Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus unsrer Gstmark

für sein eignes Wohl und Wohlbefinden, und so mancher wirft die nationale
Würde weg um augenblicklichen Vorteils willen. Es ist, als ob den
Deutschen die werbende Kraft abhanden gekommen wäre, durch die sie im
Mittelalter weite Gebiete gewannen, als ob sie wirklich, wie Herr von Skarzynski
meint, im Osten keine Kulturmission zu erfüllen hatten und dem "slawischen
Drange nach Westen" erliegen müßten. Wer ihrem Treiben zusieht, der kann
es erklärlich finden, daß gute Patrioten an der deutschen Sache verzweifeln,
sie verloren geben und sich aus dem Kampfe zurückziehen wollen.

Bei zwei Gelegenheiten tritt die Charakterschwäche der Deutschen besonders
häufig hervor. Seit einem Vierteljahrhundert lernen die Polen in der Schule
Deutsch, viele sprechen es perfekt. Für niemand, für keinen Deutschen wäre
das Polnische hier nötig, wenn die Deutschen, die Kaufleute, Gutsbesitzer und
Handwerker, sämtlich darauf hielten, daß alle Polen, vor allem die von ihnen
abhängigen, mit ihnen deutsch redeten, sodaß auch in diesem Teile des deutschen
Reichs das Deutsche die vorherrschende Sprache wäre. Infolge der Nach¬
giebigkeit der Deutschen hat aber das Deutsche das ihm zukommende, durch
den deutschen Sprachunterricht sür ihn geebnete Terrain nicht nur nicht ge¬
wonnen, sondern Boden an das Polnische verloren; es ist, als ob die Deutschen
sich nicht als das herrschende, sondern als das geduldete Volk ansähen. Die
Laudräte brauchen des Polnischen mächtige Gehilfen, die Polizeibeamten werden
nach Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Polnisch lernen müssen, um
polnische Versammlungen überwachen und die polnischen Satzungen polnischer
Vereine und polnische Theaterstücke lesen und verstehen zu können, und zwar
überall im Reich, wo es Polen einfällt, Vereine zu gründen und Theater zu
spielen. Werden städtische Ämter ausgeschrieben, so wird die Kenntnis der
polnischen Sprache anch Wohl schon zur Bedingung gemacht. Die Wirtschafts¬
inspektoren und Vögte finden keine Stellen mehr, wenn sie nicht des Polnischen
mächtig sind; die Kaufleute und Handwerker haben, wie schon bemerkt, polnisches
Personal und lernen der polnischen Kundschaft zuliebe Polnisch. Es ist so
weit gekommen, daß der gut deutsche Verfasser der Broschüre "Polen und
Deutsche in der Provinz Posen" für die Polen zwar die Beseitigung alles
polnischen Unterrichts, für die deutsche Jugend aber Unterricht in der polnischen
Sprache fordert, damit sie wieder konkurrenzfähig werde. In den laufenden
preußischen Etat sind 3000 Mark eingesetzt worden, um Beamte des Polnischen
in Wort und Schrift mächtig zu machen; man wird die Summe bald verzehn¬
fachen müssen. Es bedürfte nur eines energischen Entschlusses der Deutsche",
die ja im Wirtschaftsleben die weit stärkere Position haben, und das Deutsche
hätte die Oberhand. So kommt man aber der polnischen Forderung, daß in
den "polnischen Provinzen" polnisch geredet werde, immer mehr entgegen.
Ist es denn auswärts, in Staßfurt, in Gelsenkirchen anders? In Bochum
fand unlängst ein Journalist aus Warschau zahlreiche Aufschriften an den


Aus unsrer Gstmark

für sein eignes Wohl und Wohlbefinden, und so mancher wirft die nationale
Würde weg um augenblicklichen Vorteils willen. Es ist, als ob den
Deutschen die werbende Kraft abhanden gekommen wäre, durch die sie im
Mittelalter weite Gebiete gewannen, als ob sie wirklich, wie Herr von Skarzynski
meint, im Osten keine Kulturmission zu erfüllen hatten und dem „slawischen
Drange nach Westen" erliegen müßten. Wer ihrem Treiben zusieht, der kann
es erklärlich finden, daß gute Patrioten an der deutschen Sache verzweifeln,
sie verloren geben und sich aus dem Kampfe zurückziehen wollen.

