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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Volk und Jugend

ehedem geachtet: die Jugend zu kleiden, wie es ihr behagen muß und ansteht,
darauf ist man mehr und mehr bedacht; sie sich tummeln zu lassen, wie es sie
gelüstet, ist man grundsätzlich allerwärts bereit; man hilft ihr freigebig zu
Spielplätzen, wenn sie deren bedarf; man fühlt mit ihr in ihren Freuden und
Nöten, schafft ihr Feste im Freien und nimmt sich eifrig ihrer an gegen die
Qualen und Lasten, die die strenge Schule ihr aufzubürden nicht lassen kann.
Ich glaube fast, man liebt die Jugend umso mehr, je innerlich älter mau sich
als Erwachsener fühlt, je weiter entfernt von der Frische und Stärke der Em¬
pfindung, der unbefangnen Hingebung, dem lebendigen Glück, das man bei ihr
kennt und wahrnimmt, oder wenigstens je mehr man sich selbst zu verjüngen
das Bedürfnis fühlt.

Im Grunde geht nun auch dieser Glaube an die Jugend und das
Interesse für ihre Rechte zurück auf Anregungen des vorigen Jahrhunderts.
Seit Rousseaus Auftreten ist dieses Interesse -- wie mancherlei Wendung es
auch durchgemacht hat und wie viel Läuterung oder Korrektur ihm auch nötig
gewesen ist -- doch nicht wieder verschwunden. Derselbe Rousseau aber hat
ja auch die stolze Kultur anzuzweifeln oder zu verdammen gewagt, er hat mit
dem Sinn für die schöne und erhabne Natur auch deu Wert der kulturlosen
Menschen emporgehoben. Und Pestalozzi, der sein tiefes und warmes Herz
und Leben der Jugend weihte, ward von dem Gefühl für das Volk und des
elenden Volkes Bedürfnisse eigentlich in jene Bahn hineingeführt. Sie liegen
sicherlich nicht fern von einander, das Interesse für jene und für dieses, das
Verständnis für die eine und das andre.

Stehen doch beide gegenüber der Welt der reifen Gebildeten, an deren
charakteristischen Errungenschaften sie eben nicht Anteil haben, von deren Leben
ihr Leben sich unterscheidet, deren Organisation sie nicht erreicht haben. Und
von hier, von dem typischen Bilde des wirklich Gebildeten aus müßten sich
denn auch die gemeinsam kennzeichnenden Züge für das Wesen des Volkes wie
der Jugend leicht finden lassen. Wir wollen nicht gleich versuchen, jenes Bild
hier im Zusammenhang und in einer Art von Vollständigkeit zu zeichnen,
Zumal da ja auf die einzelnen Seiten später die Rede kommen muß. Nur
kurz einiges Allgemeinste. Von Organisation war eben die Rede: damit ist
ja hingedeutet auf Zusammenhang, auf innere Einheit, auf zentrale Regelung
des Lebens, ans sichere innere Verbindung und Beziehung, auf festere und
reichere Ausgestaltung. Das Leben der naiven, um diesen zusammenfassenden
Ausdruck zu gebrauchen, ist ein mehr peripherisches. die Eindrücke gehen im
allgemeinen nicht in die Tiefe; das heißt, sie überwältigen die Person wohl
im Augenblick leichter und voller als bei deu Gebildeten, aber sie werden auch
leichter wieder weggeschwemmt, und sie sammeln sich nicht zu einem festen,
zusammenhängenden Bilde im Innern. Die Reaktion gegen die Eindrücke von
außen ist wohl augenblicklich heftig, aber die Person gewinnt und wahrt ihnen


Volk und Jugend

ehedem geachtet: die Jugend zu kleiden, wie es ihr behagen muß und ansteht,
darauf ist man mehr und mehr bedacht; sie sich tummeln zu lassen, wie es sie
gelüstet, ist man grundsätzlich allerwärts bereit; man hilft ihr freigebig zu
Spielplätzen, wenn sie deren bedarf; man fühlt mit ihr in ihren Freuden und
Nöten, schafft ihr Feste im Freien und nimmt sich eifrig ihrer an gegen die
Qualen und Lasten, die die strenge Schule ihr aufzubürden nicht lassen kann.
Ich glaube fast, man liebt die Jugend umso mehr, je innerlich älter mau sich
als Erwachsener fühlt, je weiter entfernt von der Frische und Stärke der Em¬
pfindung, der unbefangnen Hingebung, dem lebendigen Glück, das man bei ihr
kennt und wahrnimmt, oder wenigstens je mehr man sich selbst zu verjüngen
das Bedürfnis fühlt.

Im Grunde geht nun auch dieser Glaube an die Jugend und das
Interesse für ihre Rechte zurück auf Anregungen des vorigen Jahrhunderts.
Seit Rousseaus Auftreten ist dieses Interesse — wie mancherlei Wendung es
auch durchgemacht hat und wie viel Läuterung oder Korrektur ihm auch nötig
gewesen ist — doch nicht wieder verschwunden. Derselbe Rousseau aber hat
ja auch die stolze Kultur anzuzweifeln oder zu verdammen gewagt, er hat mit
dem Sinn für die schöne und erhabne Natur auch deu Wert der kulturlosen
Menschen emporgehoben. Und Pestalozzi, der sein tiefes und warmes Herz
und Leben der Jugend weihte, ward von dem Gefühl für das Volk und des
elenden Volkes Bedürfnisse eigentlich in jene Bahn hineingeführt. Sie liegen
sicherlich nicht fern von einander, das Interesse für jene und für dieses, das
Verständnis für die eine und das andre.

