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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Idealismus und Akademismus

des Orients" und "Episoden." Die Ankündigungen der neuen Ausgabe lassen
es nicht an Hinweisen darauf fehlen, daß sich in der Verbreitung dieser
mannichfaltigen und immer Phantasie"oller Schöpfungen ein Widerstand, ja
ein Widerwille gegen die Herrschaft des Naturalismus kundgebe. und daß mit
der wachsenden Anerkennung dieses idealistischen Dichters vielleicht eine neue
Periode des Idealismus in der deutschen Litteratur eingeleitet werde. Jeden¬
falls darf man sich der Genugthuung freuen, die damit dem Andenken eines
hochgebildeten und hochverdienten Mannes zu teil wird. Und da Graf Schack
selbst des Glaubens gelebt hat und in dem Glauben geschieden ist, daß ihm
die besondern Vorzüge und Verdienste seiner poetischen Werke früher oder
später einen Platz unter den Klassikern der deutschen Litteratur sichern müßten,
so legt es die neue Gesamtausgabe nahe, deu Grund dieses Glaubens, den
Anspruch, den der Dichter in sich trug, und deu seine Bewundrer von Zeit zu
Zeit ernstlich erheben, einmal eingehender zu prüfen.

, Daß ein Dichter "seiner Zeit und Stätte leicht fehlt" -- wie es in
einem Sonett Dingelstcdts heißt --, ist unbestreitbar und in der deutschen
Litteratur durch mehr als ein erlauchtes Beispiel bewiesen. Heinrich von
Kleist, dessen große Eigenschaften und künstlerische Besonderheit in unmittel¬
barem Anschluß an den Sturm und Drang leicht verstanden worden wären,
traf zu Anfang unsers Jahrhunderts auf ein Geschlecht, das sich eben von
Schillers poetisch-philosophischem Idealismus hatte ergreifen und in die Welt
des schonen Scheins cmportrcigen lassen und für die herbe Wahrheit, die
unmittelbare warme Lebensfülle in Kleists Dichtungen fast unempfänglich
war. Warum sollte nicht umgekehrt ein idealistisch gestimmter Dichter von
weltumspannender Phantasie, von außerordentlicher Gedankenfülle, von höchster
und reifster Bildung in einer Litteratnrperiode unterschätzt worden sein, die
andre Vorzüge und andre Ideale von dem Dichter fordert? In dem ewigen
Auf und Ab einseitiger ästhetischer Auffassungen und Ansprüche, in dem
sich nnr wenige den Blick für das Echte in jeder Gestalt und Färbung be¬
wahren, geschieht dem Einzelnen leicht Unrecht; erst die Zeit, die geschichtliche
Einsicht und die Kritik gleichen das ans. Mit der bestimmten Erkenntnis der
Schranken einer poetischen Natur befestigt sich auch die sichere Schätzung ihrer
Positiven Eigenschaften und ihres bleibenden Wertes. Offenbar hat Graf
Schack hierauf gezählt: in dem Nachwort zum ersten Bande bedauert er, daß
so wenig Dichter die Gelegenheit von Gesamtausgaben dazu benutzt haben,
ihre Absichten darzulegen. "Wäre dies Gebrauch, wie vielen falschen Auf¬
fassungen könnte dadurch vorgebeugt werden, wie manches, was der Kurz¬
sichtigkeit als Fehler erscheint, würde dann in ein rechtes Licht treten! Kein
Autor wird nun wohl behaupten, daß irgend eine seiner Produktionen fehler¬
los sei, und ich behaupte es am wenigsten von den meinigen. Da selbst den
größten Dichtern und zwar ansncchmslos und an jedem ihrer Werke Gebrechen
G


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Idealismus und Akademismus

des Orients" und „Episoden." Die Ankündigungen der neuen Ausgabe lassen
es nicht an Hinweisen darauf fehlen, daß sich in der Verbreitung dieser
mannichfaltigen und immer Phantasie»oller Schöpfungen ein Widerstand, ja
ein Widerwille gegen die Herrschaft des Naturalismus kundgebe. und daß mit
der wachsenden Anerkennung dieses idealistischen Dichters vielleicht eine neue
Periode des Idealismus in der deutschen Litteratur eingeleitet werde. Jeden¬
falls darf man sich der Genugthuung freuen, die damit dem Andenken eines
hochgebildeten und hochverdienten Mannes zu teil wird. Und da Graf Schack
selbst des Glaubens gelebt hat und in dem Glauben geschieden ist, daß ihm
die besondern Vorzüge und Verdienste seiner poetischen Werke früher oder
später einen Platz unter den Klassikern der deutschen Litteratur sichern müßten,
so legt es die neue Gesamtausgabe nahe, deu Grund dieses Glaubens, den
Anspruch, den der Dichter in sich trug, und deu seine Bewundrer von Zeit zu
Zeit ernstlich erheben, einmal eingehender zu prüfen.

