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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Karl Vtfried Müller

Sprache allein, sondern in allen seinen Lebensäußerungen wiederzufinden und
zu verstehen. Schon vor Antritt seiner Professur hatte er in Dresden Ge¬
legenheit, die antike Kunst zu studiren; und er that es mit dem Geist des
Altertumsforschers, also in dem Sinne, wie allein auch heutzutage die griechische
Kunstforschung Sinn und Wert hat. Das war damals freilich insofern leichter,
als die rein üsthetisirende Knnstbetrachtung noch nicht den Anspruch machte,
als die allein rechtmäßige Archäologie zu gelten.

Im Jahre 1819 begann Müller seine Thätigkeit in Göttingen. Im
folgenden Jahre erschien sein erstes größeres Werk: "Orchomenos und die
Minyer." Er wagte sich damit an eine der schwierigsten Aufgaben der ältesten
griechischen Geschichte. Gegen die Art, wie er sie zu lösen versuchte, läßt sich ja
manches einwenden, aber schon die Wahl des Gegenstandes ist bezeichnend und
war für damals eine That. Wie seine erste Abhandlung an Aigina anknüpfte,
sei" Göttinger Antrittsprogramm an Delphi, eine weitere Abhandlung an die
Heiligtümer auf der Burg von Athen, so führt uns dies Werk ins Boioter-
lcmd, nach Orchomenos am Kopaissee, wo der Volksstamm der Minyer wohnte,
und wo lange nach Müller die Forschung Neste uralter Kultur zu Tage ge¬
fördert hat. Das sind alles Stätten, an denen das Interesse des griechischen
Altertumsforschers besonders Anteil nehmen muß; aber diese Stätten einzeln
zu betrachten und in der Vereinzelung tiefer in ihre Geschichte einzudringen,
das war Müllers Ziel und Absicht. Er erkannte klar, daß die umfassende
griechische Geschichte, wie sie sich allmählich vor seinem Geiste aufbaute und
immer festere Gestalt annahm, von unten auf gezimmert werden müsse, und so
griff er als eifriger Zimmermann mit zu. Ihm war die griechische Geschichte
der ältesten Zeit eine Geschichte der griechischen Stämme, sowohl die äußere
Geschichte, wie die Religion, die Kunst und das übrige geistige Leben. Von
diesem fruchtbaren und gewiß richtigen Gesichtspunkt aus untersuchte er nun
zuerst den Stamm der Minder in seinen Wohnsitzen, seiner Ausbreitung und
feiner Geschichte. Daher führte denn dieses Buch auch den zweiten Titel:
"Geschichten hellenischer Stamme und Städte, erster Teil." Vier Jahre später
folgten zwei weitere Teile des Werkes mit dein gemeinsamen Titel: "Die
Dorier," die als Müllers Hauptwerk zu betrachten sind. Er hatte unter den
griechischen Stämmen den Volksstamm der Dorier ausgewählt, zunächst wohl
deshalb, weil er in der mannhaften Tüchtigkeit und ernsten Gemütsart dieses
Volksstammes sein eignes Ideal zu finden glaubte. Nicht umsonst ist er in
Göttingen von seinen Freunden scherzend "der Dorier" genannt worden; seine
Begeisterung für dorisches Wesen ging so weit, daß sie manchmal vielleicht
mehr in die dorische Volksseele hineinlegte, als sich mit den Thatsachen ver¬
einigen ließ. Die Schrift zeigt alle Vorzüge der selbstgewollten Beschränkung
auf ein mit eifrigster Geistesarbeit durchdachtes Einzelthema; freilich fehlen
auch die Mängel nicht, die sich bei einer solchen Beschränkung einstellen. Ohne


Karl Vtfried Müller

Sprache allein, sondern in allen seinen Lebensäußerungen wiederzufinden und
zu verstehen. Schon vor Antritt seiner Professur hatte er in Dresden Ge¬
legenheit, die antike Kunst zu studiren; und er that es mit dem Geist des
Altertumsforschers, also in dem Sinne, wie allein auch heutzutage die griechische
Kunstforschung Sinn und Wert hat. Das war damals freilich insofern leichter,
als die rein üsthetisirende Knnstbetrachtung noch nicht den Anspruch machte,
als die allein rechtmäßige Archäologie zu gelten.

