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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

fühlen,*) die Jugendthorheit dabei nicht ausgeschlossen, und wir können das
Volk nicht verstehen, ohne an seinem Blut und Leben noch teilzuhaben. Es
ist -- und davon war zu Beginn unsrer Betrachtungen schon die Rede --
zur Zeit nicht wenig Schwärmerei für das Volk unter uns, eine platonische
Schwärmerei für das Volk in av8tiÄew, für Volkslieder, Volkstrachten, Volks¬
bräuche und etwa für die vielgenannte "Volksseele," aber viel weniger Bereit¬
willigkeit zur innern Verständigung mit den uns gegenübertretenden lebendigen
einzelnen Mitgliedern des Volkes, die freilich die Volksseele nicht so schlechthin
in ihrem Busen tragen und nicht bloß in der reinen und tiefen Weise des
Volksliedes empfinden, auch nicht mit den Personen der schönen Dorfgeschichten
reden, die nicht Poesie in ihrer Erscheinungsform sind, sondern Prosa, wie
wir selbst, oder noch unrhhthmischere, unharmonischere Prosa, die, um uns
innere Fühlung mit ihnen zu ermöglichen, es nötig machen, daß wir aus
unsrer gebildeten Haut oder Denk- und Ausdrucksweise etwas herausfahren,
die aber diese Bemühung lohnen durch die Berührung im echt Menschlichen.

Wie viel durch solche Herzensöffnung im ganzen gewonnen werden könnte,
das läßt sich nicht berechnen. Wir leben ja in einer Zeit, wo das Volk zu
einem unheimlich großen Teil die Abgrenzung seines Daseins von dem der
bevorzugten Stände tief empfindet, wo das Gefühl der Jenseitigkeit zur Feind¬
schaft geworden ist, wo tief fressendes Mißtrauen sich nicht überwinden lassen
will, wo der Neid die Phantasie befruchtet und die Herzen lahmt. Und das
ist nicht etwa auf das wirtschaftliche Gebiet beschränkt oder nur aus dessen
Entwicklung entstanden; dort hat das alles seinen ersten und stärksten Anhalt
gefunden. Im Grunde aber ist es doch die Folge davon, daß seit Jahr¬
hunderten ein Teil dessen, was einst das Volk als wirklich zusammengehöriges
und gleichartiges Ganze, als volle Lebensgemeinschaft war, aus dem Ganzen
hinausgewachsen ist und sich abgelöst hat, ohne das große Ganze nachzuziehen,
und daß das Bewußtsein für die Zusammengehörigkeit als Pflicht sich mit
verloren hatte. Jetzt bemühen wir uns, bemühen sich wenigstens viele unter
uns, möglichst gut zu machen, was versäumt worden ist. Aber jetzt muß
unser Geschlecht zunächst die Buße tragen sür das, was die Vorlebenden ver¬
schuldet haben. Ist das so unnatürlich, ist das eine so tiefe Ungerechtigkeit
der Weltgeschichte? Es wird doch wohl so sein dürfen, dieses Gesetz wird
bestehen bleiben, da uns ja von den Vorlebenden auch so viel Gewinn uner-



") Darin sind thatsächlich die Nationen recht verschieden, und uns Deutschen war das
Fühlen mit der Jugend besonders abhanden gekommen, während eS in England den besten
Männern, namentlich auch den gebildetsten und vornehmsten, nie fern lag, ja sogar ein Stück
"ster Knnbennnlur (der "07 schliesst dort nicht mit fünfzehn Jahren ab) in den, Wesen der
Männer noch fühlbar bleibt. Bei den Franzosen ist es vielleicht mehr umgekehrt so, daß die
Jugend früh das Wesen der Erwachsenen annimmt, obwohl andrerseits die große Lebhaftigkeit
des Empfindens auch bei den Erwachsenen ein Stück dauernder Jugend bedeuten kann.
Volk und Jugend

fühlen,*) die Jugendthorheit dabei nicht ausgeschlossen, und wir können das
Volk nicht verstehen, ohne an seinem Blut und Leben noch teilzuhaben. Es
ist — und davon war zu Beginn unsrer Betrachtungen schon die Rede —
zur Zeit nicht wenig Schwärmerei für das Volk unter uns, eine platonische
Schwärmerei für das Volk in av8tiÄew, für Volkslieder, Volkstrachten, Volks¬
bräuche und etwa für die vielgenannte „Volksseele," aber viel weniger Bereit¬
willigkeit zur innern Verständigung mit den uns gegenübertretenden lebendigen
einzelnen Mitgliedern des Volkes, die freilich die Volksseele nicht so schlechthin
in ihrem Busen tragen und nicht bloß in der reinen und tiefen Weise des
Volksliedes empfinden, auch nicht mit den Personen der schönen Dorfgeschichten
reden, die nicht Poesie in ihrer Erscheinungsform sind, sondern Prosa, wie
wir selbst, oder noch unrhhthmischere, unharmonischere Prosa, die, um uns
innere Fühlung mit ihnen zu ermöglichen, es nötig machen, daß wir aus
unsrer gebildeten Haut oder Denk- und Ausdrucksweise etwas herausfahren,
die aber diese Bemühung lohnen durch die Berührung im echt Menschlichen.

