Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Einiges von der deutschen Rechtseinheit

viel Überschwang und Übertreibung untergelciufcn; gleichwohl hat augenscheinlich
der laute Kampfruf der Germanisten in der Öffentlichkeit nachgewirkt, und wer
es unternimmt, durch unbefangne Betrachtung der neuen Rechtssätze, durch
eine von praktischen Gesichtspunkten ausgehende Vergleichung mit dem be¬
stehenden Rechte Wert oder Unwert jener Angriffe zu ergründen, der setzt sich
mit einem günstigen Urteil über das neue Recht leicht dem Verdacht aus, gute
Miene zum bösen Spiele zu machen oder leichtherzig die äußere Rechtseinheit
mit schwerster Schädigung des deutscheu Volkstums zu bezahlen. Ja noch
mehr: es hat einmal in der Täglichen Rundschau ein böses Wort gestanden
von "einigen Richtern, denen ans praktischen Bequemlichkeitsgründen eine
möglichst baldige Rechtseinheitlichkeit erwünscht sein würde." Damit ist die
wirkliche Sachlage so schlimm verkannt, wie nur irgend möglich. Der Richter
in seinem räumlich eng begrenzten Bezirke kommt nur äußerst selten in die
Lage, ein andres Recht anzuwenden, als das ihm gewohnte und geläufige,
vielleicht nicht häufiger, als er genötigt ist, ausländisches Recht (englisches,
französisches, österreichisches usw.) zu ermitteln; wo der Fall, etwa in größern
Städten, öfter an ihn herantritt, giebt es Hilfsmittel genug, sich schnell und
ohne sonderliche Mühe zu unterrichten. Auch in solchen Bezirken, die unter
besondrer Nechtszersplitterung leiden (z. B. Schleswig-Holstein), wird selbst der
weniger erfahrne Richter nicht allzu langer Übung bedürfen, um sich zurecht¬
zufinden. Solche Unbequemlichkeiten sind bei weitem nicht die schlimmsten und
wohl kaum irgendwo als besonders drückend empfunden worden. Dagegen
nun die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs! 2385 Paragraphen, zum
Teil von großem Umfange, dazu 218 Artikel des Einführungsgesetzes und
bei allen größern Gesetzen (Handelsgesetzbuch, Zivilprozeßordnung, Konkurs-
vrdnnng) einschneidende Änderungen, endlich vollkommen neue Gesetze über
die Zwangsvollstreckung in Grundstücke, die Grundbuchordnung und die An¬
gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit -- in Nichterkreisen hört man
wohl die Ansicht aussprechen, daß etwa ein Drittel aller preußischen Richter
sich der Mühe dieses Studiums nicht mehr unterziehen werde. Das mag
übertrieben sein; aber anch abgesehen von der ersten geistigen Durcharbeitung
des neuen Nechtsftoffs darf man die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die sich
zunächst aus der Anwendung des neuen Gesetzes, ans dem Versagen aller alt¬
gewohnten wissenschaftlichen Hilfsmittel, dem Mangel einer festen Praxis und
dem Bruch mit so mancher mehr der Gewohnheit als eignem Nachdenken ent¬
stammenden Entscheidung ergeben werden.

Alles das aber trifft nicht nur die Richter, sondern in noch höherm Maße
auch die Rechtsanwälte und damit das rechtsuchende Publikum. Es ist nicht
zu bezweifeln, daß es während einer verhältnismäßig langen Übergangszeit
manche überflüssige Gerichtskostcnrechnung und manchen Verlornen Prozeß geben
wird, bis sich das neue Recht eingelebt haben wird.


