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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

cihmungstrieb stehen zu bleiben, der ja der Kinderwelt und in andern Formen
auch der reifen Jugend noch sehr eigen ist. Er ist auch beim Volke auf seine
Art sehr lebendig. Erstens als der starke Trieb beim Einzelnen zur Un¬
gleichung an die Gesamtheit, der im wesentlichen unbewußt arbeitet, der es
bewirkt, daß Sitte, Brauch, Formen im Volke so fest sind, daß die Rede der
verschiednen so gleichartig klingt, die Mundart so bestimmt ausgeprägt ist,
nicht zu reden von den Volkstrachten, die ja in den meisten Gegenden zer¬
gangen sind oder zergehen. Dann aber waltet derselbe Trieb doch auch zu¬
gleich in andrer, in fast entgegengesetzter Richtung; denn das Volk bleibt nie
so sehr Volk, willig in seinen von den Schichten der Gebildeten sich scheidenden
Kreisen verharrend, daß es nicht in vielen seiner einzelnen Mitglieder über die
Grenze hinüberlugte und von den höher und freier stehenden immer etwas
und allmählich mehr und mehr entnähme und nachbildete. Darum vergehen
ja auch die Volkstrachten, darum durchsetzen sich die Mundarten mit Elementen
der höhern Sprache, darum sterben auch Bräuche ab, darum bleibt das Volk
-- denn so viel näher es der Natur steht, lebt es doch nicht ein entwicklungs¬
loses Leben der Naturvölker -- nicht sich selbst gleich. Man muß nicht
meinen, daß es nur der edle Trieb der Selbstvervollkommnung sei, der das
bewirke, obwohl sich ja immer wieder Sprößlinge des einfachen Volkes zu der
besten geistigen Arbeit drängen müssen und sollen, sehr zum Gedeihen dieser
Arbeit selbst; es ist nicht nur Nachahmungstrieb. Der Diener im vornehmen
Hause kopirt die Miene des Herrn, die Dienstmädchen noch viel leichter die
Erscheinungsform der Herrin, der Unteroffizier oder auch der etwas gewandte
Soldat folgt in einer gewissen Entfernung den Formen der Offiziere, der
Anstreicher ahmt den Künstler nach, der Lampenputzer den Schauspieler,
der Schreiber den Bürgermeister, der Maurerpolier den Architekten, der
Bauernsohn den jungen Gutsbesitzer, und von der gesamten weiblichen Welt
weiß immer ein großer Teil in raschen Übergängen in die Gewandung
und Haltung der Damen hineinzuschlüpfen. Nicht bloß die Kinder möchten
gern "schon groß" sein, die Jünglinge schon einen Bart haben, die Schul-
müdchen schon auf den Ball gehen oder schon angebetet werden, auch die
Leute aus dem Volke denken sichs drüben so viel schöner und glauben ein
erhöhtes Leben zu finden, wenn sie erst in die fremde Region gedrungen
sein werden.

In die fremde Region; denn in der That ist das eigentliche innere Leben
der Gebildeten dem Volke unbekannt und unverständlich, fast ebenso wie den
Kindern das innere Leben der Erwachsenen. Die Kinder halten die Erwachsenen
zunächst für viel mächtiger, dann sür viel wissender und endlich für viel
fertiger, sicherer -- oder auch eingetrockneter --, als sie wirklich sind. Und
das Volk hält die Höherstehenden zwar auch für sicherer und wissender, aber
vor allem für viel glücklicher, als es selbst ist, und wenn es auch dort einmal


Volk und Jugend

cihmungstrieb stehen zu bleiben, der ja der Kinderwelt und in andern Formen
auch der reifen Jugend noch sehr eigen ist. Er ist auch beim Volke auf seine
Art sehr lebendig. Erstens als der starke Trieb beim Einzelnen zur Un¬
gleichung an die Gesamtheit, der im wesentlichen unbewußt arbeitet, der es
bewirkt, daß Sitte, Brauch, Formen im Volke so fest sind, daß die Rede der
verschiednen so gleichartig klingt, die Mundart so bestimmt ausgeprägt ist,
nicht zu reden von den Volkstrachten, die ja in den meisten Gegenden zer¬
gangen sind oder zergehen. Dann aber waltet derselbe Trieb doch auch zu¬
gleich in andrer, in fast entgegengesetzter Richtung; denn das Volk bleibt nie
so sehr Volk, willig in seinen von den Schichten der Gebildeten sich scheidenden
Kreisen verharrend, daß es nicht in vielen seiner einzelnen Mitglieder über die
Grenze hinüberlugte und von den höher und freier stehenden immer etwas
und allmählich mehr und mehr entnähme und nachbildete. Darum vergehen
ja auch die Volkstrachten, darum durchsetzen sich die Mundarten mit Elementen
der höhern Sprache, darum sterben auch Bräuche ab, darum bleibt das Volk
— denn so viel näher es der Natur steht, lebt es doch nicht ein entwicklungs¬
loses Leben der Naturvölker — nicht sich selbst gleich. Man muß nicht
meinen, daß es nur der edle Trieb der Selbstvervollkommnung sei, der das
bewirke, obwohl sich ja immer wieder Sprößlinge des einfachen Volkes zu der
besten geistigen Arbeit drängen müssen und sollen, sehr zum Gedeihen dieser
Arbeit selbst; es ist nicht nur Nachahmungstrieb. Der Diener im vornehmen
Hause kopirt die Miene des Herrn, die Dienstmädchen noch viel leichter die
Erscheinungsform der Herrin, der Unteroffizier oder auch der etwas gewandte
Soldat folgt in einer gewissen Entfernung den Formen der Offiziere, der
Anstreicher ahmt den Künstler nach, der Lampenputzer den Schauspieler,
der Schreiber den Bürgermeister, der Maurerpolier den Architekten, der
Bauernsohn den jungen Gutsbesitzer, und von der gesamten weiblichen Welt
weiß immer ein großer Teil in raschen Übergängen in die Gewandung
und Haltung der Damen hineinzuschlüpfen. Nicht bloß die Kinder möchten
gern „schon groß" sein, die Jünglinge schon einen Bart haben, die Schul-
müdchen schon auf den Ball gehen oder schon angebetet werden, auch die
Leute aus dem Volke denken sichs drüben so viel schöner und glauben ein
erhöhtes Leben zu finden, wenn sie erst in die fremde Region gedrungen
sein werden.

