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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

seit 1879 schutzzöllnerisch, Künstlerisch und agrarisch, und soweit sich die Gesetzgebung
in den letzten fünfzehn Jahren mit dem Kaufmann beschäftigt hat, ist sie gegen
ihn gerichtet gewesen; denn der Krämer, den die Zünftler und die Agrarier, als
"ein wichtiges Glied des Mittelstandes," unter ihre Fittiche genommen haben, spielt
doch im Welthandel, von dem hier allein die Rede ist, keine Rolle. Wäre es also
auf diese Reaktion abgesehen, so wurde die Negierung damit nur den Wünschen
der Neichstagsmehrheit entsprechen. Was aber die alten Parteien anlangt, so ist
die frcihändlerische Fortschrittspartei zu einem ohnmächtigen Häuflein zusammen¬
geschmolzen; die großen Parteien sind allesamt schutzzöllnerisch, und den Sozial¬
demokratin ist die Frage: Schutzzoll oder Freihandel gleichgiltig, soweit dabei nicht
eine Verteuerung notwendiger Lebensbedürfnisse ins Spiel kommt. Die Triumphe,
die Engen Richter in der letzten Zeit gefeiert hat, verdankt er nicht seinem
Manchestertum. Was aber die Auffassung des Grenzboteufreundes vollends aä
AbsurÄum führt, das ist der Umstand, daß Freund und Feind vermuten, das Be¬
streben der Regierung sei hauptsächlich darauf gerichtet, eine ihren Flottenpläneu
günstige Neichstagsmehrheit zu stände zu bringen, und die Flottenfordernngen werden
ja gerade auch mit der Notwendigkeit, unsern Export auszudehnen, begründet, d. h.
also, die "Reaktion" stellt den Handel") aufs neue in den Mittelpunkt des Staats¬
interesses, und zwar mit einer Entschiedenheit, wie kaum je in der Zeit von 1840
bis 1379.

Wer wollte aber dem Grenzbotenfreunde diese kleine Konfusion übel nehmen
in einer Zeit, wo die gescheitesten Leute Mühe haben, ihr rechtes Bein vom linken
zu unterscheide", und sich ab und zu an die Nase fassen müssen, um das Bewußt¬
sein ihrer Identität nicht zu verlieren. Der seit hundert Jahren in stetig be¬
schleunigtem Tempo daherrasende Fortschritt der Technik ist es, der Stände, Par¬
teien, Gewerbe, Gemeinden, Völker, Staaten, Begriffe zerreißt und durcheinander
quirlt; und es ist klar, diese Riesenmncht, der der Mensch so wenig Widerstand
zu leisten vermag wie einem Orkan, einem Gießbach oder einer Schlammlawine,
wird uns auf Wegen, die wir nicht selbst wählen, zu Zielen führen, von denen
wir keine Ahnung haben. Ob in diesem Wirbelsturm eine feste und klare Politik,
ob auch nur eine ganz zuverlässige Orientirung möglich sei, das mag billig be¬
zweifelt werden. Nicht im geringsten zweifelhaft aber ist es, daß, soweit noch von
einer zielbewußter Politik die Rede sein kauu, unumwuudue und offne Anerkennung
der thatsächlichen Verhältnisse die Grundlage bilden muß. Und daran gerade fehlt
es, wie wir nicht müde werden, von Zeit zu Zeit zu wiederholen. Um nur an
zwei von diesen oft beschriebnen thatsächliche" Verhältnisse" zu erinnern: wie kläglich
nimmt sich doch die Sisyphusarbeit aus, die wir als die Politik gegen das Ein¬
maleins zu charakterisiren pflegen! Die Herren wollen eine Kartellmehrheit im
Reichstage, ohne das Reichstagswahlrecht zu ändern, und das ist eben ein uner-
füllbarer Wunsch, wie jeder weiß, der das Einmaleins kennt. Alle Versuche, das
Unmögliche dadurch möglich zu machen, daß man zwar das Wahlrecht bestehen
^ße, seine Ausübung aber den untern Klassen und den mißliebigen Parteien durch
neue Polizeigesetze uach Möglichkeit erschwert, werden in Zukunft keine andre
Wirkung erzielen, als sie bisher erzielt haben, nämlich die Opposition verstärken.



