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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

Kulturfortschritts notwendig erheischt wird. Wels auch so ausgedrückt wird: das
Ideal der Sozialpolitik ist das wirtschaftlich Vollkommne; dieses wird dargestellt
von dem jeweils höchst entwickelten Wirtschaftssysteme, d. h. dem Wirtschaftssysteme
höchster Produktivität." Was wir dazu sagen würden, wenn wir kritisiren wollten,
werden sich die Leser wohl denken.

Wir reihen ein Büchlein an, das, nichts weniger als streng wissenschaftlich, as
redn" omnibus ot, cinibusclam suis plaudert: Wie wars, und was wird werden?
Ein Glaubensbekenntnis nebst einigen sozialpolitischen und staatsrechtlichen Forde¬
rungen von Dr. K. M. Ehrmann. Zweite, vermehrte Auflage. (Regensburg,
W. Wunderliug, 1897.) Der Verfasser beginnt mit der Zersplitterung Gottes in
die Vielheit der Erscheinungen und schließt mit einer Kritik der heutigen äußern
und innern Politik des dentschen Reichs; nnter andern empfiehlt er eine berufs¬
ständische Volksvertretung. Es kommen in dem Büchlein ganz hübsche, patriotische,
aber keine neuen Gedanken vor, und auch keine neue, überraschende Gruppirung
aller Gedanken. Willy Pastor behandelt in seinen "Sozialen Essays," die er
Wanderjahre betitelt (Berlin, Schuster und Loeffler, 1897), einige soziale Gegen¬
stände fenilletvnistisch mit Geist und Geschick. Er ist Gegner des Sozialismus aber
begeisterter Vorkämpfer der Frauenemanzipation, macht Hertzkas "Freiland" schlecht
und lobt Bebels "Frau," findet, daß der Einfluß der "unter dem Druck lebenden"
Mütter auf die Söhne vorwiegend ungünstig sei, hat aber doch das Büchlein seiner
Mutter gewidmet. Am interessantesten ist der letzte Aufsatz: das "Lumpenproletariat";
der Verfasser hat ein paar Wochen in Verkleidung unter den Berliner Lnmpen-
proletariern gelebt, um sie zu studiren. Wir möchten ihm vorschlagen, sich einmal
über diese Menschenklasse mit Herrn A. Seydel, Prediger an Se. Nikolai in Berlin,
zu unterhalten und das Gespräch herauszugeben; das würde eine sensationelle
Broschüre werden, denn während jener den Bruder Lump ins Herz geschlossen hat,
schwärmt dieser für eine recht schneidige Polizei. Seydel hat einen Vortrag über
die Humanitären "parum nicht humanen oder Hnmanitäts-?j Bestrebungen
der Gegenwart, ihren Segen und ihre Gefahren gehalten, der bei Puttkamer
und Mühlbrecht (1397) erschi'eilen ist. Es ist die Philippika eines Mannes, der
sich selbst echter Humanität rühmt, gegen den "Humanitätsdusel" unsrer Zeit. Mau
kann sich leicht vorstellen, daß in Berlin, wo ja alles, auch die Schnorrerei im
größten Stile betrieben wird, einem Geistlichen gnr leicht die Galle überlaufen
mag, und an lächerlichen und teilweise schädlichen Auswüchsen der Humanität fehlt
es ja wirklich nicht, wozu wir mit dem Verfasser die feierlichen Empfänge von
kleinen Ferienkolonisten durch befrackte Bürgermeister und Stadträte rechnen. Aber
wenn er geneigt ist, die ganze Arbeiterbewegung und die moderne Sozialgesetz¬
gebung für ein Stück Humanitätsdusel zu halten, so läßt er sich von seinem Ärger
sehr weit über das Ziel fortreißen. Ein hervorragender Verfechter dieser Sozial¬
politik, erzählt er, habe behauptet, "die Unzufriedenheit der Arbeiter beruhe darauf,
daß sie infolge der in der Großfabrikation notwendig gewordnen Teilarbeit keine
Freude mehr an ihrer Thätigkeit hätten. Auf meine Frage, von welchem Arbeiter
er das wisse, antwortete er: von keinem, aber er denke sich das so. Meine Er¬
widerung lautete, dann riete ich ihm zunächst die Arbeiter zu befragen; er würde
alsdann wahrscheinlich erfahren, daß ein sehr großer Teil der Arbeiter überhaupt
die Arbeit nicht als eine Freude, sondern als eine unangenehme Last empfindet
und sie deshalb gern ganz los sein möchte." Darauf würden wir um wieder dem
Prediger geantwortet haben: Sind Sie denn so ganz sicher, Verehrtester, daß Sie
die nächtliche Arbeit in der Backstube, oder die Arbeit im Kohlenschacht, oder die


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Kulturfortschritts notwendig erheischt wird. Wels auch so ausgedrückt wird: das
Ideal der Sozialpolitik ist das wirtschaftlich Vollkommne; dieses wird dargestellt
von dem jeweils höchst entwickelten Wirtschaftssysteme, d. h. dem Wirtschaftssysteme
höchster Produktivität." Was wir dazu sagen würden, wenn wir kritisiren wollten,
werden sich die Leser wohl denken.

