weckt wieder andre Töne in der Brust des noch nicht Einundzwanzig-
lahrigen. Er genoß die Stille, die ungestörte Arbeitszeit, die Natureindrücke
des Landlebens in vollen Zügen und seufzt noch im November, in die alten
Münchner Verhältnisse und Pflichten zurückgekehrt: „Wie sehr ich, seit ich
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