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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

darbieten; eine größere Reife, eine starke Annäherung an das Wesen der Ge¬
bildeten findet sich bei einem Teil des Volkes der großen Städte; und was
in der Jugend die Flegeljahre sind und namentlich die recht kräftig entwickelten
Flegeljahre, auch das findet sein Seitenstück in -- dem Pöbel. Freilich nicht,
als ob der Pöbel eigentlich etwas neben dem Volke wäre oder unter ihm:
dieselbe Menschengemeinschaft, die sich als harmloses und schätzbares Volk dar¬
stellte, vermag eben zu böser Stunde und in unheilvoller Berührung zum
Pöbel zu werden, dessen charakteristische Regungen frech und roh sind, dessen
sittliches Gefühl weggeworfen ist, auf deu nichts Edles Einfluß gewinnt.
Wie gesagt, alles einigermaßen ähnlich wie in jenen schlimmen Jugendjahren
der Auflösung und des Übergangs.

Es giebt noch andre unerfreuliche Spielarten; auch dem blasirten Jüng-
lingsthpus (der aber auch nur eine Durchgangsstufe zu fein braucht, die
Wirkung des ersten Zerrinnens, der ersten Lebensenttäuschungen), auch ihm
entspricht etwas im Volke, oder vielleicht richtiger: am Rande des Volkes.
Das ist das Philistertum. Der Philister hat einen ersten Schritt aus dem
eigentlichen Volle heraus gemacht, aber er ist damit nicht in die Höhe gelangt,
nicht der wirklichen und wertvollen Bildung näher gekommen, sondern -- um
ein zeitgemäßes Bild aus dem Eisenbahnwesen zu gebrauchen -- auf einen
toten Strang geraten. Er ist sich bewußt, nicht mehr wie ein Rohr vom
Winde hin und her bewegt zu werden, oder wie das naive Volk von allerlei
guten und bösen Regungen und Einwirkungen; er fühlt sich fest in seiner Be¬
sonderheit, er hat das Bewußtsein persönlicher Erfahrungen, erworbner Menschen¬
kenntnis. Aber er hat nur Kleines verstanden, und er glaubt bei den andern
vorwiegend an kleine Motive und sehr gern auch an die niedrigsten. Er wird,
so sicher er auch zu urteilen glaubt, von fremdem Zweifel leicht bestimmt und
gewonnen, er fürchtet immer zu gläubig, zu vertrauensvoll, zu unerfahren er¬
funden zu werden. Er hat viel Interesse für fremdes Leben, aber nicht mit¬
fühlendes Interesse, jedenfalls ist es jeden Angenblick bereit in ablehnende
Empfindungen umzuschlagen. Er hat also eigentlich keinen Glauben und keine
Liebe, keine Lust zur innern Selbstbewegung, keine Fähigkeit zur Erhebung,
zur Begeisterung, auch kein Gefühl für großes Gemeinschaftsleben; er entbehrt
der seelischen Kraft. Das Herz hat sich zusammengezogen und verengert, sich
gleichsam nach außen abgekapselt. Wenn das Volk die zu einer gewissen Er¬
starrung oder doch zu einem Stillstand gekommne Jugend darstellt, so ist das
Philistertum gewissermaßen das Volkstümliche in gedörrten Zustand.

Das Bild ist häßlich. Und doch: wie viele halten sich in Wirklichkeit
ganz frei von diesen Zügen? Und dazu gleich die andre Frage: wer ist es
eigentlich, der dem Volke nun wirklich gegenübersteht, wer ist so hoch gekommen,
so uuabhüugig geworden, so sicher und frei und fest organisirt, daß er ganz
der Stufe des Volkes entwachsen wäre? Nicht viele im ganzen, und diese


Volk und Jugend

darbieten; eine größere Reife, eine starke Annäherung an das Wesen der Ge¬
bildeten findet sich bei einem Teil des Volkes der großen Städte; und was
in der Jugend die Flegeljahre sind und namentlich die recht kräftig entwickelten
Flegeljahre, auch das findet sein Seitenstück in — dem Pöbel. Freilich nicht,
als ob der Pöbel eigentlich etwas neben dem Volke wäre oder unter ihm:
dieselbe Menschengemeinschaft, die sich als harmloses und schätzbares Volk dar¬
stellte, vermag eben zu böser Stunde und in unheilvoller Berührung zum
Pöbel zu werden, dessen charakteristische Regungen frech und roh sind, dessen
sittliches Gefühl weggeworfen ist, auf deu nichts Edles Einfluß gewinnt.
Wie gesagt, alles einigermaßen ähnlich wie in jenen schlimmen Jugendjahren
der Auflösung und des Übergangs.