Wir reihen ein Büchlein an, das, nichts weniger als streng wissenschaftlich, as
redn« omnibus ot, cinibusclam suis plaudert: Wie wars, und was wird werden?
Ein Glaubensbekenntnis nebst einigen sozialpolitischen und staatsrechtlichen Forde¬
rungen von Dr. K. M. Ehrmann. Zweite, vermehrte Auflage. (Regensburg,
W. Wunderliug, 1897.) Der Verfasser beginnt mit der Zersplitterung Gottes in
die Vielheit der Erscheinungen und schließt mit einer Kritik der heutigen äußern
und innern Politik des dentschen Reichs; nnter andern empfiehlt er eine berufs¬
ständische Volksvertretung. Es kommen in dem Büchlein ganz hübsche, patriotische,
aber keine neuen Gedanken vor, und auch keine neue, überraschende Gruppirung
aller Gedanken. Willy Pastor behandelt in seinen „Sozialen Essays," die er
Wanderjahre betitelt (Berlin, Schuster und Loeffler, 1897), einige soziale Gegen¬
stände fenilletvnistisch mit Geist und Geschick. Er ist Gegner des Sozialismus aber
begeisterter Vorkämpfer der Frauenemanzipation, macht Hertzkas „Freiland" schlecht
und lobt Bebels „Frau," findet, daß der Einfluß der „unter dem Druck lebenden"
Mütter auf die Söhne vorwiegend ungünstig sei, hat aber doch das Büchlein seiner
Mutter gewidmet. Am interessantesten ist der letzte Aufsatz: das „Lumpenproletariat";
der Verfasser hat ein paar Wochen in Verkleidung unter den Berliner Lnmpen-
proletariern gelebt, um sie zu studiren. Wir möchten ihm vorschlagen, sich einmal
über diese Menschenklasse mit Herrn A. Seydel, Prediger an Se. Nikolai in Berlin,
zu unterhalten und das Gespräch herauszugeben; das würde eine sensationelle
Broschüre werden, denn während jener den Bruder Lump ins Herz geschlossen hat,
schwärmt dieser für eine recht schneidige Polizei. Seydel hat einen Vortrag über
die Humanitären »parum nicht humanen oder Hnmanitäts-?j Bestrebungen
der Gegenwart, ihren Segen und ihre Gefahren gehalten, der bei Puttkamer
und Mühlbrecht (1397) erschi'eilen ist. Es ist die Philippika eines Mannes, der
sich selbst echter Humanität rühmt, gegen den „Humanitätsdusel" unsrer Zeit. Mau
kann sich leicht vorstellen, daß in Berlin, wo ja alles, auch die Schnorrerei im
größten Stile betrieben wird, einem Geistlichen gnr leicht die Galle überlaufen
mag, und an lächerlichen und teilweise schädlichen Auswüchsen der Humanität fehlt
es ja wirklich nicht, wozu wir mit dem Verfasser die feierlichen Empfänge von
kleinen Ferienkolonisten durch befrackte Bürgermeister und Stadträte rechnen. Aber
wenn er geneigt ist, die ganze Arbeiterbewegung und die moderne Sozialgesetz¬
gebung für ein Stück Humanitätsdusel zu halten, so läßt er sich von seinem Ärger
sehr weit über das Ziel fortreißen. Ein hervorragender Verfechter dieser Sozial¬
politik, erzählt er, habe behauptet, „die Unzufriedenheit der Arbeiter beruhe darauf,
daß sie infolge der in der Großfabrikation notwendig gewordnen Teilarbeit keine
Freude mehr an ihrer Thätigkeit hätten. Auf meine Frage, von welchem Arbeiter
er das wisse, antwortete er: von keinem, aber er denke sich das so. Meine Er¬
widerung lautete, dann riete ich ihm zunächst die Arbeiter zu befragen; er würde
alsdann wahrscheinlich erfahren, daß ein sehr großer Teil der Arbeiter überhaupt
die Arbeit nicht als eine Freude, sondern als eine unangenehme Last empfindet
und sie deshalb gern ganz los sein möchte." Darauf würden wir um wieder dem
Prediger geantwortet haben: Sind Sie denn so ganz sicher, Verehrtester, daß Sie
die nächtliche Arbeit in der Backstube, oder die Arbeit im Kohlenschacht, oder die