Einiges von der deutschen Rechtseinheit

viel Überschwang und Übertreibung untergelciufcn; gleichwohl hat augenscheinlich
der laute Kampfruf der Germanisten in der Öffentlichkeit nachgewirkt, und wer
es unternimmt, durch unbefangne Betrachtung der neuen Rechtssätze, durch
eine von praktischen Gesichtspunkten ausgehende Vergleichung mit dem be¬
stehenden Rechte Wert oder Unwert jener Angriffe zu ergründen, der setzt sich
mit einem günstigen Urteil über das neue Recht leicht dem Verdacht aus, gute
Miene zum bösen Spiele zu machen oder leichtherzig die äußere Rechtseinheit
mit schwerster Schädigung des deutscheu Volkstums zu bezahlen. Ja noch
mehr: es hat einmal in der Täglichen Rundschau ein böses Wort gestanden
von „einigen Richtern, denen ans praktischen Bequemlichkeitsgründen eine
möglichst baldige Rechtseinheitlichkeit erwünscht sein würde." Damit ist die
wirkliche Sachlage so schlimm verkannt, wie nur irgend möglich. Der Richter
in seinem räumlich eng begrenzten Bezirke kommt nur äußerst selten in die
Lage, ein andres Recht anzuwenden, als das ihm gewohnte und geläufige,
vielleicht nicht häufiger, als er genötigt ist, ausländisches Recht (englisches,
französisches, österreichisches usw.) zu ermitteln; wo der Fall, etwa in größern
Städten, öfter an ihn herantritt, giebt es Hilfsmittel genug, sich schnell und
ohne sonderliche Mühe zu unterrichten. Auch in solchen Bezirken, die unter
besondrer Nechtszersplitterung leiden (z. B. Schleswig-Holstein), wird selbst der
weniger erfahrne Richter nicht allzu langer Übung bedürfen, um sich zurecht¬
zufinden. Solche Unbequemlichkeiten sind bei weitem nicht die schlimmsten und
wohl kaum irgendwo als besonders drückend empfunden worden. Dagegen
nun die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs! 2385 Paragraphen, zum
Teil von großem Umfange, dazu 218 Artikel des Einführungsgesetzes und
bei allen größern Gesetzen (Handelsgesetzbuch, Zivilprozeßordnung, Konkurs-
vrdnnng) einschneidende Änderungen, endlich vollkommen neue Gesetze über
die Zwangsvollstreckung in Grundstücke, die Grundbuchordnung und die An¬
gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit — in Nichterkreisen hört man
wohl die Ansicht aussprechen, daß etwa ein Drittel aller preußischen Richter
sich der Mühe dieses Studiums nicht mehr unterziehen werde. Das mag
übertrieben sein; aber anch abgesehen von der ersten geistigen Durcharbeitung
des neuen Nechtsftoffs darf man die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die sich
zunächst aus der Anwendung des neuen Gesetzes, ans dem Versagen aller alt¬
gewohnten wissenschaftlichen Hilfsmittel, dem Mangel einer festen Praxis und
dem Bruch mit so mancher mehr der Gewohnheit als eignem Nachdenken ent¬
stammenden Entscheidung ergeben werden.