^) Freilich nicht eigentlich den Handel, sondern die Exportindustrie, aber diese ist doch
ben ohne Handel nicht denkbar,- ob der Fabrikant selbst den Exporteur spielen oder sich eines
^crimttlers bedienen will -- den Reeber wenigstens wird er kaum entbehren können --, das
>t seine Sache und geht andre Leute, auch die Gesetzgeber, nichts an.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

seit 1879 schutzzöllnerisch, Künstlerisch und agrarisch, und soweit sich die Gesetzgebung
in den letzten fünfzehn Jahren mit dem Kaufmann beschäftigt hat, ist sie gegen
ihn gerichtet gewesen; denn der Krämer, den die Zünftler und die Agrarier, als
„ein wichtiges Glied des Mittelstandes," unter ihre Fittiche genommen haben, spielt
doch im Welthandel, von dem hier allein die Rede ist, keine Rolle. Wäre es also
auf diese Reaktion abgesehen, so wurde die Negierung damit nur den Wünschen
der Neichstagsmehrheit entsprechen. Was aber die alten Parteien anlangt, so ist
die frcihändlerische Fortschrittspartei zu einem ohnmächtigen Häuflein zusammen¬
geschmolzen; die großen Parteien sind allesamt schutzzöllnerisch, und den Sozial¬
demokratin ist die Frage: Schutzzoll oder Freihandel gleichgiltig, soweit dabei nicht
eine Verteuerung notwendiger Lebensbedürfnisse ins Spiel kommt. Die Triumphe,
die Engen Richter in der letzten Zeit gefeiert hat, verdankt er nicht seinem
Manchestertum. Was aber die Auffassung des Grenzboteufreundes vollends aä
AbsurÄum führt, das ist der Umstand, daß Freund und Feind vermuten, das Be¬
streben der Regierung sei hauptsächlich darauf gerichtet, eine ihren Flottenpläneu
günstige Neichstagsmehrheit zu stände zu bringen, und die Flottenfordernngen werden
ja gerade auch mit der Notwendigkeit, unsern Export auszudehnen, begründet, d. h.
also, die „Reaktion" stellt den Handel") aufs neue in den Mittelpunkt des Staats¬
interesses, und zwar mit einer Entschiedenheit, wie kaum je in der Zeit von 1840
bis 1379.

Wer wollte aber dem Grenzbotenfreunde diese kleine Konfusion übel nehmen
in einer Zeit, wo die gescheitesten Leute Mühe haben, ihr rechtes Bein vom linken
zu unterscheide», und sich ab und zu an die Nase fassen müssen, um das Bewußt¬
sein ihrer Identität nicht zu verlieren. Der seit hundert Jahren in stetig be¬
schleunigtem Tempo daherrasende Fortschritt der Technik ist es, der Stände, Par¬
teien, Gewerbe, Gemeinden, Völker, Staaten, Begriffe zerreißt und durcheinander
quirlt; und es ist klar, diese Riesenmncht, der der Mensch so wenig Widerstand
zu leisten vermag wie einem Orkan, einem Gießbach oder einer Schlammlawine,
wird uns auf Wegen, die wir nicht selbst wählen, zu Zielen führen, von denen
wir keine Ahnung haben. Ob in diesem Wirbelsturm eine feste und klare Politik,
ob auch nur eine ganz zuverlässige Orientirung möglich sei, das mag billig be¬
zweifelt werden. Nicht im geringsten zweifelhaft aber ist es, daß, soweit noch von
einer zielbewußter Politik die Rede sein kauu, unumwuudue und offne Anerkennung
der thatsächlichen Verhältnisse die Grundlage bilden muß. Und daran gerade fehlt
es, wie wir nicht müde werden, von Zeit zu Zeit zu wiederholen. Um nur an
zwei von diesen oft beschriebnen thatsächliche» Verhältnisse» zu erinnern: wie kläglich
nimmt sich doch die Sisyphusarbeit aus, die wir als die Politik gegen das Ein¬
maleins zu charakterisiren pflegen! Die Herren wollen eine Kartellmehrheit im
Reichstage, ohne das Reichstagswahlrecht zu ändern, und das ist eben ein uner-
füllbarer Wunsch, wie jeder weiß, der das Einmaleins kennt. Alle Versuche, das
Unmögliche dadurch möglich zu machen, daß man zwar das Wahlrecht bestehen
^ße, seine Ausübung aber den untern Klassen und den mißliebigen Parteien durch
neue Polizeigesetze uach Möglichkeit erschwert, werden in Zukunft keine andre
Wirkung erzielen, als sie bisher erzielt haben, nämlich die Opposition verstärken.



