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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Sinne des Wortes -- wer von den geehrten Lesern dieser Blätter hat je
in seinem Leben das Landrecht in der Hand gehabt? Auch der gebildetste
Laie hält es heutzutage für sein Recht und seine Pflicht, über die einfachsten
Fragen des geltenden Privatrechts die vollkommenste Unkenntnis zu bewahren,
und was selbst unsre bestgeleiteten Zeitungen in den Spalten ihrer Tagcs-
nachrichten über Fragen des Privatrechts zu bringen Pflegen, spottet ja oft
jeder Beschreibung. Diese Gleichgiltigkeit beschränkt sich keineswegs auf das
Recht römischen Ursprungs; auch der größte Freund des "deutschen Privat¬
rechts" kann sich nicht verhehlen, daß der bisherige Kampf der "Germanisten"
eher von allem andern getragen war, als von dem Verständnis und der selb¬
ständig andeutenden Teilnahme breiterer Volksschichten; sonst gäbe es schon
längst keinen "Romanisten" mehr. Auch die Verabschiedung des bürgerlichen
Gesetzbuches selbst hat, von einigen wenigen Hauptfrage" abgesehen, kaum die
ersten Anfänge eines wirklichen Interesses der öffentlichen Meinung hervor¬
gerufen, und auch das mehr durch den äußern Verlauf der Beratungen, als
infolge eines tiefern Eindringens in ihren Inhalt.

Vom reinen Berufsinteresse aus hat dieser Zustand für den Juristen
etwas sehr bestechendes: es giebt nichts bequemeres, als die Entwicklung des
Privatrechts so gewissermaßen unter Ausschluß der Öffentlichkeit in der Hand
zu halten; aber für die Ausbildung eines wahren deutschen Rechts ist ein
verständnisvolles Zusammenwirken von Juristen und ungelehrten deutschem
Volkstum unentbehrlich.

Wer in dieser Hinsichi seine Hoffnungen auf das bürgerliche Gesetzbuch
setzt, der muß allerdings zunächst gegen eine Reihe von Vorurteilen ankämpfen,
mit denen man dem deutschen Volke "graueln" gemacht hat. Es ist leicht,
über die Sprache des bürgerlichen Gesetzbuchs zu spotten. Es soll auch keinen
Augenblick bestritten werden, daß sich ohne sonderliche Mühe ganze Spalten
mit Paragraphen füllen ließen, die sich nur mit der Schiefertafel in der Hand
verstehen lassen, d. h. unter zahlenmäßig genauer körperlicher Veranschaulichung
des betreffenden Nechtsfalls. Die Frage ist nur, ob das, was gesagt werden
sollte und gesagt ist, anders ausgedrückt werden konnte, und das hat noch
niemand bewiesen- Die Schwierigkeit liegt eben in der Verwicklung des Ver¬
hältnisses; was seiner Natur nach durch das Zusammentreffen verschiedner
Interessen und Rücksichten verwickelt ist, das kann man auch nicht mit einem
einfachen Satze ausdrücken. Es wäre ja freilich "eleganter" gewesen, solche
Bestimmungen (meist die Ergebnisse höchstrichterlicher Spruchpraxis) aus dem
Gesetzbuche wegzulassen und ihre Entscheidung wie bisher der Praxis anzu¬
vertrauen; ebenso ließe sich für viele allgemeine Vorschriften und Grundsätze
eine "elegantere" Fassung denken. Aber vom Standpunkte des rechtsuchenden
Publikums bedeutet alle derartige "Eleganz" auf Kosten der Genauigkeit des
Ausdrucks eine Unsumme von Prozessen und Kosten und selbst unabsehbaren


Sinne des Wortes — wer von den geehrten Lesern dieser Blätter hat je
in seinem Leben das Landrecht in der Hand gehabt? Auch der gebildetste
Laie hält es heutzutage für sein Recht und seine Pflicht, über die einfachsten
Fragen des geltenden Privatrechts die vollkommenste Unkenntnis zu bewahren,
und was selbst unsre bestgeleiteten Zeitungen in den Spalten ihrer Tagcs-
nachrichten über Fragen des Privatrechts zu bringen Pflegen, spottet ja oft
jeder Beschreibung. Diese Gleichgiltigkeit beschränkt sich keineswegs auf das
Recht römischen Ursprungs; auch der größte Freund des „deutschen Privat¬
rechts" kann sich nicht verhehlen, daß der bisherige Kampf der „Germanisten"
eher von allem andern getragen war, als von dem Verständnis und der selb¬
ständig andeutenden Teilnahme breiterer Volksschichten; sonst gäbe es schon
längst keinen „Romanisten" mehr. Auch die Verabschiedung des bürgerlichen
Gesetzbuches selbst hat, von einigen wenigen Hauptfrage» abgesehen, kaum die
ersten Anfänge eines wirklichen Interesses der öffentlichen Meinung hervor¬
gerufen, und auch das mehr durch den äußern Verlauf der Beratungen, als
infolge eines tiefern Eindringens in ihren Inhalt.

Vom reinen Berufsinteresse aus hat dieser Zustand für den Juristen
etwas sehr bestechendes: es giebt nichts bequemeres, als die Entwicklung des
Privatrechts so gewissermaßen unter Ausschluß der Öffentlichkeit in der Hand
zu halten; aber für die Ausbildung eines wahren deutschen Rechts ist ein
verständnisvolles Zusammenwirken von Juristen und ungelehrten deutschem
Volkstum unentbehrlich.

Wer in dieser Hinsichi seine Hoffnungen auf das bürgerliche Gesetzbuch
setzt, der muß allerdings zunächst gegen eine Reihe von Vorurteilen ankämpfen,
mit denen man dem deutschen Volke „graueln" gemacht hat. Es ist leicht,
über die Sprache des bürgerlichen Gesetzbuchs zu spotten. Es soll auch keinen
Augenblick bestritten werden, daß sich ohne sonderliche Mühe ganze Spalten
mit Paragraphen füllen ließen, die sich nur mit der Schiefertafel in der Hand
verstehen lassen, d. h. unter zahlenmäßig genauer körperlicher Veranschaulichung
des betreffenden Nechtsfalls. Die Frage ist nur, ob das, was gesagt werden
sollte und gesagt ist, anders ausgedrückt werden konnte, und das hat noch
niemand bewiesen- Die Schwierigkeit liegt eben in der Verwicklung des Ver¬
hältnisses; was seiner Natur nach durch das Zusammentreffen verschiedner
Interessen und Rücksichten verwickelt ist, das kann man auch nicht mit einem
einfachen Satze ausdrücken. Es wäre ja freilich „eleganter" gewesen, solche
Bestimmungen (meist die Ergebnisse höchstrichterlicher Spruchpraxis) aus dem
Gesetzbuche wegzulassen und ihre Entscheidung wie bisher der Praxis anzu¬
vertrauen; ebenso ließe sich für viele allgemeine Vorschriften und Grundsätze
eine „elegantere" Fassung denken. Aber vom Standpunkte des rechtsuchenden
Publikums bedeutet alle derartige „Eleganz" auf Kosten der Genauigkeit des
Ausdrucks eine Unsumme von Prozessen und Kosten und selbst unabsehbaren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/558>, abgerufen am 28.12.2024.