Alles das aber trifft nicht nur die Richter, sondern in noch höherm Maße
auch die Rechtsanwälte und damit das rechtsuchende Publikum. Es ist nicht
zu bezweifeln, daß es während einer verhältnismäßig langen Übergangszeit
manche überflüssige Gerichtskostcnrechnung und manchen Verlornen Prozeß geben
wird, bis sich das neue Recht eingelebt haben wird.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0502" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226088"/>
            <fw type="header" place="top"> Einiges von der deutschen Rechtseinheit</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1245" prev="#ID_1244"> viel Überschwang und Übertreibung untergelciufcn; gleichwohl hat augenscheinlich<lb/>
der laute Kampfruf der Germanisten in der Öffentlichkeit nachgewirkt, und wer<lb/>
es unternimmt, durch unbefangne Betrachtung der neuen Rechtssätze, durch<lb/>
eine von praktischen Gesichtspunkten ausgehende Vergleichung mit dem be¬<lb/>
stehenden Rechte Wert oder Unwert jener Angriffe zu ergründen, der setzt sich<lb/>
mit einem günstigen Urteil über das neue Recht leicht dem Verdacht aus, gute<lb/>
Miene zum bösen Spiele zu machen oder leichtherzig die äußere Rechtseinheit<lb/>
mit schwerster Schädigung des deutscheu Volkstums zu bezahlen. Ja noch<lb/>
mehr: es hat einmal in der Täglichen Rundschau ein böses Wort gestanden<lb/>
von &#x201E;einigen Richtern, denen ans praktischen Bequemlichkeitsgründen eine<lb/>
möglichst baldige Rechtseinheitlichkeit erwünscht sein würde." Damit ist die<lb/>
wirkliche Sachlage so schlimm verkannt, wie nur irgend möglich. Der Richter<lb/>
in seinem räumlich eng begrenzten Bezirke kommt nur äußerst selten in die<lb/>
Lage, ein andres Recht anzuwenden, als das ihm gewohnte und geläufige,<lb/>
vielleicht nicht häufiger, als er genötigt ist, ausländisches Recht (englisches,<lb/>
französisches, österreichisches usw.) zu ermitteln; wo der Fall, etwa in größern<lb/>
Städten, öfter an ihn herantritt, giebt es Hilfsmittel genug, sich schnell und<lb/>
ohne sonderliche Mühe zu unterrichten. Auch in solchen Bezirken, die unter<lb/>
besondrer Nechtszersplitterung leiden (z. B. Schleswig-Holstein), wird selbst der<lb/>
weniger erfahrne Richter nicht allzu langer Übung bedürfen, um sich zurecht¬<lb/>
zufinden. Solche Unbequemlichkeiten sind bei weitem nicht die schlimmsten und<lb/>
wohl kaum irgendwo als besonders drückend empfunden worden. Dagegen<lb/>
nun die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs! 2385 Paragraphen, zum<lb/>
Teil von großem Umfange, dazu 218 Artikel des Einführungsgesetzes und<lb/>
bei allen größern Gesetzen (Handelsgesetzbuch, Zivilprozeßordnung, Konkurs-<lb/>
vrdnnng) einschneidende Änderungen, endlich vollkommen neue Gesetze über<lb/>
die Zwangsvollstreckung in Grundstücke, die Grundbuchordnung und die An¬<lb/>
gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit &#x2014; in Nichterkreisen hört man<lb/>
wohl die Ansicht aussprechen, daß etwa ein Drittel aller preußischen Richter<lb/>
sich der Mühe dieses Studiums nicht mehr unterziehen werde. Das mag<lb/>
übertrieben sein; aber anch abgesehen von der ersten geistigen Durcharbeitung<lb/>
des neuen Nechtsftoffs darf man die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die sich<lb/>
zunächst aus der Anwendung des neuen Gesetzes, ans dem Versagen aller alt¬<lb/>
gewohnten wissenschaftlichen Hilfsmittel, dem Mangel einer festen Praxis und<lb/>
dem Bruch mit so mancher mehr der Gewohnheit als eignem Nachdenken ent¬<lb/>
stammenden Entscheidung ergeben werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1246"> Alles das aber trifft nicht nur die Richter, sondern in noch höherm Maße<lb/>
auch die Rechtsanwälte und damit das rechtsuchende Publikum. Es ist nicht<lb/>
zu bezweifeln, daß es während einer verhältnismäßig langen Übergangszeit<lb/>
manche überflüssige Gerichtskostcnrechnung und manchen Verlornen Prozeß geben<lb/>
wird, bis sich das neue Recht eingelebt haben wird.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0502] Einiges von der deutschen Rechtseinheit viel Überschwang und Übertreibung untergelciufcn; gleichwohl hat augenscheinlich der laute Kampfruf der Germanisten in der Öffentlichkeit nachgewirkt, und wer es unternimmt, durch unbefangne Betrachtung der neuen Rechtssätze, durch eine von praktischen Gesichtspunkten ausgehende Vergleichung mit dem be¬ stehenden Rechte Wert oder Unwert jener Angriffe zu ergründen, der setzt sich mit einem günstigen Urteil über das neue Recht leicht dem Verdacht aus, gute Miene zum bösen Spiele zu machen oder leichtherzig die äußere Rechtseinheit mit schwerster Schädigung des deutscheu Volkstums zu bezahlen. Ja noch mehr: es hat einmal in der Täglichen Rundschau ein böses Wort gestanden von „einigen Richtern, denen ans praktischen Bequemlichkeitsgründen eine möglichst baldige Rechtseinheitlichkeit erwünscht sein würde." Damit ist die wirkliche Sachlage so schlimm verkannt, wie nur irgend möglich. Der Richter in seinem räumlich eng begrenzten Bezirke kommt nur äußerst selten in die Lage, ein andres Recht anzuwenden, als das ihm gewohnte und geläufige, vielleicht nicht häufiger, als er genötigt ist, ausländisches Recht (englisches, französisches, österreichisches usw.) zu ermitteln; wo der Fall, etwa in größern Städten, öfter an ihn herantritt, giebt es Hilfsmittel genug, sich schnell und ohne sonderliche Mühe zu unterrichten. Auch in solchen Bezirken, die unter besondrer Nechtszersplitterung leiden (z. B. Schleswig-Holstein), wird selbst der weniger erfahrne Richter nicht allzu langer Übung bedürfen, um sich zurecht¬ zufinden. Solche Unbequemlichkeiten sind bei weitem nicht die schlimmsten und wohl kaum irgendwo als besonders drückend empfunden worden. Dagegen nun die Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs! 2385 Paragraphen, zum Teil von großem Umfange, dazu 218 Artikel des Einführungsgesetzes und bei allen größern Gesetzen (Handelsgesetzbuch, Zivilprozeßordnung, Konkurs- vrdnnng) einschneidende Änderungen, endlich vollkommen neue Gesetze über die Zwangsvollstreckung in Grundstücke, die Grundbuchordnung und die An¬ gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit — in Nichterkreisen hört man wohl die Ansicht aussprechen, daß etwa ein Drittel aller preußischen Richter sich der Mühe dieses Studiums nicht mehr unterziehen werde. Das mag übertrieben sein; aber anch abgesehen von der ersten geistigen Durcharbeitung des neuen Nechtsftoffs darf man die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, die sich zunächst aus der Anwendung des neuen Gesetzes, ans dem Versagen aller alt¬ gewohnten wissenschaftlichen Hilfsmittel, dem Mangel einer festen Praxis und dem Bruch mit so mancher mehr der Gewohnheit als eignem Nachdenken ent¬ stammenden Entscheidung ergeben werden. Alles das aber trifft nicht nur die Richter, sondern in noch höherm Maße auch die Rechtsanwälte und damit das rechtsuchende Publikum. Es ist nicht zu bezweifeln, daß es während einer verhältnismäßig langen Übergangszeit manche überflüssige Gerichtskostcnrechnung und manchen Verlornen Prozeß geben wird, bis sich das neue Recht eingelebt haben wird.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/502
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/502>, abgerufen am 28.12.2024.