^) Freilich nicht eigentlich den Handel, sondern die Exportindustrie, aber diese ist doch
ben ohne Handel nicht denkbar,- ob der Fabrikant selbst den Exporteur spielen oder sich eines
^crimttlers bedienen will — den Reeber wenigstens wird er kaum entbehren können —, das
>t seine Sache und geht andre Leute, auch die Gesetzgeber, nichts an.
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[0287] Maßgebliches und Unmaßgebliches seit 1879 schutzzöllnerisch, Künstlerisch und agrarisch, und soweit sich die Gesetzgebung in den letzten fünfzehn Jahren mit dem Kaufmann beschäftigt hat, ist sie gegen ihn gerichtet gewesen; denn der Krämer, den die Zünftler und die Agrarier, als „ein wichtiges Glied des Mittelstandes," unter ihre Fittiche genommen haben, spielt doch im Welthandel, von dem hier allein die Rede ist, keine Rolle. Wäre es also auf diese Reaktion abgesehen, so wurde die Negierung damit nur den Wünschen der Neichstagsmehrheit entsprechen. Was aber die alten Parteien anlangt, so ist die frcihändlerische Fortschrittspartei zu einem ohnmächtigen Häuflein zusammen¬ geschmolzen; die großen Parteien sind allesamt schutzzöllnerisch, und den Sozial¬ demokratin ist die Frage: Schutzzoll oder Freihandel gleichgiltig, soweit dabei nicht eine Verteuerung notwendiger Lebensbedürfnisse ins Spiel kommt. Die Triumphe, die Engen Richter in der letzten Zeit gefeiert hat, verdankt er nicht seinem Manchestertum. Was aber die Auffassung des Grenzboteufreundes vollends aä AbsurÄum führt, das ist der Umstand, daß Freund und Feind vermuten, das Be¬ streben der Regierung sei hauptsächlich darauf gerichtet, eine ihren Flottenpläneu günstige Neichstagsmehrheit zu stände zu bringen, und die Flottenfordernngen werden ja gerade auch mit der Notwendigkeit, unsern Export auszudehnen, begründet, d. h. also, die „Reaktion" stellt den Handel") aufs neue in den Mittelpunkt des Staats¬ interesses, und zwar mit einer Entschiedenheit, wie kaum je in der Zeit von 1840 bis 1379. Wer wollte aber dem Grenzbotenfreunde diese kleine Konfusion übel nehmen in einer Zeit, wo die gescheitesten Leute Mühe haben, ihr rechtes Bein vom linken zu unterscheide», und sich ab und zu an die Nase fassen müssen, um das Bewußt¬ sein ihrer Identität nicht zu verlieren. Der seit hundert Jahren in stetig be¬ schleunigtem Tempo daherrasende Fortschritt der Technik ist es, der Stände, Par¬ teien, Gewerbe, Gemeinden, Völker, Staaten, Begriffe zerreißt und durcheinander quirlt; und es ist klar, diese Riesenmncht, der der Mensch so wenig Widerstand zu leisten vermag wie einem Orkan, einem Gießbach oder einer Schlammlawine, wird uns auf Wegen, die wir nicht selbst wählen, zu Zielen führen, von denen wir keine Ahnung haben. Ob in diesem Wirbelsturm eine feste und klare Politik, ob auch nur eine ganz zuverlässige Orientirung möglich sei, das mag billig be¬ zweifelt werden. Nicht im geringsten zweifelhaft aber ist es, daß, soweit noch von einer zielbewußter Politik die Rede sein kauu, unumwuudue und offne Anerkennung der thatsächlichen Verhältnisse die Grundlage bilden muß. Und daran gerade fehlt es, wie wir nicht müde werden, von Zeit zu Zeit zu wiederholen. Um nur an zwei von diesen oft beschriebnen thatsächliche» Verhältnisse» zu erinnern: wie kläglich nimmt sich doch die Sisyphusarbeit aus, die wir als die Politik gegen das Ein¬ maleins zu charakterisiren pflegen! Die Herren wollen eine Kartellmehrheit im Reichstage, ohne das Reichstagswahlrecht zu ändern, und das ist eben ein uner- füllbarer Wunsch, wie jeder weiß, der das Einmaleins kennt. Alle Versuche, das Unmögliche dadurch möglich zu machen, daß man zwar das Wahlrecht bestehen ^ße, seine Ausübung aber den untern Klassen und den mißliebigen Parteien durch neue Polizeigesetze uach Möglichkeit erschwert, werden in Zukunft keine andre Wirkung erzielen, als sie bisher erzielt haben, nämlich die Opposition verstärken. ^) Freilich nicht eigentlich den Handel, sondern die Exportindustrie, aber diese ist doch ben ohne Handel nicht denkbar,- ob der Fabrikant selbst den Exporteur spielen oder sich eines ^crimttlers bedienen will — den Reeber wenigstens wird er kaum entbehren können —, das >t seine Sache und geht andre Leute, auch die Gesetzgeber, nichts an.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/287>, abgerufen am 28.12.2024.