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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Jeremias Gotthelf

oberflächlich sein, ohne Verurteilung herauszufordern. So geht sie denn selbst
dem Tode, wenn er sich in jungen Jahren ankündigt, mit minderer Bitterkeit
entgegen als die Reifen, die von der Höhe des Lebens hinabstürzen sollen oder
von dem, was sie als Höhe des Lebens meinen ansehen zu dürfen; es sind
ja noch nicht so viele Fäden im Leben geknüpft, es ist noch kein so weit¬
geführtes Gespinst aufzulösen, die freundliche Gewohnheit des Daseins ist noch
nicht so alt, und den Kindern zumal ist der Tod nichts andres als ein neues
Wunder in der Reihe der Wunder, die das Leben Tag sür Tag vor ihnen
öffnete.

(Schluß folgt)




Jeremias Gotthelf
Adolf Bartels von3

voici ist richtig, daß seit der Mitte der vierziger Jahre in
Gotthelfs Schriften die Politik eine große Rolle zu spielen be¬
ginnt, man könnte sagen, eine unverhältnismäßig große, wenn
Gotthelf eben nur als Dichter zu betrachten wäre, was aber
nicht der Fall ist. Hätte der Dichter, der Künstler in ihm wirk¬
lich die erste Stelle behauptet, es wäre ihm ganz unmöglich gewesen, viele
seiner spätern Werke ohne jede ästhetische Rücksicht zu schreiben, die ästhetische
Richtung seiner Natur wäre immer mehr hervor- statt zurückgetreten, der
Künstler hätte sich immer reifer gezeigt. Daß das nicht der Fall war, erweist
augenscheinlich, daß meine Auffassung, wonach sein dichterisches Talent, so
mächtig es auch erscheint, doch erst an zweiter Stelle steht, richtig ist. Fast komisch
berührt es, wenn Keller, der eben der Dichter und Künstler war, der Bitzius
nicht war, seinem vermeintlichen Kollegen immer wieder die schönsten ästhetischen
Ratschläge erteilt und zuletzt die religiöse Weltanschauung des Dichters für
seine mangelnde ästhetische Ausbildung verantwortlich macht. "In jeder Er¬
zählung Gotthelfs liegt an Dichte und Innigkeit das Zeug zu einem "Hermann
und Dorothea," aber in keinem nimmt er nur den leisesten Anlauf, seinem
Gedichte die Schönheit und Vollendung zu verschaffen, welche der künstlerische,
gewissenhafte und ökonomische Goethe seinem einen, so zierlich und begrenzt
gebauten Epos zu geben wußte. Und hierin liegt die andre Seite seines


Grenzboten III 1897 52
Jeremias Gotthelf

oberflächlich sein, ohne Verurteilung herauszufordern. So geht sie denn selbst
dem Tode, wenn er sich in jungen Jahren ankündigt, mit minderer Bitterkeit
entgegen als die Reifen, die von der Höhe des Lebens hinabstürzen sollen oder
von dem, was sie als Höhe des Lebens meinen ansehen zu dürfen; es sind
ja noch nicht so viele Fäden im Leben geknüpft, es ist noch kein so weit¬
geführtes Gespinst aufzulösen, die freundliche Gewohnheit des Daseins ist noch
nicht so alt, und den Kindern zumal ist der Tod nichts andres als ein neues
Wunder in der Reihe der Wunder, die das Leben Tag sür Tag vor ihnen
öffnete.

