Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vererbung

vorhanden sind, und daß der Seele diese Bilder sich bewegender Atomgruppen
durch andre sich bewegende Atomgruppen, von denen sie nichts wahrnimmt:
die Gehirnmolekeln, zugeführt werden. Daß die Körperwelt als eine Ge¬
samtheit gestalteter, farbiger, leuchtender, tönender, duftender, durch Geschmack
und Tastgefühl wahrzunehmender Wesen ohne die wahrnehmenden Seelen ^-
gar nicht vorhanden sein würde, das gesteht auch Weismann zu. In den
"Gedanken über Musik bei Tieren und beim Menschen" schreibt er (V 630):
"Wenn man imstande wäre, die sämtlichen andern Partien des Großhirns zu
entfernen, die Hörsphäre aber unberührt zu lassen, so würde zwar der mecha¬
nische Prozeß, der zur Erzeugung von Tonempfindungen nötig ist, noch
immer vor sich gehen, allein das Tier oder der Mensch würde doch nichts
hören, weil nichts mehr in seinem Gehirn da wäre, was sich der Hörempsindung
bewußt werden könnte. Mit dem übrigen Großhirn wäre der gesamte Intellekt
beseitigt mit allen seinen Nebenkräftcn, wie Gemüt, Phantasie, Willen, Selbst¬
bewußtsein. Es fehlt die "Seele", und so können auch die schönsten musi¬
kalischen Tonempfindungen, die in der Hörsphäre zu stände gebracht werden,*)
nicht zur Wahrnehmung gelangen, weil eben nichts mehr da ist, was wahr¬
nehmen kann." Weiter oben hat er nachgewiesen, daß es nicht der GeHör¬
apparat ist. was sich im Laufe der Jahrhunderte verbessert und unsre großen
Komponisten, die ihre Werke ausführenden Künstler und deren musikverstün-
dige Zuhörer möglich gemacht hat, sondern etwas andres, das durch den
Fortschritt der geistigen Kultur erlangt worden sei: "eine feinfühlige, eindrucks¬
fähige, hochentwickelte Seele," die aber doch wiederum ohne den feinen GeHör¬
apparat unmusikalisch bleiben würde. Dieser feine GeHörapparat ist nun
selbstverständlich in Weismanns Theorie durch Naturzüchtung entstanden, die
darin bestanden hat, daß die mit bessern: Gehör ausgerüsteten Tiere im Kampf
ums Dasein gesiegt haben. Das feine Gehör muß ihnen also nützlich gewesen
sein. Nicht zu dem Zweck hat die Katze ein so feines für die Wahrnehmung
des Unterschiedes von hohen und tiefen Tönen, von Intervallen und Klang¬
farben eingerichtetes Gehör bekommen (ihr Cortisches Organ enthält 12500,
das des Menschen 15500 Zellen) damit sie sich, neben ihrem klavierspielenden
Herrn sitzend, an einer Sonate erfreuen könne, sondern ihr Gehör ist bis
zum musikalischen gesteigert worden, weil im Naturzustande die Katzen ihr
Fortkommen am besten finden, die die Stimmen der ihnen zur Nahrung dienenden
Vögel und der ihnen überlegnen Raubtiere am sichersten und raschesten zu
erkennen und zu unterscheiden vermögen. Die Fähigkeit der Tiere und Menschen
aber, Musik zu hören, ist -- "eine unbeabsichtigte Nebenwirkung eines Gehör-



*) Wie ungenau, das Selbstbewußtsein eine Ncbenkraft des Intellekts zu nennen und von
Tonempfindungen zu sprechen, wo nichts gehört wird! Nicht Tonempfindungen, sondern nur
geometrische Figuren der hin und her schwingenden Molekeln kommen in der Hörsphnre zu stände.
