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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Einiges von der deutschen Rechtseinheit

stößt, welche Vertragsstrafe "unverhältnismäßig hoch" ist, welche Bereicherung
des "rechtlichen Grundes" entbehrt, das läßt sich schlechterdings nicht mit
Quellenstudium und Textkritik, nach juristischen Kategorien oder aus der Ent¬
stehungsgeschichte des Gesetzes beantworten, auch schwerlich aus frühern Ent¬
scheidungen, wie E. Kempin in Ur. 23 meint, sondern ausschließlich aus dem
Leben selbst. Bisher konnte nur zu oft auch der handgreiflichste, den
zwingendsten Bedürfnissen des Wirtschaftslebens entnommne Grund damit ab¬
gethan werden, daß er nach der beliebten Ausdrucksweise 6s Is^s tsisucla
(d. h. als Material für eine künftige Gesetzgebung) "wichtig und beachtens¬
wert" sei, aber as IsM latg. (d. h. nach dem Buchstaben des bestehenden Rechts)
nicht berücksichtigt werden könne.

Es würde zu weit führen, dieser geistigen Unfreiheit vieler Rechtssprüche
gegenüber dem bestehenden Gesetzeswort und ihren Ursachen tiefer nachzuforschen;
ein Zusammenhang zwischen ihr und der schon oben berührte" Spaltung
zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung wird kaum von der Hand zu
weisen sein. Über diese Spaltung schrieb kürzlich einer der angesehensten
deutschen Rechtslehrer, Professor Laband: "Auf keinem andern Gebiete geistiger
Arbeit besteht eine solche Entfremdung zwischen den Vertretern der Theorie
und den Praktikern, wie auf dem juristischen. Obgleich kein Einsichtiger ver¬
kennt, wie sehr Theorie und Praxis sich gegenseitig fördern und befruchten,
wie sehr sie auf einander angewiesen sind, und wie vieles sie sich gegenseitig
verdanken, so fehlt doch ihren Vertretern das Bewußtsein der Zusammen¬
gehörigkeit, der Gemeinschaft des Berufs in ungleich höherm Grade wie etwa
den Theoretikern und Praktikern der Medizin, der Chemie und Physik, der
technischen Fächer, des Lehrfachs. Gewöhnlich betrachtet der Rechtslehrer die
Richter und Anwälte als Leute eines ihm fremden Berufsstandes, die ihn nicht
näher angehen als die Angehörigen eines andern Standes, während ebenso die
juristischen Praktiker die Rechtslehrer im allgemeinen als cirmntitö iilzgliKöÄvIs
ansehen." Alles das gilt nicht nur von der persönlichen, sondern noch mehr
von der sachlichen Seite des Verhältnisses.

Für den einzelnen Juristen macht sich das am fühlbarsten in der Ge¬
staltung des privatrechtlichen Studiums. Offenkundiger- und zugestandnerweisc
wird es als genügend angesehen, "wenn der Nechtskcmdidat nur am Schlüsse
seiner Studien sich noch eine besondre, nicht notwendigerweise tiefe Kenntnis
des partikularen Rechts verschafft, dessen praktische Handhabung freilich seine
weitere Lebenszeit ausfülle"" wird. Mit andern Worten: eine eigentliche
wissenschaftliche Ausbildung in dem geltenden Privatrecht findet überhaupt
uicht statt -- eine Thatsache, die jeder Rechtskandidat bestätigen wird. Im
Mittelpunkte des Privatrcchtsstudiums steht eben das Pandektenkolleg; in
welcher Ausschließlichkeit, davon macht sich der Uneingeweihte kaum eine Vor¬
stellung.


Einiges von der deutschen Rechtseinheit

stößt, welche Vertragsstrafe „unverhältnismäßig hoch" ist, welche Bereicherung
des „rechtlichen Grundes" entbehrt, das läßt sich schlechterdings nicht mit
Quellenstudium und Textkritik, nach juristischen Kategorien oder aus der Ent¬
stehungsgeschichte des Gesetzes beantworten, auch schwerlich aus frühern Ent¬
scheidungen, wie E. Kempin in Ur. 23 meint, sondern ausschließlich aus dem
Leben selbst. Bisher konnte nur zu oft auch der handgreiflichste, den
zwingendsten Bedürfnissen des Wirtschaftslebens entnommne Grund damit ab¬
gethan werden, daß er nach der beliebten Ausdrucksweise 6s Is^s tsisucla
(d. h. als Material für eine künftige Gesetzgebung) „wichtig und beachtens¬
wert" sei, aber as IsM latg. (d. h. nach dem Buchstaben des bestehenden Rechts)
nicht berücksichtigt werden könne.