In die fremde Region; denn in der That ist das eigentliche innere Leben
der Gebildeten dem Volke unbekannt und unverständlich, fast ebenso wie den
Kindern das innere Leben der Erwachsenen. Die Kinder halten die Erwachsenen
zunächst für viel mächtiger, dann sür viel wissender und endlich für viel
fertiger, sicherer — oder auch eingetrockneter —, als sie wirklich sind. Und
das Volk hält die Höherstehenden zwar auch für sicherer und wissender, aber
vor allem für viel glücklicher, als es selbst ist, und wenn es auch dort einmal


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[0372] Volk und Jugend cihmungstrieb stehen zu bleiben, der ja der Kinderwelt und in andern Formen auch der reifen Jugend noch sehr eigen ist. Er ist auch beim Volke auf seine Art sehr lebendig. Erstens als der starke Trieb beim Einzelnen zur Un¬ gleichung an die Gesamtheit, der im wesentlichen unbewußt arbeitet, der es bewirkt, daß Sitte, Brauch, Formen im Volke so fest sind, daß die Rede der verschiednen so gleichartig klingt, die Mundart so bestimmt ausgeprägt ist, nicht zu reden von den Volkstrachten, die ja in den meisten Gegenden zer¬ gangen sind oder zergehen. Dann aber waltet derselbe Trieb doch auch zu¬ gleich in andrer, in fast entgegengesetzter Richtung; denn das Volk bleibt nie so sehr Volk, willig in seinen von den Schichten der Gebildeten sich scheidenden Kreisen verharrend, daß es nicht in vielen seiner einzelnen Mitglieder über die Grenze hinüberlugte und von den höher und freier stehenden immer etwas und allmählich mehr und mehr entnähme und nachbildete. Darum vergehen ja auch die Volkstrachten, darum durchsetzen sich die Mundarten mit Elementen der höhern Sprache, darum sterben auch Bräuche ab, darum bleibt das Volk — denn so viel näher es der Natur steht, lebt es doch nicht ein entwicklungs¬ loses Leben der Naturvölker — nicht sich selbst gleich. Man muß nicht meinen, daß es nur der edle Trieb der Selbstvervollkommnung sei, der das bewirke, obwohl sich ja immer wieder Sprößlinge des einfachen Volkes zu der besten geistigen Arbeit drängen müssen und sollen, sehr zum Gedeihen dieser Arbeit selbst; es ist nicht nur Nachahmungstrieb. Der Diener im vornehmen Hause kopirt die Miene des Herrn, die Dienstmädchen noch viel leichter die Erscheinungsform der Herrin, der Unteroffizier oder auch der etwas gewandte Soldat folgt in einer gewissen Entfernung den Formen der Offiziere, der Anstreicher ahmt den Künstler nach, der Lampenputzer den Schauspieler, der Schreiber den Bürgermeister, der Maurerpolier den Architekten, der Bauernsohn den jungen Gutsbesitzer, und von der gesamten weiblichen Welt weiß immer ein großer Teil in raschen Übergängen in die Gewandung und Haltung der Damen hineinzuschlüpfen. Nicht bloß die Kinder möchten gern „schon groß" sein, die Jünglinge schon einen Bart haben, die Schul- müdchen schon auf den Ball gehen oder schon angebetet werden, auch die Leute aus dem Volke denken sichs drüben so viel schöner und glauben ein erhöhtes Leben zu finden, wenn sie erst in die fremde Region gedrungen sein werden. In die fremde Region; denn in der That ist das eigentliche innere Leben der Gebildeten dem Volke unbekannt und unverständlich, fast ebenso wie den Kindern das innere Leben der Erwachsenen. Die Kinder halten die Erwachsenen zunächst für viel mächtiger, dann sür viel wissender und endlich für viel fertiger, sicherer — oder auch eingetrockneter —, als sie wirklich sind. Und das Volk hält die Höherstehenden zwar auch für sicherer und wissender, aber vor allem für viel glücklicher, als es selbst ist, und wenn es auch dort einmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/372>, abgerufen am 24.07.2024.