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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Vererbung

Weismann die Ansicht eines englischen Physiologen, wonach die Wiederher¬
stellung verstümmelter Tierleiber die Wirkung einer "allgemeinen Reproduktions-
kraft des Protoplasmas" wäre, und bemerkt dazu, daß diese Kraft, selbst wenn
sie Thatsache wäre, doch sicherlich keine Erklärung sein würde. "Sie wäre
eben das, was erklärt werden soll." Ganz recht! Nur daß dasselbe von allen
"bekannten" Kräften und von Weismanns Erklärungsversuchen ebenfalls gilt.

Einen beinahe erheiternden Eindruck macht die Lektüre Weismanns, wenn
man sich dabei stets vor Augen hält, daß er die zwccksetzende Vernunft des
Schöpfers von der Naturerkläruug fernhalten will, denn seine Schriften sind,
wie schon angedeutet wurde, ein einziger Lobgesang auf die Zweckmäßigkeit
der Natur, und wir kennen kaum einen andern Naturforscher, der vou dieser
Zweckmäßigkeit einen gleich vollständigen, klaren und überwältigenden Begriff
gäbe. Er selbst bewundert die Zweckmäßigkeiten, die er aufdeckt. "Wie wunder¬
bar genau muß der Weg der Ontogenese vorgeschrieben sein, wenn er von der
Eizelle an durch Tausende von Zellgenerationen derart festgehalten werden
kann, daß "identische" Zwillinge dabei herauskommen!" (I< 143 bis 144). "Die
biologische Bedeutung des Eidechsenschwanzes darf eben darin gefunden werden,
daß er das Tier vor völligem Untergang schützt, indem der Verfolger zumeist
nach dem lange nachschleppenden Schwanz zielen wird, dabei aber oft das Tier
selbst entwischen läßt, weil der festgehaltene Schwanz abbricht. Ist er doch
ganz besonders zum Abbrechen eingerichtet" und wächst dann wieder nach
(S. 155). "Es giebt keine allgemeine Regenerationskraft, sondern sie ist
bei ein und derselben Tierform abgestuft nach dem Negenerationsbedürfnis
des Teiles, d. h. in erster Linie nach seiner Ausgesetztheit" (158). Die
Daphniden (Wasserflohe) legen zweierlei Eier. "Bei solchen Arten, die in ganz
kleinen oder rasch austrocknenden Wasseransammlungen (Pfützen) leben, wechseln
die beiden Arten der Eierbildung sehr rasch mit einander ab, weil nur die
Wintereier mit ihrer dicken Schale das Aussterben der Kolonie verhindern,
falls die Pfütze plötzlich austrocknet, während alle Arten, die in großen Wasser¬
ansammlungen leben, in Teichen und Seen, die niemals austrocknen, eine große
Zahl von Generationen hindurch nur Sommereier hervorbringen und erst beim
Herannahen des Winters zur Erzeugung der andern Eiart übergehen, die auch
nach dein Absterben der Kolonie ihren Bestand durch Überwintern sicher¬
stellen" (234 bis 235). V 447, wo die Reduktion der Ahnenplasmen als
der Hauptzweck der Kernteilung bezeichnet wird, heißt es dann weiter: "Aber
vielleicht ist es der Natur nicht bloß um diesen Hauptzweck zu thun, sondern
sie erreicht dabei noch gewisse Nebenerfolge." Da haben wir die Natur als
zwecksetzende und planmäßig arbeitende Baumeisterin. "Wenn eine Erscheinung
nur unter gewissen Bedingungen eintritt, so folgt daraus noch nicht, daß die
Bedingungen auch die Ursache der Erscheinung sind. Die Blutwärme ist eine
Bedingung, ohne die sich aus dem El ein Hühnchen nicht entwickeln kann,


Vererbung

Weismann die Ansicht eines englischen Physiologen, wonach die Wiederher¬
stellung verstümmelter Tierleiber die Wirkung einer „allgemeinen Reproduktions-
kraft des Protoplasmas" wäre, und bemerkt dazu, daß diese Kraft, selbst wenn
sie Thatsache wäre, doch sicherlich keine Erklärung sein würde. „Sie wäre
eben das, was erklärt werden soll." Ganz recht! Nur daß dasselbe von allen
„bekannten" Kräften und von Weismanns Erklärungsversuchen ebenfalls gilt.