Es würde zu weit führen, dieser geistigen Unfreiheit vieler Rechtssprüche
gegenüber dem bestehenden Gesetzeswort und ihren Ursachen tiefer nachzuforschen;
ein Zusammenhang zwischen ihr und der schon oben berührte» Spaltung
zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung wird kaum von der Hand zu
weisen sein. Über diese Spaltung schrieb kürzlich einer der angesehensten
deutschen Rechtslehrer, Professor Laband: „Auf keinem andern Gebiete geistiger
Arbeit besteht eine solche Entfremdung zwischen den Vertretern der Theorie
und den Praktikern, wie auf dem juristischen. Obgleich kein Einsichtiger ver¬
kennt, wie sehr Theorie und Praxis sich gegenseitig fördern und befruchten,
wie sehr sie auf einander angewiesen sind, und wie vieles sie sich gegenseitig
verdanken, so fehlt doch ihren Vertretern das Bewußtsein der Zusammen¬
gehörigkeit, der Gemeinschaft des Berufs in ungleich höherm Grade wie etwa
den Theoretikern und Praktikern der Medizin, der Chemie und Physik, der
technischen Fächer, des Lehrfachs. Gewöhnlich betrachtet der Rechtslehrer die
Richter und Anwälte als Leute eines ihm fremden Berufsstandes, die ihn nicht
näher angehen als die Angehörigen eines andern Standes, während ebenso die
juristischen Praktiker die Rechtslehrer im allgemeinen als cirmntitö iilzgliKöÄvIs
ansehen." Alles das gilt nicht nur von der persönlichen, sondern noch mehr
von der sachlichen Seite des Verhältnisses.

Für den einzelnen Juristen macht sich das am fühlbarsten in der Ge¬
staltung des privatrechtlichen Studiums. Offenkundiger- und zugestandnerweisc
wird es als genügend angesehen, „wenn der Nechtskcmdidat nur am Schlüsse
seiner Studien sich noch eine besondre, nicht notwendigerweise tiefe Kenntnis
des partikularen Rechts verschafft, dessen praktische Handhabung freilich seine
weitere Lebenszeit ausfülle»" wird. Mit andern Worten: eine eigentliche
wissenschaftliche Ausbildung in dem geltenden Privatrecht findet überhaupt
uicht statt — eine Thatsache, die jeder Rechtskandidat bestätigen wird. Im
Mittelpunkte des Privatrcchtsstudiums steht eben das Pandektenkolleg; in
welcher Ausschließlichkeit, davon macht sich der Uneingeweihte kaum eine Vor¬
stellung.


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[0556] Einiges von der deutschen Rechtseinheit stößt, welche Vertragsstrafe „unverhältnismäßig hoch" ist, welche Bereicherung des „rechtlichen Grundes" entbehrt, das läßt sich schlechterdings nicht mit Quellenstudium und Textkritik, nach juristischen Kategorien oder aus der Ent¬ stehungsgeschichte des Gesetzes beantworten, auch schwerlich aus frühern Ent¬ scheidungen, wie E. Kempin in Ur. 23 meint, sondern ausschließlich aus dem Leben selbst. Bisher konnte nur zu oft auch der handgreiflichste, den zwingendsten Bedürfnissen des Wirtschaftslebens entnommne Grund damit ab¬ gethan werden, daß er nach der beliebten Ausdrucksweise 6s Is^s tsisucla (d. h. als Material für eine künftige Gesetzgebung) „wichtig und beachtens¬ wert" sei, aber as IsM latg. (d. h. nach dem Buchstaben des bestehenden Rechts) nicht berücksichtigt werden könne. Es würde zu weit führen, dieser geistigen Unfreiheit vieler Rechtssprüche gegenüber dem bestehenden Gesetzeswort und ihren Ursachen tiefer nachzuforschen; ein Zusammenhang zwischen ihr und der schon oben berührte» Spaltung zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung wird kaum von der Hand zu weisen sein. Über diese Spaltung schrieb kürzlich einer der angesehensten deutschen Rechtslehrer, Professor Laband: „Auf keinem andern Gebiete geistiger Arbeit besteht eine solche Entfremdung zwischen den Vertretern der Theorie und den Praktikern, wie auf dem juristischen. Obgleich kein Einsichtiger ver¬ kennt, wie sehr Theorie und Praxis sich gegenseitig fördern und befruchten, wie sehr sie auf einander angewiesen sind, und wie vieles sie sich gegenseitig verdanken, so fehlt doch ihren Vertretern das Bewußtsein der Zusammen¬ gehörigkeit, der Gemeinschaft des Berufs in ungleich höherm Grade wie etwa den Theoretikern und Praktikern der Medizin, der Chemie und Physik, der technischen Fächer, des Lehrfachs. Gewöhnlich betrachtet der Rechtslehrer die Richter und Anwälte als Leute eines ihm fremden Berufsstandes, die ihn nicht näher angehen als die Angehörigen eines andern Standes, während ebenso die juristischen Praktiker die Rechtslehrer im allgemeinen als cirmntitö iilzgliKöÄvIs ansehen." Alles das gilt nicht nur von der persönlichen, sondern noch mehr von der sachlichen Seite des Verhältnisses. Für den einzelnen Juristen macht sich das am fühlbarsten in der Ge¬ staltung des privatrechtlichen Studiums. Offenkundiger- und zugestandnerweisc wird es als genügend angesehen, „wenn der Nechtskcmdidat nur am Schlüsse seiner Studien sich noch eine besondre, nicht notwendigerweise tiefe Kenntnis des partikularen Rechts verschafft, dessen praktische Handhabung freilich seine weitere Lebenszeit ausfülle»" wird. Mit andern Worten: eine eigentliche wissenschaftliche Ausbildung in dem geltenden Privatrecht findet überhaupt uicht statt — eine Thatsache, die jeder Rechtskandidat bestätigen wird. Im Mittelpunkte des Privatrcchtsstudiums steht eben das Pandektenkolleg; in welcher Ausschließlichkeit, davon macht sich der Uneingeweihte kaum eine Vor¬ stellung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/556>, abgerufen am 24.07.2024.