Vererbung

vorhanden sind, und daß der Seele diese Bilder sich bewegender Atomgruppen
durch andre sich bewegende Atomgruppen, von denen sie nichts wahrnimmt:
die Gehirnmolekeln, zugeführt werden. Daß die Körperwelt als eine Ge¬
samtheit gestalteter, farbiger, leuchtender, tönender, duftender, durch Geschmack
und Tastgefühl wahrzunehmender Wesen ohne die wahrnehmenden Seelen ^-
gar nicht vorhanden sein würde, das gesteht auch Weismann zu. In den
„Gedanken über Musik bei Tieren und beim Menschen" schreibt er (V 630):
„Wenn man imstande wäre, die sämtlichen andern Partien des Großhirns zu
entfernen, die Hörsphäre aber unberührt zu lassen, so würde zwar der mecha¬
nische Prozeß, der zur Erzeugung von Tonempfindungen nötig ist, noch
immer vor sich gehen, allein das Tier oder der Mensch würde doch nichts
hören, weil nichts mehr in seinem Gehirn da wäre, was sich der Hörempsindung
bewußt werden könnte. Mit dem übrigen Großhirn wäre der gesamte Intellekt
beseitigt mit allen seinen Nebenkräftcn, wie Gemüt, Phantasie, Willen, Selbst¬
bewußtsein. Es fehlt die »Seele«, und so können auch die schönsten musi¬
kalischen Tonempfindungen, die in der Hörsphäre zu stände gebracht werden,*)
nicht zur Wahrnehmung gelangen, weil eben nichts mehr da ist, was wahr¬
nehmen kann." Weiter oben hat er nachgewiesen, daß es nicht der GeHör¬
apparat ist. was sich im Laufe der Jahrhunderte verbessert und unsre großen
Komponisten, die ihre Werke ausführenden Künstler und deren musikverstün-
dige Zuhörer möglich gemacht hat, sondern etwas andres, das durch den
Fortschritt der geistigen Kultur erlangt worden sei: „eine feinfühlige, eindrucks¬
fähige, hochentwickelte Seele," die aber doch wiederum ohne den feinen GeHör¬
apparat unmusikalisch bleiben würde. Dieser feine GeHörapparat ist nun
selbstverständlich in Weismanns Theorie durch Naturzüchtung entstanden, die
darin bestanden hat, daß die mit bessern: Gehör ausgerüsteten Tiere im Kampf
ums Dasein gesiegt haben. Das feine Gehör muß ihnen also nützlich gewesen
sein. Nicht zu dem Zweck hat die Katze ein so feines für die Wahrnehmung
des Unterschiedes von hohen und tiefen Tönen, von Intervallen und Klang¬
farben eingerichtetes Gehör bekommen (ihr Cortisches Organ enthält 12500,
das des Menschen 15500 Zellen) damit sie sich, neben ihrem klavierspielenden
Herrn sitzend, an einer Sonate erfreuen könne, sondern ihr Gehör ist bis
zum musikalischen gesteigert worden, weil im Naturzustande die Katzen ihr
Fortkommen am besten finden, die die Stimmen der ihnen zur Nahrung dienenden
Vögel und der ihnen überlegnen Raubtiere am sichersten und raschesten zu
erkennen und zu unterscheiden vermögen. Die Fähigkeit der Tiere und Menschen
aber, Musik zu hören, ist — „eine unbeabsichtigte Nebenwirkung eines Gehör-



*) Wie ungenau, das Selbstbewußtsein eine Ncbenkraft des Intellekts zu nennen und von
Tonempfindungen zu sprechen, wo nichts gehört wird! Nicht Tonempfindungen, sondern nur
geometrische Figuren der hin und her schwingenden Molekeln kommen in der Hörsphnre zu stände.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225660"/>
          <fw type="header" place="top"> Vererbung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_170" prev="#ID_169" next="#ID_171"> vorhanden sind, und daß der Seele diese Bilder sich bewegender Atomgruppen<lb/>
