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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

das, was die gewohnten Maße überschreitet, aber das ist eben nur eine
unreife Vorstufe, ist gewissermaßen nur ein kindisches Bedürfnis der Seele,
die nach Jmponirendem dürstet und in sich noch nicht die harmonische Form
gewonnen, nicht die Organe entwickelt hat, das Erhabne aufzufassen, das ja
Harmonie im Gewaltigen ist. Für die Harmonie außerhalb unser selbst
sind wir eben erst empfänglich, wenn wir gleichsam ein wohlgestimmtes
Saitenspiel in unserm Innern tragen, das von draußen angeweht seine eignen
Töne giebt.

Aber nicht nur das Erhabne außer uns oder uns gegenüber bleibt un¬
verstanden oder ungewürdigt sich habe noch kaum jemand aus dem Volke
den Sternenhimmel preisen hören), sondern auch das, was in uns seine Stätte
finden, seine Macht ausüben soll. Nicht leicht wird die Majestät der Pflicht
vollständig empfunden, obwohl ehrenfeste Gewöhnung oder Selbstaufopferung,
ohne Klage, nichts weniger als ungewöhnlich sind und auch ihrerseits als
eine Art von imponirender Pflichterfüllung wirken mögen. Und so ist auch
das Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit und namentlich das Schuldgefühl
selten in rechter Kraft anzutreffen; man fühlt die Versuchung noch als die
starke Übermacht, die eigne Schwäche als ein zufälliges Schicksal, das Ver¬
brechen wird für den Thäter zum bloßen Unglück, und das bloße Vergehen
verzeiht man sich, schon weil es so nahe lag. Daß es die Welt, daß es die
Wallenden in der Welt so gar ernst nehmen wollen, erweckt eine Art von
Staunen und das Gefühl, daß man hilflos einer zufällig stärkern Macht preis¬
gegeben sei. Das alles gilt in entsprechendem Maße auch für die Jugend.
Und da, wo beide zusammentreffen, jugendliche Unfertigkeit und Zugehörigkeit
zum Volke, kommt es denn auch zu den häßlichsten Erscheinungen trotziger
Selbstbehauptung und stumpf abgelehnter Verantwortung.

Wenn sich auch die Unfertigkeit der menschlichen Erkenntnis natürlich in
verschiedner Form fühlbar macht, so ist doch eine Hauptform die der mangelnden
Einheit, der unaufgehobnen Widersprüche, der zwiespältigen Natur. In der
That: so wie die meisten Schwierigkeiten des Lebens in der Aufgabe der Ver¬
mittlung von Gegenüberstehenden und Entgegengesetzten bestehen, so bleibt das
Unfertige meist ungelöstes Auseinanderstreben, unvermittelter Gegensatz. Die
Sittlichkeit des Volkes, wie die Sittlichkeit der Jugend kennzeichnet sich in
diesem Sinne. Eine der anmuteudsten Seiten der jugendlichen und der Volks¬
natur ist immer die Bereitschaft zum Mitleid, und dieses Gefühl schon im
zartesten Alter in den jungen Herzen großzuziehen ist mit Recht ein Anliegen
der ersten Erzieher. Aber neben den vollen Regungen des Mitleids -- wie
oft zeigt sich auch auffallende, fast empörende Kaltherzigkeit gegenüber fremdem
Leid! Denn dieses Leid spricht nicht regelmäßig und sicher zu dem unfertigen,
unorganisirten Innern; es muß sich dazu besonders verstündlich machen oder
verständlich gemacht werden. Als schöne Tugend der einfachen Leute gilt uns


Volk und Jugend

das, was die gewohnten Maße überschreitet, aber das ist eben nur eine
unreife Vorstufe, ist gewissermaßen nur ein kindisches Bedürfnis der Seele,
die nach Jmponirendem dürstet und in sich noch nicht die harmonische Form
gewonnen, nicht die Organe entwickelt hat, das Erhabne aufzufassen, das ja
Harmonie im Gewaltigen ist. Für die Harmonie außerhalb unser selbst
sind wir eben erst empfänglich, wenn wir gleichsam ein wohlgestimmtes
Saitenspiel in unserm Innern tragen, das von draußen angeweht seine eignen
Töne giebt.

Aber nicht nur das Erhabne außer uns oder uns gegenüber bleibt un¬
verstanden oder ungewürdigt sich habe noch kaum jemand aus dem Volke
den Sternenhimmel preisen hören), sondern auch das, was in uns seine Stätte
finden, seine Macht ausüben soll. Nicht leicht wird die Majestät der Pflicht
vollständig empfunden, obwohl ehrenfeste Gewöhnung oder Selbstaufopferung,
ohne Klage, nichts weniger als ungewöhnlich sind und auch ihrerseits als
eine Art von imponirender Pflichterfüllung wirken mögen. Und so ist auch
das Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit und namentlich das Schuldgefühl
selten in rechter Kraft anzutreffen; man fühlt die Versuchung noch als die
starke Übermacht, die eigne Schwäche als ein zufälliges Schicksal, das Ver¬
brechen wird für den Thäter zum bloßen Unglück, und das bloße Vergehen
verzeiht man sich, schon weil es so nahe lag. Daß es die Welt, daß es die
Wallenden in der Welt so gar ernst nehmen wollen, erweckt eine Art von
Staunen und das Gefühl, daß man hilflos einer zufällig stärkern Macht preis¬
gegeben sei. Das alles gilt in entsprechendem Maße auch für die Jugend.
Und da, wo beide zusammentreffen, jugendliche Unfertigkeit und Zugehörigkeit
zum Volke, kommt es denn auch zu den häßlichsten Erscheinungen trotziger
Selbstbehauptung und stumpf abgelehnter Verantwortung.