Bei zwei Gelegenheiten tritt die Charakterschwäche der Deutschen besonders
häufig hervor. Seit einem Vierteljahrhundert lernen die Polen in der Schule
Deutsch, viele sprechen es perfekt. Für niemand, für keinen Deutschen wäre
das Polnische hier nötig, wenn die Deutschen, die Kaufleute, Gutsbesitzer und
Handwerker, sämtlich darauf hielten, daß alle Polen, vor allem die von ihnen
abhängigen, mit ihnen deutsch redeten, sodaß auch in diesem Teile des deutschen
Reichs das Deutsche die vorherrschende Sprache wäre. Infolge der Nach¬
giebigkeit der Deutschen hat aber das Deutsche das ihm zukommende, durch
den deutschen Sprachunterricht sür ihn geebnete Terrain nicht nur nicht ge¬
wonnen, sondern Boden an das Polnische verloren; es ist, als ob die Deutschen
sich nicht als das herrschende, sondern als das geduldete Volk ansähen. Die
Laudräte brauchen des Polnischen mächtige Gehilfen, die Polizeibeamten werden
nach Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Polnisch lernen müssen, um
polnische Versammlungen überwachen und die polnischen Satzungen polnischer
Vereine und polnische Theaterstücke lesen und verstehen zu können, und zwar
überall im Reich, wo es Polen einfällt, Vereine zu gründen und Theater zu
spielen. Werden städtische Ämter ausgeschrieben, so wird die Kenntnis der
polnischen Sprache anch Wohl schon zur Bedingung gemacht. Die Wirtschafts¬
inspektoren und Vögte finden keine Stellen mehr, wenn sie nicht des Polnischen
mächtig sind; die Kaufleute und Handwerker haben, wie schon bemerkt, polnisches
Personal und lernen der polnischen Kundschaft zuliebe Polnisch. Es ist so
weit gekommen, daß der gut deutsche Verfasser der Broschüre „Polen und
Deutsche in der Provinz Posen" für die Polen zwar die Beseitigung alles
polnischen Unterrichts, für die deutsche Jugend aber Unterricht in der polnischen
Sprache fordert, damit sie wieder konkurrenzfähig werde. In den laufenden
preußischen Etat sind 3000 Mark eingesetzt worden, um Beamte des Polnischen
in Wort und Schrift mächtig zu machen; man wird die Summe bald verzehn¬
fachen müssen. Es bedürfte nur eines energischen Entschlusses der Deutsche»,
die ja im Wirtschaftsleben die weit stärkere Position haben, und das Deutsche
hätte die Oberhand. So kommt man aber der polnischen Forderung, daß in
den „polnischen Provinzen" polnisch geredet werde, immer mehr entgegen.
Ist es denn auswärts, in Staßfurt, in Gelsenkirchen anders? In Bochum
fand unlängst ein Journalist aus Warschau zahlreiche Aufschriften an den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226036"/>
            <fw type="header" place="top"> Aus unsrer Gstmark</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1116" prev="#ID_1115"> für sein eignes Wohl und Wohlbefinden, und so mancher wirft die nationale<lb/>
Würde weg um augenblicklichen Vorteils willen. Es ist, als ob den<lb/>
Deutschen die werbende Kraft abhanden gekommen wäre, durch die sie im<lb/>
Mittelalter weite Gebiete gewannen, als ob sie wirklich, wie Herr von Skarzynski<lb/>
meint, im Osten keine Kulturmission zu erfüllen hatten und dem &#x201E;slawischen<lb/>
Drange nach Westen" erliegen müßten. Wer ihrem Treiben zusieht, der kann<lb/>
es erklärlich finden, daß gute Patrioten an der deutschen Sache verzweifeln,<lb/>
sie verloren geben und sich aus dem Kampfe zurückziehen wollen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1117" next="#ID_1118"> Bei zwei Gelegenheiten tritt die Charakterschwäche der Deutschen besonders<lb/>
häufig hervor. Seit einem Vierteljahrhundert lernen die Polen in der Schule<lb/>
Deutsch, viele sprechen es perfekt. Für niemand, für keinen Deutschen wäre<lb/>
das Polnische hier nötig, wenn die Deutschen, die Kaufleute, Gutsbesitzer und<lb/>
Handwerker, sämtlich darauf hielten, daß alle Polen, vor allem die von ihnen<lb/>
abhängigen, mit ihnen deutsch redeten, sodaß auch in diesem Teile des deutschen<lb/>
Reichs das Deutsche die vorherrschende Sprache wäre. Infolge der Nach¬<lb/>
giebigkeit der Deutschen hat aber das Deutsche das ihm zukommende, durch<lb/>
den deutschen Sprachunterricht sür ihn geebnete Terrain nicht nur nicht ge¬<lb/>
wonnen, sondern Boden an das Polnische verloren; es ist, als ob die Deutschen<lb/>
sich nicht als das herrschende, sondern als das geduldete Volk ansähen. Die<lb/>
Laudräte brauchen des Polnischen mächtige Gehilfen, die Polizeibeamten werden<lb/>
nach Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Polnisch lernen müssen, um<lb/>
polnische Versammlungen überwachen und die polnischen Satzungen polnischer<lb/>
Vereine und polnische Theaterstücke lesen und verstehen zu können, und zwar<lb/>