Im Jahre 1819 begann Müller seine Thätigkeit in Göttingen. Im
folgenden Jahre erschien sein erstes größeres Werk: „Orchomenos und die
Minyer." Er wagte sich damit an eine der schwierigsten Aufgaben der ältesten
griechischen Geschichte. Gegen die Art, wie er sie zu lösen versuchte, läßt sich ja
manches einwenden, aber schon die Wahl des Gegenstandes ist bezeichnend und
war für damals eine That. Wie seine erste Abhandlung an Aigina anknüpfte,
sei» Göttinger Antrittsprogramm an Delphi, eine weitere Abhandlung an die
Heiligtümer auf der Burg von Athen, so führt uns dies Werk ins Boioter-
lcmd, nach Orchomenos am Kopaissee, wo der Volksstamm der Minyer wohnte,
und wo lange nach Müller die Forschung Neste uralter Kultur zu Tage ge¬
fördert hat. Das sind alles Stätten, an denen das Interesse des griechischen
Altertumsforschers besonders Anteil nehmen muß; aber diese Stätten einzeln
zu betrachten und in der Vereinzelung tiefer in ihre Geschichte einzudringen,
das war Müllers Ziel und Absicht. Er erkannte klar, daß die umfassende
griechische Geschichte, wie sie sich allmählich vor seinem Geiste aufbaute und
immer festere Gestalt annahm, von unten auf gezimmert werden müsse, und so
griff er als eifriger Zimmermann mit zu. Ihm war die griechische Geschichte
der ältesten Zeit eine Geschichte der griechischen Stämme, sowohl die äußere
Geschichte, wie die Religion, die Kunst und das übrige geistige Leben. Von
diesem fruchtbaren und gewiß richtigen Gesichtspunkt aus untersuchte er nun
zuerst den Stamm der Minder in seinen Wohnsitzen, seiner Ausbreitung und
feiner Geschichte. Daher führte denn dieses Buch auch den zweiten Titel:
„Geschichten hellenischer Stamme und Städte, erster Teil." Vier Jahre später
folgten zwei weitere Teile des Werkes mit dein gemeinsamen Titel: „Die
Dorier," die als Müllers Hauptwerk zu betrachten sind. Er hatte unter den
griechischen Stämmen den Volksstamm der Dorier ausgewählt, zunächst wohl
deshalb, weil er in der mannhaften Tüchtigkeit und ernsten Gemütsart dieses
Volksstammes sein eignes Ideal zu finden glaubte. Nicht umsonst ist er in
Göttingen von seinen Freunden scherzend „der Dorier" genannt worden; seine
Begeisterung für dorisches Wesen ging so weit, daß sie manchmal vielleicht
mehr in die dorische Volksseele hineinlegte, als sich mit den Thatsachen ver¬
einigen ließ. Die Schrift zeigt alle Vorzüge der selbstgewollten Beschränkung
auf ein mit eifrigster Geistesarbeit durchdachtes Einzelthema; freilich fehlen
auch die Mängel nicht, die sich bei einer solchen Beschränkung einstellen. Ohne


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[0380] Karl Vtfried Müller Sprache allein, sondern in allen seinen Lebensäußerungen wiederzufinden und zu verstehen. Schon vor Antritt seiner Professur hatte er in Dresden Ge¬ legenheit, die antike Kunst zu studiren; und er that es mit dem Geist des Altertumsforschers, also in dem Sinne, wie allein auch heutzutage die griechische Kunstforschung Sinn und Wert hat. Das war damals freilich insofern leichter, als die rein üsthetisirende Knnstbetrachtung noch nicht den Anspruch machte, als die allein rechtmäßige Archäologie zu gelten. Im Jahre 1819 begann Müller seine Thätigkeit in Göttingen. Im folgenden Jahre erschien sein erstes größeres Werk: „Orchomenos und die Minyer." Er wagte sich damit an eine der schwierigsten Aufgaben der ältesten griechischen Geschichte. Gegen die Art, wie er sie zu lösen versuchte, läßt sich ja manches einwenden, aber schon die Wahl des Gegenstandes ist bezeichnend und war für damals eine That. Wie seine erste Abhandlung an Aigina anknüpfte, sei» Göttinger Antrittsprogramm an Delphi, eine weitere Abhandlung an die Heiligtümer auf der Burg von Athen, so führt uns dies Werk ins Boioter- lcmd, nach Orchomenos am Kopaissee, wo der Volksstamm der Minyer wohnte, und wo lange nach Müller die Forschung Neste uralter Kultur zu Tage ge¬ fördert hat. Das sind alles Stätten, an denen das Interesse des griechischen Altertumsforschers besonders Anteil nehmen muß; aber diese Stätten einzeln zu betrachten und in der Vereinzelung tiefer in ihre Geschichte einzudringen, das war Müllers Ziel und Absicht. Er erkannte klar, daß die umfassende griechische Geschichte, wie sie sich allmählich vor seinem Geiste aufbaute und immer festere Gestalt annahm, von unten auf gezimmert werden müsse, und so griff er als eifriger Zimmermann mit zu. Ihm war die griechische Geschichte der ältesten Zeit eine Geschichte der griechischen Stämme, sowohl die äußere Geschichte, wie die Religion, die Kunst und das übrige geistige Leben. Von diesem fruchtbaren und gewiß richtigen Gesichtspunkt aus untersuchte er nun zuerst den Stamm der Minder in seinen Wohnsitzen, seiner Ausbreitung und feiner Geschichte. Daher führte denn dieses Buch auch den zweiten Titel: „Geschichten hellenischer Stamme und Städte, erster Teil." Vier Jahre später folgten zwei weitere Teile des Werkes mit dein gemeinsamen Titel: „Die Dorier," die als Müllers Hauptwerk zu betrachten sind. Er hatte unter den griechischen Stämmen den Volksstamm der Dorier ausgewählt, zunächst wohl deshalb, weil er in der mannhaften Tüchtigkeit und ernsten Gemütsart dieses Volksstammes sein eignes Ideal zu finden glaubte. Nicht umsonst ist er in Göttingen von seinen Freunden scherzend „der Dorier" genannt worden; seine Begeisterung für dorisches Wesen ging so weit, daß sie manchmal vielleicht mehr in die dorische Volksseele hineinlegte, als sich mit den Thatsachen ver¬ einigen ließ. Die Schrift zeigt alle Vorzüge der selbstgewollten Beschränkung auf ein mit eifrigster Geistesarbeit durchdachtes Einzelthema; freilich fehlen auch die Mängel nicht, die sich bei einer solchen Beschränkung einstellen. Ohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/380>, abgerufen am 29.12.2024.