Einen beinahe erheiternden Eindruck macht die Lektüre Weismanns, wenn
man sich dabei stets vor Augen hält, daß er die zwccksetzende Vernunft des
Schöpfers von der Naturerkläruug fernhalten will, denn seine Schriften sind,
wie schon angedeutet wurde, ein einziger Lobgesang auf die Zweckmäßigkeit
der Natur, und wir kennen kaum einen andern Naturforscher, der vou dieser
Zweckmäßigkeit einen gleich vollständigen, klaren und überwältigenden Begriff
gäbe. Er selbst bewundert die Zweckmäßigkeiten, die er aufdeckt. „Wie wunder¬
bar genau muß der Weg der Ontogenese vorgeschrieben sein, wenn er von der
Eizelle an durch Tausende von Zellgenerationen derart festgehalten werden
kann, daß »identische« Zwillinge dabei herauskommen!" (I< 143 bis 144). „Die
biologische Bedeutung des Eidechsenschwanzes darf eben darin gefunden werden,
daß er das Tier vor völligem Untergang schützt, indem der Verfolger zumeist
nach dem lange nachschleppenden Schwanz zielen wird, dabei aber oft das Tier
selbst entwischen läßt, weil der festgehaltene Schwanz abbricht. Ist er doch
ganz besonders zum Abbrechen eingerichtet" und wächst dann wieder nach
(S. 155). „Es giebt keine allgemeine Regenerationskraft, sondern sie ist
bei ein und derselben Tierform abgestuft nach dem Negenerationsbedürfnis
des Teiles, d. h. in erster Linie nach seiner Ausgesetztheit" (158). Die
Daphniden (Wasserflohe) legen zweierlei Eier. „Bei solchen Arten, die in ganz
kleinen oder rasch austrocknenden Wasseransammlungen (Pfützen) leben, wechseln
die beiden Arten der Eierbildung sehr rasch mit einander ab, weil nur die
Wintereier mit ihrer dicken Schale das Aussterben der Kolonie verhindern,
falls die Pfütze plötzlich austrocknet, während alle Arten, die in großen Wasser¬
ansammlungen leben, in Teichen und Seen, die niemals austrocknen, eine große
Zahl von Generationen hindurch nur Sommereier hervorbringen und erst beim
Herannahen des Winters zur Erzeugung der andern Eiart übergehen, die auch
nach dein Absterben der Kolonie ihren Bestand durch Überwintern sicher¬
stellen" (234 bis 235). V 447, wo die Reduktion der Ahnenplasmen als
der Hauptzweck der Kernteilung bezeichnet wird, heißt es dann weiter: „Aber
vielleicht ist es der Natur nicht bloß um diesen Hauptzweck zu thun, sondern
sie erreicht dabei noch gewisse Nebenerfolge." Da haben wir die Natur als
zwecksetzende und planmäßig arbeitende Baumeisterin. „Wenn eine Erscheinung
nur unter gewissen Bedingungen eintritt, so folgt daraus noch nicht, daß die
Bedingungen auch die Ursache der Erscheinung sind. Die Blutwärme ist eine
Bedingung, ohne die sich aus dem El ein Hühnchen nicht entwickeln kann,


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[0076] Vererbung Weismann die Ansicht eines englischen Physiologen, wonach die Wiederher¬ stellung verstümmelter Tierleiber die Wirkung einer „allgemeinen Reproduktions- kraft des Protoplasmas" wäre, und bemerkt dazu, daß diese Kraft, selbst wenn sie Thatsache wäre, doch sicherlich keine Erklärung sein würde. „Sie wäre eben das, was erklärt werden soll." Ganz recht! Nur daß dasselbe von allen „bekannten" Kräften und von Weismanns Erklärungsversuchen ebenfalls gilt. Einen beinahe erheiternden Eindruck macht die Lektüre Weismanns, wenn man sich dabei stets vor Augen hält, daß er die zwccksetzende Vernunft des Schöpfers von der Naturerkläruug fernhalten will, denn seine Schriften sind, wie schon angedeutet wurde, ein einziger Lobgesang auf die Zweckmäßigkeit der Natur, und wir kennen kaum einen andern Naturforscher, der vou dieser Zweckmäßigkeit einen gleich vollständigen, klaren und überwältigenden Begriff gäbe. Er selbst bewundert die Zweckmäßigkeiten, die er aufdeckt. „Wie wunder¬ bar genau muß der Weg der Ontogenese vorgeschrieben sein, wenn er von der Eizelle an durch Tausende von Zellgenerationen derart festgehalten werden kann, daß »identische« Zwillinge dabei herauskommen!" (I< 143 bis 144). „Die biologische Bedeutung des Eidechsenschwanzes darf eben darin gefunden werden, daß er das Tier vor völligem Untergang schützt, indem der Verfolger zumeist nach dem lange nachschleppenden Schwanz zielen wird, dabei aber oft das Tier selbst entwischen läßt, weil der festgehaltene Schwanz abbricht. Ist er doch ganz besonders zum Abbrechen eingerichtet" und wächst dann wieder nach (S. 155). „Es giebt keine allgemeine Regenerationskraft, sondern sie ist bei ein und derselben Tierform abgestuft nach dem Negenerationsbedürfnis des Teiles, d. h. in erster Linie nach seiner Ausgesetztheit" (158). Die Daphniden (Wasserflohe) legen zweierlei Eier. „Bei solchen Arten, die in ganz kleinen oder rasch austrocknenden Wasseransammlungen (Pfützen) leben, wechseln die beiden Arten der Eierbildung sehr rasch mit einander ab, weil nur die Wintereier mit ihrer dicken Schale das Aussterben der Kolonie verhindern, falls die Pfütze plötzlich austrocknet, während alle Arten, die in großen Wasser¬ ansammlungen leben, in Teichen und Seen, die niemals austrocknen, eine große Zahl von Generationen hindurch nur Sommereier hervorbringen und erst beim Herannahen des Winters zur Erzeugung der andern Eiart übergehen, die auch nach dein Absterben der Kolonie ihren Bestand durch Überwintern sicher¬ stellen" (234 bis 235). V 447, wo die Reduktion der Ahnenplasmen als der Hauptzweck der Kernteilung bezeichnet wird, heißt es dann weiter: „Aber vielleicht ist es der Natur nicht bloß um diesen Hauptzweck zu thun, sondern sie erreicht dabei noch gewisse Nebenerfolge." Da haben wir die Natur als zwecksetzende und planmäßig arbeitende Baumeisterin. „Wenn eine Erscheinung nur unter gewissen Bedingungen eintritt, so folgt daraus noch nicht, daß die Bedingungen auch die Ursache der Erscheinung sind. Die Blutwärme ist eine Bedingung, ohne die sich aus dem El ein Hühnchen nicht entwickeln kann,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/76>, abgerufen am 24.07.2024.