, Daß ein Dichter „seiner Zeit und Stätte leicht fehlt" — wie es in
einem Sonett Dingelstcdts heißt —, ist unbestreitbar und in der deutschen
Litteratur durch mehr als ein erlauchtes Beispiel bewiesen. Heinrich von
Kleist, dessen große Eigenschaften und künstlerische Besonderheit in unmittel¬
barem Anschluß an den Sturm und Drang leicht verstanden worden wären,
traf zu Anfang unsers Jahrhunderts auf ein Geschlecht, das sich eben von
Schillers poetisch-philosophischem Idealismus hatte ergreifen und in die Welt
des schonen Scheins cmportrcigen lassen und für die herbe Wahrheit, die
unmittelbare warme Lebensfülle in Kleists Dichtungen fast unempfänglich
war. Warum sollte nicht umgekehrt ein idealistisch gestimmter Dichter von
weltumspannender Phantasie, von außerordentlicher Gedankenfülle, von höchster
und reifster Bildung in einer Litteratnrperiode unterschätzt worden sein, die
andre Vorzüge und andre Ideale von dem Dichter fordert? In dem ewigen
Auf und Ab einseitiger ästhetischer Auffassungen und Ansprüche, in dem
sich nnr wenige den Blick für das Echte in jeder Gestalt und Färbung be¬
wahren, geschieht dem Einzelnen leicht Unrecht; erst die Zeit, die geschichtliche
Einsicht und die Kritik gleichen das ans. Mit der bestimmten Erkenntnis der
Schranken einer poetischen Natur befestigt sich auch die sichere Schätzung ihrer
Positiven Eigenschaften und ihres bleibenden Wertes. Offenbar hat Graf
Schack hierauf gezählt: in dem Nachwort zum ersten Bande bedauert er, daß
so wenig Dichter die Gelegenheit von Gesamtausgaben dazu benutzt haben,
ihre Absichten darzulegen. „Wäre dies Gebrauch, wie vielen falschen Auf¬
fassungen könnte dadurch vorgebeugt werden, wie manches, was der Kurz¬
sichtigkeit als Fehler erscheint, würde dann in ein rechtes Licht treten! Kein
Autor wird nun wohl behaupten, daß irgend eine seiner Produktionen fehler¬
los sei, und ich behaupte es am wenigsten von den meinigen. Da selbst den
größten Dichtern und zwar ansncchmslos und an jedem ihrer Werke Gebrechen
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renzboten III Igg? 70
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[0561] Idealismus und Akademismus des Orients" und „Episoden." Die Ankündigungen der neuen Ausgabe lassen es nicht an Hinweisen darauf fehlen, daß sich in der Verbreitung dieser mannichfaltigen und immer Phantasie»oller Schöpfungen ein Widerstand, ja ein Widerwille gegen die Herrschaft des Naturalismus kundgebe. und daß mit der wachsenden Anerkennung dieses idealistischen Dichters vielleicht eine neue Periode des Idealismus in der deutschen Litteratur eingeleitet werde. Jeden¬ falls darf man sich der Genugthuung freuen, die damit dem Andenken eines hochgebildeten und hochverdienten Mannes zu teil wird. Und da Graf Schack selbst des Glaubens gelebt hat und in dem Glauben geschieden ist, daß ihm die besondern Vorzüge und Verdienste seiner poetischen Werke früher oder später einen Platz unter den Klassikern der deutschen Litteratur sichern müßten, so legt es die neue Gesamtausgabe nahe, deu Grund dieses Glaubens, den Anspruch, den der Dichter in sich trug, und deu seine Bewundrer von Zeit zu Zeit ernstlich erheben, einmal eingehender zu prüfen. , Daß ein Dichter „seiner Zeit und Stätte leicht fehlt" — wie es in einem Sonett Dingelstcdts heißt —, ist unbestreitbar und in der deutschen Litteratur durch mehr als ein erlauchtes Beispiel bewiesen. Heinrich von Kleist, dessen große Eigenschaften und künstlerische Besonderheit in unmittel¬ barem Anschluß an den Sturm und Drang leicht verstanden worden wären, traf zu Anfang unsers Jahrhunderts auf ein Geschlecht, das sich eben von Schillers poetisch-philosophischem Idealismus hatte ergreifen und in die Welt des schonen Scheins cmportrcigen lassen und für die herbe Wahrheit, die unmittelbare warme Lebensfülle in Kleists Dichtungen fast unempfänglich war. Warum sollte nicht umgekehrt ein idealistisch gestimmter Dichter von weltumspannender Phantasie, von außerordentlicher Gedankenfülle, von höchster und reifster Bildung in einer Litteratnrperiode unterschätzt worden sein, die andre Vorzüge und andre Ideale von dem Dichter fordert? In dem ewigen Auf und Ab einseitiger ästhetischer Auffassungen und Ansprüche, in dem sich nnr wenige den Blick für das Echte in jeder Gestalt und Färbung be¬ wahren, geschieht dem Einzelnen leicht Unrecht; erst die Zeit, die geschichtliche Einsicht und die Kritik gleichen das ans. Mit der bestimmten Erkenntnis der Schranken einer poetischen Natur befestigt sich auch die sichere Schätzung ihrer Positiven Eigenschaften und ihres bleibenden Wertes. Offenbar hat Graf Schack hierauf gezählt: in dem Nachwort zum ersten Bande bedauert er, daß so wenig Dichter die Gelegenheit von Gesamtausgaben dazu benutzt haben, ihre Absichten darzulegen. „Wäre dies Gebrauch, wie vielen falschen Auf¬ fassungen könnte dadurch vorgebeugt werden, wie manches, was der Kurz¬ sichtigkeit als Fehler erscheint, würde dann in ein rechtes Licht treten! Kein Autor wird nun wohl behaupten, daß irgend eine seiner Produktionen fehler¬ los sei, und ich behaupte es am wenigsten von den meinigen. Da selbst den größten Dichtern und zwar ansncchmslos und an jedem ihrer Werke Gebrechen G renzboten III Igg? 70

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/561>, abgerufen am 28.12.2024.