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[0242] Litteratur Kulturfortschritts notwendig erheischt wird. Wels auch so ausgedrückt wird: das Ideal der Sozialpolitik ist das wirtschaftlich Vollkommne; dieses wird dargestellt von dem jeweils höchst entwickelten Wirtschaftssysteme, d. h. dem Wirtschaftssysteme höchster Produktivität." Was wir dazu sagen würden, wenn wir kritisiren wollten, werden sich die Leser wohl denken. Wir reihen ein Büchlein an, das, nichts weniger als streng wissenschaftlich, as redn« omnibus ot, cinibusclam suis plaudert: Wie wars, und was wird werden? Ein Glaubensbekenntnis nebst einigen sozialpolitischen und staatsrechtlichen Forde¬ rungen von Dr. K. M. Ehrmann. Zweite, vermehrte Auflage. (Regensburg, W. Wunderliug, 1897.) Der Verfasser beginnt mit der Zersplitterung Gottes in die Vielheit der Erscheinungen und schließt mit einer Kritik der heutigen äußern und innern Politik des dentschen Reichs; nnter andern empfiehlt er eine berufs¬ ständische Volksvertretung. Es kommen in dem Büchlein ganz hübsche, patriotische, aber keine neuen Gedanken vor, und auch keine neue, überraschende Gruppirung aller Gedanken. Willy Pastor behandelt in seinen „Sozialen Essays," die er Wanderjahre betitelt (Berlin, Schuster und Loeffler, 1897), einige soziale Gegen¬ stände fenilletvnistisch mit Geist und Geschick. Er ist Gegner des Sozialismus aber begeisterter Vorkämpfer der Frauenemanzipation, macht Hertzkas „Freiland" schlecht und lobt Bebels „Frau," findet, daß der Einfluß der „unter dem Druck lebenden" Mütter auf die Söhne vorwiegend ungünstig sei, hat aber doch das Büchlein seiner Mutter gewidmet. Am interessantesten ist der letzte Aufsatz: das „Lumpenproletariat"; der Verfasser hat ein paar Wochen in Verkleidung unter den Berliner Lnmpen- proletariern gelebt, um sie zu studiren. Wir möchten ihm vorschlagen, sich einmal über diese Menschenklasse mit Herrn A. Seydel, Prediger an Se. Nikolai in Berlin, zu unterhalten und das Gespräch herauszugeben; das würde eine sensationelle Broschüre werden, denn während jener den Bruder Lump ins Herz geschlossen hat, schwärmt dieser für eine recht schneidige Polizei. Seydel hat einen Vortrag über die Humanitären »parum nicht humanen oder Hnmanitäts-?j Bestrebungen der Gegenwart, ihren Segen und ihre Gefahren gehalten, der bei Puttkamer und Mühlbrecht (1397) erschi'eilen ist. Es ist die Philippika eines Mannes, der sich selbst echter Humanität rühmt, gegen den „Humanitätsdusel" unsrer Zeit. Mau kann sich leicht vorstellen, daß in Berlin, wo ja alles, auch die Schnorrerei im größten Stile betrieben wird, einem Geistlichen gnr leicht die Galle überlaufen mag, und an lächerlichen und teilweise schädlichen Auswüchsen der Humanität fehlt es ja wirklich nicht, wozu wir mit dem Verfasser die feierlichen Empfänge von kleinen Ferienkolonisten durch befrackte Bürgermeister und Stadträte rechnen. Aber wenn er geneigt ist, die ganze Arbeiterbewegung und die moderne Sozialgesetz¬ gebung für ein Stück Humanitätsdusel zu halten, so läßt er sich von seinem Ärger sehr weit über das Ziel fortreißen. Ein hervorragender Verfechter dieser Sozial¬ politik, erzählt er, habe behauptet, „die Unzufriedenheit der Arbeiter beruhe darauf, daß sie infolge der in der Großfabrikation notwendig gewordnen Teilarbeit keine Freude mehr an ihrer Thätigkeit hätten. Auf meine Frage, von welchem Arbeiter er das wisse, antwortete er: von keinem, aber er denke sich das so. Meine Er¬ widerung lautete, dann riete ich ihm zunächst die Arbeiter zu befragen; er würde alsdann wahrscheinlich erfahren, daß ein sehr großer Teil der Arbeiter überhaupt die Arbeit nicht als eine Freude, sondern als eine unangenehme Last empfindet und sie deshalb gern ganz los sein möchte." Darauf würden wir um wieder dem Prediger geantwortet haben: Sind Sie denn so ganz sicher, Verehrtester, daß Sie die nächtliche Arbeit in der Backstube, oder die Arbeit im Kohlenschacht, oder die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/242>, abgerufen am 28.12.2024.