durch andre sich bewegende Atomgruppen, von denen sie nichts wahrnimmt:<lb/>
die Gehirnmolekeln, zugeführt werden. Daß die Körperwelt als eine Ge¬<lb/>
samtheit gestalteter, farbiger, leuchtender, tönender, duftender, durch Geschmack<lb/>
und Tastgefühl wahrzunehmender Wesen ohne die wahrnehmenden Seelen ^-<lb/>
gar nicht vorhanden sein würde, das gesteht auch Weismann zu. In den<lb/>
&#x201E;Gedanken über Musik bei Tieren und beim Menschen" schreibt er (V 630):<lb/>
&#x201E;Wenn man imstande wäre, die sämtlichen andern Partien des Großhirns zu<lb/>
entfernen, die Hörsphäre aber unberührt zu lassen, so würde zwar der mecha¬<lb/>
nische Prozeß, der zur Erzeugung von Tonempfindungen nötig ist, noch<lb/>
immer vor sich gehen, allein das Tier oder der Mensch würde doch nichts<lb/>
hören, weil nichts mehr in seinem Gehirn da wäre, was sich der Hörempsindung<lb/>
bewußt werden könnte. Mit dem übrigen Großhirn wäre der gesamte Intellekt<lb/>
beseitigt mit allen seinen Nebenkräftcn, wie Gemüt, Phantasie, Willen, Selbst¬<lb/>
bewußtsein. Es fehlt die »Seele«, und so können auch die schönsten musi¬<lb/>
kalischen Tonempfindungen, die in der Hörsphäre zu stände gebracht werden,*)<lb/>
nicht zur Wahrnehmung gelangen, weil eben nichts mehr da ist, was wahr¬<lb/>
nehmen kann." Weiter oben hat er nachgewiesen, daß es nicht der GeHör¬<lb/>
apparat ist. was sich im Laufe der Jahrhunderte verbessert und unsre großen<lb/>
Komponisten, die ihre Werke ausführenden Künstler und deren musikverstün-<lb/>
dige Zuhörer möglich gemacht hat, sondern etwas andres, das durch den<lb/>
Fortschritt der geistigen Kultur erlangt worden sei: &#x201E;eine feinfühlige, eindrucks¬<lb/>
fähige, hochentwickelte Seele," die aber doch wiederum ohne den feinen GeHör¬<lb/>
apparat unmusikalisch bleiben würde. Dieser feine GeHörapparat ist nun<lb/>
selbstverständlich in Weismanns Theorie durch Naturzüchtung entstanden, die<lb/>
darin bestanden hat, daß die mit bessern: Gehör ausgerüsteten Tiere im Kampf<lb/>
ums Dasein gesiegt haben. Das feine Gehör muß ihnen also nützlich gewesen<lb/>
sein. Nicht zu dem Zweck hat die Katze ein so feines für die Wahrnehmung<lb/>
des Unterschiedes von hohen und tiefen Tönen, von Intervallen und Klang¬<lb/>
farben eingerichtetes Gehör bekommen (ihr Cortisches Organ enthält 12500,<lb/>
das des Menschen 15500 Zellen) damit sie sich, neben ihrem klavierspielenden<lb/>
Herrn sitzend, an einer Sonate erfreuen könne, sondern ihr Gehör ist bis<lb/>
zum musikalischen gesteigert worden, weil im Naturzustande die Katzen ihr<lb/>
Fortkommen am besten finden, die die Stimmen der ihnen zur Nahrung dienenden<lb/>
Vögel und der ihnen überlegnen Raubtiere am sichersten und raschesten zu<lb/>
erkennen und zu unterscheiden vermögen. Die Fähigkeit der Tiere und Menschen<lb/>
aber, Musik zu hören, ist &#x2014; &#x201E;eine unbeabsichtigte Nebenwirkung eines Gehör-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_12" place="foot"> *) Wie ungenau, das Selbstbewußtsein eine Ncbenkraft des Intellekts zu nennen und von<lb/>
Tonempfindungen zu sprechen, wo nichts gehört wird! Nicht Tonempfindungen, sondern nur<lb/>