Wie viel durch solche Herzensöffnung im ganzen gewonnen werden könnte,
das läßt sich nicht berechnen. Wir leben ja in einer Zeit, wo das Volk zu
einem unheimlich großen Teil die Abgrenzung seines Daseins von dem der
bevorzugten Stände tief empfindet, wo das Gefühl der Jenseitigkeit zur Feind¬
schaft geworden ist, wo tief fressendes Mißtrauen sich nicht überwinden lassen
will, wo der Neid die Phantasie befruchtet und die Herzen lahmt. Und das
ist nicht etwa auf das wirtschaftliche Gebiet beschränkt oder nur aus dessen
Entwicklung entstanden; dort hat das alles seinen ersten und stärksten Anhalt
gefunden. Im Grunde aber ist es doch die Folge davon, daß seit Jahr¬
hunderten ein Teil dessen, was einst das Volk als wirklich zusammengehöriges
und gleichartiges Ganze, als volle Lebensgemeinschaft war, aus dem Ganzen
hinausgewachsen ist und sich abgelöst hat, ohne das große Ganze nachzuziehen,
und daß das Bewußtsein für die Zusammengehörigkeit als Pflicht sich mit
verloren hatte. Jetzt bemühen wir uns, bemühen sich wenigstens viele unter
uns, möglichst gut zu machen, was versäumt worden ist. Aber jetzt muß
unser Geschlecht zunächst die Buße tragen sür das, was die Vorlebenden ver¬
schuldet haben. Ist das so unnatürlich, ist das eine so tiefe Ungerechtigkeit
der Weltgeschichte? Es wird doch wohl so sein dürfen, dieses Gesetz wird
bestehen bleiben, da uns ja von den Vorlebenden auch so viel Gewinn uner-



") Darin sind thatsächlich die Nationen recht verschieden, und uns Deutschen war das
Fühlen mit der Jugend besonders abhanden gekommen, während eS in England den besten
Männern, namentlich auch den gebildetsten und vornehmsten, nie fern lag, ja sogar ein Stück
«ster Knnbennnlur (der »07 schliesst dort nicht mit fünfzehn Jahren ab) in den, Wesen der
Männer noch fühlbar bleibt. Bei den Franzosen ist es vielleicht mehr umgekehrt so, daß die
Jugend früh das Wesen der Erwachsenen annimmt, obwohl andrerseits die große Lebhaftigkeit
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[0471] Volk und Jugend fühlen,*) die Jugendthorheit dabei nicht ausgeschlossen, und wir können das Volk nicht verstehen, ohne an seinem Blut und Leben noch teilzuhaben. Es ist — und davon war zu Beginn unsrer Betrachtungen schon die Rede — zur Zeit nicht wenig Schwärmerei für das Volk unter uns, eine platonische Schwärmerei für das Volk in av8tiÄew, für Volkslieder, Volkstrachten, Volks¬ bräuche und etwa für die vielgenannte „Volksseele," aber viel weniger Bereit¬ willigkeit zur innern Verständigung mit den uns gegenübertretenden lebendigen einzelnen Mitgliedern des Volkes, die freilich die Volksseele nicht so schlechthin in ihrem Busen tragen und nicht bloß in der reinen und tiefen Weise des Volksliedes empfinden, auch nicht mit den Personen der schönen Dorfgeschichten reden, die nicht Poesie in ihrer Erscheinungsform sind, sondern Prosa, wie wir selbst, oder noch unrhhthmischere, unharmonischere Prosa, die, um uns innere Fühlung mit ihnen zu ermöglichen, es nötig machen, daß wir aus unsrer gebildeten Haut oder Denk- und Ausdrucksweise etwas herausfahren, die aber diese Bemühung lohnen durch die Berührung im echt Menschlichen. Wie viel durch solche Herzensöffnung im ganzen gewonnen werden könnte, das läßt sich nicht berechnen. Wir leben ja in einer Zeit, wo das Volk zu einem unheimlich großen Teil die Abgrenzung seines Daseins von dem der bevorzugten Stände tief empfindet, wo das Gefühl der Jenseitigkeit zur Feind¬ schaft geworden ist, wo tief fressendes Mißtrauen sich nicht überwinden lassen will, wo der Neid die Phantasie befruchtet und die Herzen lahmt. Und das ist nicht etwa auf das wirtschaftliche Gebiet beschränkt oder nur aus dessen Entwicklung entstanden; dort hat das alles seinen ersten und stärksten Anhalt gefunden. Im Grunde aber ist es doch die Folge davon, daß seit Jahr¬ hunderten ein Teil dessen, was einst das Volk als wirklich zusammengehöriges und gleichartiges Ganze, als volle Lebensgemeinschaft war, aus dem Ganzen hinausgewachsen ist und sich abgelöst hat, ohne das große Ganze nachzuziehen, und daß das Bewußtsein für die Zusammengehörigkeit als Pflicht sich mit verloren hatte. Jetzt bemühen wir uns, bemühen sich wenigstens viele unter uns, möglichst gut zu machen, was versäumt worden ist. Aber jetzt muß unser Geschlecht zunächst die Buße tragen sür das, was die Vorlebenden ver¬ schuldet haben. Ist das so unnatürlich, ist das eine so tiefe Ungerechtigkeit der Weltgeschichte? Es wird doch wohl so sein dürfen, dieses Gesetz wird bestehen bleiben, da uns ja von den Vorlebenden auch so viel Gewinn uner- ") Darin sind thatsächlich die Nationen recht verschieden, und uns Deutschen war das Fühlen mit der Jugend besonders abhanden gekommen, während eS in England den besten Männern, namentlich auch den gebildetsten und vornehmsten, nie fern lag, ja sogar ein Stück «ster Knnbennnlur (der »07 schliesst dort nicht mit fünfzehn Jahren ab) in den, Wesen der Männer noch fühlbar bleibt. Bei den Franzosen ist es vielleicht mehr umgekehrt so, daß die Jugend früh das Wesen der Erwachsenen annimmt, obwohl andrerseits die große Lebhaftigkeit des Empfindens auch bei den Erwachsenen ein Stück dauernder Jugend bedeuten kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/471>, abgerufen am 24.07.2024.