Stehen doch beide gegenüber der Welt der reifen Gebildeten, an deren
charakteristischen Errungenschaften sie eben nicht Anteil haben, von deren Leben
ihr Leben sich unterscheidet, deren Organisation sie nicht erreicht haben. Und
von hier, von dem typischen Bilde des wirklich Gebildeten aus müßten sich
denn auch die gemeinsam kennzeichnenden Züge für das Wesen des Volkes wie
der Jugend leicht finden lassen. Wir wollen nicht gleich versuchen, jenes Bild
hier im Zusammenhang und in einer Art von Vollständigkeit zu zeichnen,
Zumal da ja auf die einzelnen Seiten später die Rede kommen muß. Nur
kurz einiges Allgemeinste. Von Organisation war eben die Rede: damit ist
ja hingedeutet auf Zusammenhang, auf innere Einheit, auf zentrale Regelung
des Lebens, ans sichere innere Verbindung und Beziehung, auf festere und
reichere Ausgestaltung. Das Leben der naiven, um diesen zusammenfassenden
Ausdruck zu gebrauchen, ist ein mehr peripherisches. die Eindrücke gehen im
allgemeinen nicht in die Tiefe; das heißt, sie überwältigen die Person wohl
im Augenblick leichter und voller als bei deu Gebildeten, aber sie werden auch
leichter wieder weggeschwemmt, und sie sammeln sich nicht zu einem festen,
zusammenhängenden Bilde im Innern. Die Reaktion gegen die Eindrücke von
außen ist wohl augenblicklich heftig, aber die Person gewinnt und wahrt ihnen


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[0319] Volk und Jugend ehedem geachtet: die Jugend zu kleiden, wie es ihr behagen muß und ansteht, darauf ist man mehr und mehr bedacht; sie sich tummeln zu lassen, wie es sie gelüstet, ist man grundsätzlich allerwärts bereit; man hilft ihr freigebig zu Spielplätzen, wenn sie deren bedarf; man fühlt mit ihr in ihren Freuden und Nöten, schafft ihr Feste im Freien und nimmt sich eifrig ihrer an gegen die Qualen und Lasten, die die strenge Schule ihr aufzubürden nicht lassen kann. Ich glaube fast, man liebt die Jugend umso mehr, je innerlich älter mau sich als Erwachsener fühlt, je weiter entfernt von der Frische und Stärke der Em¬ pfindung, der unbefangnen Hingebung, dem lebendigen Glück, das man bei ihr kennt und wahrnimmt, oder wenigstens je mehr man sich selbst zu verjüngen das Bedürfnis fühlt. Im Grunde geht nun auch dieser Glaube an die Jugend und das Interesse für ihre Rechte zurück auf Anregungen des vorigen Jahrhunderts. Seit Rousseaus Auftreten ist dieses Interesse — wie mancherlei Wendung es auch durchgemacht hat und wie viel Läuterung oder Korrektur ihm auch nötig gewesen ist — doch nicht wieder verschwunden. Derselbe Rousseau aber hat ja auch die stolze Kultur anzuzweifeln oder zu verdammen gewagt, er hat mit dem Sinn für die schöne und erhabne Natur auch deu Wert der kulturlosen Menschen emporgehoben. Und Pestalozzi, der sein tiefes und warmes Herz und Leben der Jugend weihte, ward von dem Gefühl für das Volk und des elenden Volkes Bedürfnisse eigentlich in jene Bahn hineingeführt. Sie liegen sicherlich nicht fern von einander, das Interesse für jene und für dieses, das Verständnis für die eine und das andre. Stehen doch beide gegenüber der Welt der reifen Gebildeten, an deren charakteristischen Errungenschaften sie eben nicht Anteil haben, von deren Leben ihr Leben sich unterscheidet, deren Organisation sie nicht erreicht haben. Und von hier, von dem typischen Bilde des wirklich Gebildeten aus müßten sich denn auch die gemeinsam kennzeichnenden Züge für das Wesen des Volkes wie der Jugend leicht finden lassen. Wir wollen nicht gleich versuchen, jenes Bild hier im Zusammenhang und in einer Art von Vollständigkeit zu zeichnen, Zumal da ja auf die einzelnen Seiten später die Rede kommen muß. Nur kurz einiges Allgemeinste. Von Organisation war eben die Rede: damit ist ja hingedeutet auf Zusammenhang, auf innere Einheit, auf zentrale Regelung des Lebens, ans sichere innere Verbindung und Beziehung, auf festere und reichere Ausgestaltung. Das Leben der naiven, um diesen zusammenfassenden Ausdruck zu gebrauchen, ist ein mehr peripherisches. die Eindrücke gehen im allgemeinen nicht in die Tiefe; das heißt, sie überwältigen die Person wohl im Augenblick leichter und voller als bei deu Gebildeten, aber sie werden auch leichter wieder weggeschwemmt, und sie sammeln sich nicht zu einem festen, zusammenhängenden Bilde im Innern. Die Reaktion gegen die Eindrücke von außen ist wohl augenblicklich heftig, aber die Person gewinnt und wahrt ihnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/319>, abgerufen am 04.07.2024.