geometrische Figuren der hin und her schwingenden Molekeln kommen in der Hörsphnre zu stände.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0074] Vererbung vorhanden sind, und daß der Seele diese Bilder sich bewegender Atomgruppen durch andre sich bewegende Atomgruppen, von denen sie nichts wahrnimmt: die Gehirnmolekeln, zugeführt werden. Daß die Körperwelt als eine Ge¬ samtheit gestalteter, farbiger, leuchtender, tönender, duftender, durch Geschmack und Tastgefühl wahrzunehmender Wesen ohne die wahrnehmenden Seelen ^- gar nicht vorhanden sein würde, das gesteht auch Weismann zu. In den „Gedanken über Musik bei Tieren und beim Menschen" schreibt er (V 630): „Wenn man imstande wäre, die sämtlichen andern Partien des Großhirns zu entfernen, die Hörsphäre aber unberührt zu lassen, so würde zwar der mecha¬ nische Prozeß, der zur Erzeugung von Tonempfindungen nötig ist, noch immer vor sich gehen, allein das Tier oder der Mensch würde doch nichts hören, weil nichts mehr in seinem Gehirn da wäre, was sich der Hörempsindung bewußt werden könnte. Mit dem übrigen Großhirn wäre der gesamte Intellekt beseitigt mit allen seinen Nebenkräftcn, wie Gemüt, Phantasie, Willen, Selbst¬ bewußtsein. Es fehlt die »Seele«, und so können auch die schönsten musi¬ kalischen Tonempfindungen, die in der Hörsphäre zu stände gebracht werden,*) nicht zur Wahrnehmung gelangen, weil eben nichts mehr da ist, was wahr¬ nehmen kann." Weiter oben hat er nachgewiesen, daß es nicht der GeHör¬ apparat ist. was sich im Laufe der Jahrhunderte verbessert und unsre großen Komponisten, die ihre Werke ausführenden Künstler und deren musikverstün- dige Zuhörer möglich gemacht hat, sondern etwas andres, das durch den Fortschritt der geistigen Kultur erlangt worden sei: „eine feinfühlige, eindrucks¬ fähige, hochentwickelte Seele," die aber doch wiederum ohne den feinen GeHör¬ apparat unmusikalisch bleiben würde. Dieser feine GeHörapparat ist nun selbstverständlich in Weismanns Theorie durch Naturzüchtung entstanden, die darin bestanden hat, daß die mit bessern: Gehör ausgerüsteten Tiere im Kampf ums Dasein gesiegt haben. Das feine Gehör muß ihnen also nützlich gewesen sein. Nicht zu dem Zweck hat die Katze ein so feines für die Wahrnehmung des Unterschiedes von hohen und tiefen Tönen, von Intervallen und Klang¬ farben eingerichtetes Gehör bekommen (ihr Cortisches Organ enthält 12500, das des Menschen 15500 Zellen) damit sie sich, neben ihrem klavierspielenden Herrn sitzend, an einer Sonate erfreuen könne, sondern ihr Gehör ist bis zum musikalischen gesteigert worden, weil im Naturzustande die Katzen ihr Fortkommen am besten finden, die die Stimmen der ihnen zur Nahrung dienenden Vögel und der ihnen überlegnen Raubtiere am sichersten und raschesten zu erkennen und zu unterscheiden vermögen. Die Fähigkeit der Tiere und Menschen aber, Musik zu hören, ist — „eine unbeabsichtigte Nebenwirkung eines Gehör- *) Wie ungenau, das Selbstbewußtsein eine Ncbenkraft des Intellekts zu nennen und von Tonempfindungen zu sprechen, wo nichts gehört wird! Nicht Tonempfindungen, sondern nur geometrische Figuren der hin und her schwingenden Molekeln kommen in der Hörsphnre zu stände.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/74
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/74>, abgerufen am 24.07.2024.