Wenn sich auch die Unfertigkeit der menschlichen Erkenntnis natürlich in
verschiedner Form fühlbar macht, so ist doch eine Hauptform die der mangelnden
Einheit, der unaufgehobnen Widersprüche, der zwiespältigen Natur. In der
That: so wie die meisten Schwierigkeiten des Lebens in der Aufgabe der Ver¬
mittlung von Gegenüberstehenden und Entgegengesetzten bestehen, so bleibt das
Unfertige meist ungelöstes Auseinanderstreben, unvermittelter Gegensatz. Die
Sittlichkeit des Volkes, wie die Sittlichkeit der Jugend kennzeichnet sich in
diesem Sinne. Eine der anmuteudsten Seiten der jugendlichen und der Volks¬
natur ist immer die Bereitschaft zum Mitleid, und dieses Gefühl schon im
zartesten Alter in den jungen Herzen großzuziehen ist mit Recht ein Anliegen
der ersten Erzieher. Aber neben den vollen Regungen des Mitleids — wie
oft zeigt sich auch auffallende, fast empörende Kaltherzigkeit gegenüber fremdem
Leid! Denn dieses Leid spricht nicht regelmäßig und sicher zu dem unfertigen,
unorganisirten Innern; es muß sich dazu besonders verstündlich machen oder
verständlich gemacht werden. Als schöne Tugend der einfachen Leute gilt uns


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[0466] Volk und Jugend das, was die gewohnten Maße überschreitet, aber das ist eben nur eine unreife Vorstufe, ist gewissermaßen nur ein kindisches Bedürfnis der Seele, die nach Jmponirendem dürstet und in sich noch nicht die harmonische Form gewonnen, nicht die Organe entwickelt hat, das Erhabne aufzufassen, das ja Harmonie im Gewaltigen ist. Für die Harmonie außerhalb unser selbst sind wir eben erst empfänglich, wenn wir gleichsam ein wohlgestimmtes Saitenspiel in unserm Innern tragen, das von draußen angeweht seine eignen Töne giebt. Aber nicht nur das Erhabne außer uns oder uns gegenüber bleibt un¬ verstanden oder ungewürdigt sich habe noch kaum jemand aus dem Volke den Sternenhimmel preisen hören), sondern auch das, was in uns seine Stätte finden, seine Macht ausüben soll. Nicht leicht wird die Majestät der Pflicht vollständig empfunden, obwohl ehrenfeste Gewöhnung oder Selbstaufopferung, ohne Klage, nichts weniger als ungewöhnlich sind und auch ihrerseits als eine Art von imponirender Pflichterfüllung wirken mögen. Und so ist auch das Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit und namentlich das Schuldgefühl selten in rechter Kraft anzutreffen; man fühlt die Versuchung noch als die starke Übermacht, die eigne Schwäche als ein zufälliges Schicksal, das Ver¬ brechen wird für den Thäter zum bloßen Unglück, und das bloße Vergehen verzeiht man sich, schon weil es so nahe lag. Daß es die Welt, daß es die Wallenden in der Welt so gar ernst nehmen wollen, erweckt eine Art von Staunen und das Gefühl, daß man hilflos einer zufällig stärkern Macht preis¬ gegeben sei. Das alles gilt in entsprechendem Maße auch für die Jugend. Und da, wo beide zusammentreffen, jugendliche Unfertigkeit und Zugehörigkeit zum Volke, kommt es denn auch zu den häßlichsten Erscheinungen trotziger Selbstbehauptung und stumpf abgelehnter Verantwortung. Wenn sich auch die Unfertigkeit der menschlichen Erkenntnis natürlich in verschiedner Form fühlbar macht, so ist doch eine Hauptform die der mangelnden Einheit, der unaufgehobnen Widersprüche, der zwiespältigen Natur. In der That: so wie die meisten Schwierigkeiten des Lebens in der Aufgabe der Ver¬ mittlung von Gegenüberstehenden und Entgegengesetzten bestehen, so bleibt das Unfertige meist ungelöstes Auseinanderstreben, unvermittelter Gegensatz. Die Sittlichkeit des Volkes, wie die Sittlichkeit der Jugend kennzeichnet sich in diesem Sinne. Eine der anmuteudsten Seiten der jugendlichen und der Volks¬ natur ist immer die Bereitschaft zum Mitleid, und dieses Gefühl schon im zartesten Alter in den jungen Herzen großzuziehen ist mit Recht ein Anliegen der ersten Erzieher. Aber neben den vollen Regungen des Mitleids — wie oft zeigt sich auch auffallende, fast empörende Kaltherzigkeit gegenüber fremdem Leid! Denn dieses Leid spricht nicht regelmäßig und sicher zu dem unfertigen, unorganisirten Innern; es muß sich dazu besonders verstündlich machen oder verständlich gemacht werden. Als schöne Tugend der einfachen Leute gilt uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/466>, abgerufen am 24.07.2024.