überall im Reich, wo es Polen einfällt, Vereine zu gründen und Theater zu<lb/>
spielen. Werden städtische Ämter ausgeschrieben, so wird die Kenntnis der<lb/>
polnischen Sprache anch Wohl schon zur Bedingung gemacht. Die Wirtschafts¬<lb/>
inspektoren und Vögte finden keine Stellen mehr, wenn sie nicht des Polnischen<lb/>
mächtig sind; die Kaufleute und Handwerker haben, wie schon bemerkt, polnisches<lb/>
Personal und lernen der polnischen Kundschaft zuliebe Polnisch. Es ist so<lb/>
weit gekommen, daß der gut deutsche Verfasser der Broschüre &#x201E;Polen und<lb/>
Deutsche in der Provinz Posen" für die Polen zwar die Beseitigung alles<lb/>
polnischen Unterrichts, für die deutsche Jugend aber Unterricht in der polnischen<lb/>
Sprache fordert, damit sie wieder konkurrenzfähig werde. In den laufenden<lb/>
preußischen Etat sind 3000 Mark eingesetzt worden, um Beamte des Polnischen<lb/>
in Wort und Schrift mächtig zu machen; man wird die Summe bald verzehn¬<lb/>
fachen müssen. Es bedürfte nur eines energischen Entschlusses der Deutsche»,<lb/>
die ja im Wirtschaftsleben die weit stärkere Position haben, und das Deutsche<lb/>
hätte die Oberhand. So kommt man aber der polnischen Forderung, daß in<lb/>
den &#x201E;polnischen Provinzen" polnisch geredet werde, immer mehr entgegen.<lb/>
Ist es denn auswärts, in Staßfurt, in Gelsenkirchen anders? In Bochum<lb/>
fand unlängst ein Journalist aus Warschau zahlreiche Aufschriften an den</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] Aus unsrer Gstmark für sein eignes Wohl und Wohlbefinden, und so mancher wirft die nationale Würde weg um augenblicklichen Vorteils willen. Es ist, als ob den Deutschen die werbende Kraft abhanden gekommen wäre, durch die sie im Mittelalter weite Gebiete gewannen, als ob sie wirklich, wie Herr von Skarzynski meint, im Osten keine Kulturmission zu erfüllen hatten und dem „slawischen Drange nach Westen" erliegen müßten. Wer ihrem Treiben zusieht, der kann es erklärlich finden, daß gute Patrioten an der deutschen Sache verzweifeln, sie verloren geben und sich aus dem Kampfe zurückziehen wollen. Bei zwei Gelegenheiten tritt die Charakterschwäche der Deutschen besonders häufig hervor. Seit einem Vierteljahrhundert lernen die Polen in der Schule Deutsch, viele sprechen es perfekt. Für niemand, für keinen Deutschen wäre das Polnische hier nötig, wenn die Deutschen, die Kaufleute, Gutsbesitzer und Handwerker, sämtlich darauf hielten, daß alle Polen, vor allem die von ihnen abhängigen, mit ihnen deutsch redeten, sodaß auch in diesem Teile des deutschen Reichs das Deutsche die vorherrschende Sprache wäre. Infolge der Nach¬ giebigkeit der Deutschen hat aber das Deutsche das ihm zukommende, durch den deutschen Sprachunterricht sür ihn geebnete Terrain nicht nur nicht ge¬ wonnen, sondern Boden an das Polnische verloren; es ist, als ob die Deutschen sich nicht als das herrschende, sondern als das geduldete Volk ansähen. Die Laudräte brauchen des Polnischen mächtige Gehilfen, die Polizeibeamten werden nach Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Polnisch lernen müssen, um polnische Versammlungen überwachen und die polnischen Satzungen polnischer Vereine und polnische Theaterstücke lesen und verstehen zu können, und zwar überall im Reich, wo es Polen einfällt, Vereine zu gründen und Theater zu spielen. Werden städtische Ämter ausgeschrieben, so wird die Kenntnis der polnischen Sprache anch Wohl schon zur Bedingung gemacht. Die Wirtschafts¬ inspektoren und Vögte finden keine Stellen mehr, wenn sie nicht des Polnischen mächtig sind; die Kaufleute und Handwerker haben, wie schon bemerkt, polnisches Personal und lernen der polnischen Kundschaft zuliebe Polnisch. Es ist so weit gekommen, daß der gut deutsche Verfasser der Broschüre „Polen und Deutsche in der Provinz Posen" für die Polen zwar die Beseitigung alles polnischen Unterrichts, für die deutsche Jugend aber Unterricht in der polnischen Sprache fordert, damit sie wieder konkurrenzfähig werde. In den laufenden preußischen Etat sind 3000 Mark eingesetzt worden, um Beamte des Polnischen in Wort und Schrift mächtig zu machen; man wird die Summe bald verzehn¬ fachen müssen. Es bedürfte nur eines energischen Entschlusses der Deutsche», die ja im Wirtschaftsleben die weit stärkere Position haben, und das Deutsche hätte die Oberhand. So kommt man aber der polnischen Forderung, daß in den „polnischen Provinzen" polnisch geredet werde, immer mehr entgegen. Ist es denn auswärts, in Staßfurt, in Gelsenkirchen anders? In Bochum fand unlängst ein Journalist aus Warschau zahlreiche Aufschriften an den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/450>, abgerufen am 29.12.2024.