Es giebt noch andre unerfreuliche Spielarten; auch dem blasirten Jüng-
lingsthpus (der aber auch nur eine Durchgangsstufe zu fein braucht, die
Wirkung des ersten Zerrinnens, der ersten Lebensenttäuschungen), auch ihm
entspricht etwas im Volke, oder vielleicht richtiger: am Rande des Volkes.
Das ist das Philistertum. Der Philister hat einen ersten Schritt aus dem
eigentlichen Volle heraus gemacht, aber er ist damit nicht in die Höhe gelangt,
nicht der wirklichen und wertvollen Bildung näher gekommen, sondern — um
ein zeitgemäßes Bild aus dem Eisenbahnwesen zu gebrauchen — auf einen
toten Strang geraten. Er ist sich bewußt, nicht mehr wie ein Rohr vom
Winde hin und her bewegt zu werden, oder wie das naive Volk von allerlei
guten und bösen Regungen und Einwirkungen; er fühlt sich fest in seiner Be¬
sonderheit, er hat das Bewußtsein persönlicher Erfahrungen, erworbner Menschen¬
kenntnis. Aber er hat nur Kleines verstanden, und er glaubt bei den andern
vorwiegend an kleine Motive und sehr gern auch an die niedrigsten. Er wird,
so sicher er auch zu urteilen glaubt, von fremdem Zweifel leicht bestimmt und
gewonnen, er fürchtet immer zu gläubig, zu vertrauensvoll, zu unerfahren er¬
funden zu werden. Er hat viel Interesse für fremdes Leben, aber nicht mit¬
fühlendes Interesse, jedenfalls ist es jeden Angenblick bereit in ablehnende
Empfindungen umzuschlagen. Er hat also eigentlich keinen Glauben und keine
Liebe, keine Lust zur innern Selbstbewegung, keine Fähigkeit zur Erhebung,
zur Begeisterung, auch kein Gefühl für großes Gemeinschaftsleben; er entbehrt
der seelischen Kraft. Das Herz hat sich zusammengezogen und verengert, sich
gleichsam nach außen abgekapselt. Wenn das Volk die zu einer gewissen Er¬
starrung oder doch zu einem Stillstand gekommne Jugend darstellt, so ist das
Philistertum gewissermaßen das Volkstümliche in gedörrten Zustand.

Das Bild ist häßlich. Und doch: wie viele halten sich in Wirklichkeit
ganz frei von diesen Zügen? Und dazu gleich die andre Frage: wer ist es
eigentlich, der dem Volke nun wirklich gegenübersteht, wer ist so hoch gekommen,
so uuabhüugig geworden, so sicher und frei und fest organisirt, daß er ganz
der Stufe des Volkes entwachsen wäre? Nicht viele im ganzen, und diese


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[0469] Volk und Jugend darbieten; eine größere Reife, eine starke Annäherung an das Wesen der Ge¬ bildeten findet sich bei einem Teil des Volkes der großen Städte; und was in der Jugend die Flegeljahre sind und namentlich die recht kräftig entwickelten Flegeljahre, auch das findet sein Seitenstück in — dem Pöbel. Freilich nicht, als ob der Pöbel eigentlich etwas neben dem Volke wäre oder unter ihm: dieselbe Menschengemeinschaft, die sich als harmloses und schätzbares Volk dar¬ stellte, vermag eben zu böser Stunde und in unheilvoller Berührung zum Pöbel zu werden, dessen charakteristische Regungen frech und roh sind, dessen sittliches Gefühl weggeworfen ist, auf deu nichts Edles Einfluß gewinnt. Wie gesagt, alles einigermaßen ähnlich wie in jenen schlimmen Jugendjahren der Auflösung und des Übergangs. Es giebt noch andre unerfreuliche Spielarten; auch dem blasirten Jüng- lingsthpus (der aber auch nur eine Durchgangsstufe zu fein braucht, die Wirkung des ersten Zerrinnens, der ersten Lebensenttäuschungen), auch ihm entspricht etwas im Volke, oder vielleicht richtiger: am Rande des Volkes. Das ist das Philistertum. Der Philister hat einen ersten Schritt aus dem eigentlichen Volle heraus gemacht, aber er ist damit nicht in die Höhe gelangt, nicht der wirklichen und wertvollen Bildung näher gekommen, sondern — um ein zeitgemäßes Bild aus dem Eisenbahnwesen zu gebrauchen — auf einen toten Strang geraten. Er ist sich bewußt, nicht mehr wie ein Rohr vom Winde hin und her bewegt zu werden, oder wie das naive Volk von allerlei guten und bösen Regungen und Einwirkungen; er fühlt sich fest in seiner Be¬ sonderheit, er hat das Bewußtsein persönlicher Erfahrungen, erworbner Menschen¬ kenntnis. Aber er hat nur Kleines verstanden, und er glaubt bei den andern vorwiegend an kleine Motive und sehr gern auch an die niedrigsten. Er wird, so sicher er auch zu urteilen glaubt, von fremdem Zweifel leicht bestimmt und gewonnen, er fürchtet immer zu gläubig, zu vertrauensvoll, zu unerfahren er¬ funden zu werden. Er hat viel Interesse für fremdes Leben, aber nicht mit¬ fühlendes Interesse, jedenfalls ist es jeden Angenblick bereit in ablehnende Empfindungen umzuschlagen. Er hat also eigentlich keinen Glauben und keine Liebe, keine Lust zur innern Selbstbewegung, keine Fähigkeit zur Erhebung, zur Begeisterung, auch kein Gefühl für großes Gemeinschaftsleben; er entbehrt der seelischen Kraft. Das Herz hat sich zusammengezogen und verengert, sich gleichsam nach außen abgekapselt. Wenn das Volk die zu einer gewissen Er¬ starrung oder doch zu einem Stillstand gekommne Jugend darstellt, so ist das Philistertum gewissermaßen das Volkstümliche in gedörrten Zustand. Das Bild ist häßlich. Und doch: wie viele halten sich in Wirklichkeit ganz frei von diesen Zügen? Und dazu gleich die andre Frage: wer ist es eigentlich, der dem Volke nun wirklich gegenübersteht, wer ist so hoch gekommen, so uuabhüugig geworden, so sicher und frei und fest organisirt, daß er ganz der Stufe des Volkes entwachsen wäre? Nicht viele im ganzen, und diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/469>, abgerufen am 29.12.2024.