(Schluß folgt)




Jeremias Gotthelf
Adolf Bartels von3

voici ist richtig, daß seit der Mitte der vierziger Jahre in
Gotthelfs Schriften die Politik eine große Rolle zu spielen be¬
ginnt, man könnte sagen, eine unverhältnismäßig große, wenn
Gotthelf eben nur als Dichter zu betrachten wäre, was aber
nicht der Fall ist. Hätte der Dichter, der Künstler in ihm wirk¬
lich die erste Stelle behauptet, es wäre ihm ganz unmöglich gewesen, viele
seiner spätern Werke ohne jede ästhetische Rücksicht zu schreiben, die ästhetische
Richtung seiner Natur wäre immer mehr hervor- statt zurückgetreten, der
Künstler hätte sich immer reifer gezeigt. Daß das nicht der Fall war, erweist
augenscheinlich, daß meine Auffassung, wonach sein dichterisches Talent, so
mächtig es auch erscheint, doch erst an zweiter Stelle steht, richtig ist. Fast komisch
berührt es, wenn Keller, der eben der Dichter und Künstler war, der Bitzius
nicht war, seinem vermeintlichen Kollegen immer wieder die schönsten ästhetischen
Ratschläge erteilt und zuletzt die religiöse Weltanschauung des Dichters für
seine mangelnde ästhetische Ausbildung verantwortlich macht. „In jeder Er¬
zählung Gotthelfs liegt an Dichte und Innigkeit das Zeug zu einem »Hermann
und Dorothea,« aber in keinem nimmt er nur den leisesten Anlauf, seinem
Gedichte die Schönheit und Vollendung zu verschaffen, welche der künstlerische,
gewissenhafte und ökonomische Goethe seinem einen, so zierlich und begrenzt
gebauten Epos zu geben wußte. Und hierin liegt die andre Seite seines


Grenzboten III 1897 52
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[0417] Jeremias Gotthelf oberflächlich sein, ohne Verurteilung herauszufordern. So geht sie denn selbst dem Tode, wenn er sich in jungen Jahren ankündigt, mit minderer Bitterkeit entgegen als die Reifen, die von der Höhe des Lebens hinabstürzen sollen oder von dem, was sie als Höhe des Lebens meinen ansehen zu dürfen; es sind ja noch nicht so viele Fäden im Leben geknüpft, es ist noch kein so weit¬ geführtes Gespinst aufzulösen, die freundliche Gewohnheit des Daseins ist noch nicht so alt, und den Kindern zumal ist der Tod nichts andres als ein neues Wunder in der Reihe der Wunder, die das Leben Tag sür Tag vor ihnen öffnete. (Schluß folgt) Jeremias Gotthelf Adolf Bartels von3 voici ist richtig, daß seit der Mitte der vierziger Jahre in Gotthelfs Schriften die Politik eine große Rolle zu spielen be¬ ginnt, man könnte sagen, eine unverhältnismäßig große, wenn Gotthelf eben nur als Dichter zu betrachten wäre, was aber nicht der Fall ist. Hätte der Dichter, der Künstler in ihm wirk¬ lich die erste Stelle behauptet, es wäre ihm ganz unmöglich gewesen, viele seiner spätern Werke ohne jede ästhetische Rücksicht zu schreiben, die ästhetische Richtung seiner Natur wäre immer mehr hervor- statt zurückgetreten, der Künstler hätte sich immer reifer gezeigt. Daß das nicht der Fall war, erweist augenscheinlich, daß meine Auffassung, wonach sein dichterisches Talent, so mächtig es auch erscheint, doch erst an zweiter Stelle steht, richtig ist. Fast komisch berührt es, wenn Keller, der eben der Dichter und Künstler war, der Bitzius nicht war, seinem vermeintlichen Kollegen immer wieder die schönsten ästhetischen Ratschläge erteilt und zuletzt die religiöse Weltanschauung des Dichters für seine mangelnde ästhetische Ausbildung verantwortlich macht. „In jeder Er¬ zählung Gotthelfs liegt an Dichte und Innigkeit das Zeug zu einem »Hermann und Dorothea,« aber in keinem nimmt er nur den leisesten Anlauf, seinem Gedichte die Schönheit und Vollendung zu verschaffen, welche der künstlerische, gewissenhafte und ökonomische Goethe seinem einen, so zierlich und begrenzt gebauten Epos zu geben wußte. Und hierin liegt die andre Seite seines Grenzboten III 1897 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/417>, abgerufen am 29.12.2024.